Was nun mal zum Tango gehört
Ich
gestehe, dass es mir manchmal schwerfällt, mich im Tango noch zu Hause zu fühlen. Erst gestern las
ich in unserer Facebook-Gruppe den
Satz:
„Bei der Entscheidung,
argentinischen Tango zu erlernen und zu tanzen, sollten wir eigentlich auch die
zugehörigen Spielregeln mit übernehmen, dazu gehört nun mal der Cabaceo“.
Mal abgesehen davon, dass man ihn dann wenigstens richtig
schreiben sollte: Gehört dieses ganze Regelwerk
wirklich „nun mal“ zum Tango? Ganz automatisch
wird unterstellt, dass alle in der Szene das so sähen – oder gar zu sehen
hätten. Aber es geht noch weiter: Aha, der Tango ist also argentinisch, drum heißt er ja so…
Dass er auch in Uruguay entstand, dass die Argentinier längere
Zeit das Multi-Kulti-Produkt der
Einwanderer aus vielen Ländern und der schwarzen Bevölkerung heftigst ablehnten,
ist völlig aus dem Blickfeld verschwunden. Ebenso die Shitstorms, welche auf
den größten Tangokomponisten aller Zeiten, Astor
Piazzolla, dereinst niedergingen. Und: Dass sich nahezu jede Tangoform erst
in der restlichen Welt behaupten
musste, bevor sie – wenn überhaupt – im „Heimatland“ akzeptiert wurde?
Wenn man sich näher mit der Geschichte dieses Tanzes befasst, kommt man eher zum Schluss: Tango
wirkt in dem Maß argentinisch wie die AfD fremdenfreundlich ist.
Ebenso wird unterschlagen, dass es natürlich auch europäische Spielarten dieses Tanzes
gibt, früher in Deutschland und bis heute bei den Finnen, ja dass er sich über
die ganze Welt verbreitet hat, zum Weltkulturerbe
geworden ist? Nix da: Richtschnur ist das Tango-Mekka, Códigos, Cabeceo, Ronda,
Amen.
Der obige Kommentator
schrieb auch: „Das Auffordern während
einer Cortina ist ja eigentlich schon deshalb unschicklich, weil man ja noch
gar nicht weiß, ob man zu der zukünftigen Musiksammlung überhaupt tanzen möchte“.
Darf man wenigstens der Vollständigkeit halber hinzufügen, dass es im Tango durchaus Leute
gibt, die das „traditionelle“ Tanda-Cortina-System
für überflüssig, gar für zwanghaft halten, die es langweilt, dann auf vier
Stücke tanzen zu müssen, die sich fast gleich anhören? Die durchaus willens und
in der Lage sind, mit dem gewünschten Tanzpartner praktisch jede Tangomusik (und manchmal sogar
einen Non-Tango) musikalisch gut umzusetzen? Denen es vielleicht sogar Spaß macht, sich überraschen zu lassen?
So werden persönliche
Einstellungen und Vorlieben,
welche ja durchaus legitim sind, zu einer unantastbaren
Wahrheit überhöht. Ich kenne Beispiele, wo wenige Vorstandsmitglieder von Tangovereinen ihre individuelle Vorstellung von zeitlich eng begrenzter Tangomusik einer ganzen
Region aufzwingen. Das ist „nun mal so“
– Widerspruch zwecklos!
Klar, jeder kann doch die Milongas besuchen, welche
seinen Vorstellungen entsprechen.
Notfalls muss er halt 100 Kilometer weit fahren. Und sich dann überdies noch
sagen lassen, dass seine Tanzweise
unvereinbar mit dem „Tangobegriff“
irgendeines Abrazo-Propheten sei und
eigentlich zum Rauswurf aus
Versammlungen der Ritter der Ronda-Runde führen müsse…
Ich kenne dieses Muster
noch sehr gut aus den Endsechziger
Jahren, in denen ich politisiert wurde. Mit knochentrockenen Konservativen war jede Diskussion zwecklos: Die damaligen
„Códigos“ – ob nun die Ächtung von
vorehelichem Sex oder Homosexuellen, die Verdammung des Sozialismus oder anderer
fortschrittlicher Einstellungen oder der Lobpreis der USA als Wächter der
Weltordnung – seien schließlich für alle Verständigen eh klar. Wer das alles, was „eben
so sei“, nicht einsehe, könne folglich nur einen an der Waffel haben oder
ein ganz böser Bube sein.
Aber klar, er könne sich ja ein Land suchen, das ihm
besser gefalle: „Geht doch rüber!“ – ach ja, hatten wir schon…
Damals wie heute gilt: Wer mit den Wölfen heult, hat mehr
vom Leben – also auch zwanzig Mal mehr „Tangofreunde“, wenn er sich dem „traditionellen“ Trend anschließt.
Ich erlebe das immer wieder: Bekannte, mit denen man früher wunderbar über die Absurditäten des „Tango-Reglements“
ablästern konnte, werden mit der
Zeit einsilbig. Auf etwas „wilderen“
Milongas sieht man sie kaum noch. Wenn sie mal noch etwas Kritisches äußern, kommt sofort der Zusatz: „Das sage ich dir aber nur privat!“ Logisch, nicht dass der neue
Freundeskreis Wind davon bekommt und die neu erworbenen Cabeceos ins Leere
gehen… Und irgendwann liest man in einem sozialen Netzwerk, der (oder die)
Betreffende sei ja „prinzipiell“ durchaus mit den Tango-Ritualen einverstanden.
Ja, der Mainstream
bietet auch im Tango viel Nestwärme:
Dank der neu erworbenen Linientreue
wird man auf geschlossenen
Veranstaltungen akzeptiert, darf bei den Schönen und Wichtigen am (Katzen-)Tisch sitzen, trifft auf
angesagten Veranstaltungen zirka 200 Freunde und wird zugebusselt bis zum
Abwinken. Selbst für Edeltänzer/innen
bleibt man nicht mehr unsichtbar. Endlich ist
man wer – und das ist für solche, die bislang eher nicht wussten, wer sie
sind, ein deutlicher Aufstieg: Sie wissen es zwar weiterhin nicht, dafür aber die
anderen…
Ich bleibe jedoch dabei: Für mich ist das ganze
Código-Gewese das dämlichste Projekt nach dem Rhein-Main-Donau-Kanal – von dem sich ja auch der Begriff „Mainstream“ ableitet.
Mir geht in der Tangoszene allmählich das aus, was man Urvertrauen nennt. Wenn wir früher
Milongas besuchten, machte ich mir überhaupt keine Gedanken darüber, mit wem
ich wohl (außer natürlich der besten Ehefrau von allen) würde tanzen können. Unsere naive Vorstellung war damals, dass ja alle
zu diesem Zweck gekommen waren. Irgendwie mischte sich das dann schon.
(Freilich: Die Frauen hatten es auch damals, da oft in großer Überzahl, nicht so
leicht.) Körbe gab es nur in
seltenen Fällen.
Wenn ich heute eine Tangoveranstaltung besuche, ist mir klar:
Man muss schon einmal die Damen herausfiltern, welche nur mit ganz bestimmten Männern (zu denen ich
dann nicht gehören möchte) aufs Parkett wollen – im Wesentlichen Edeltänzer oder
Cliquen-Mitglieder. Und natürlich nicht zu jeder Musik, eigentlich nur zu ganz bestimmter,
also oft gar nicht. Im Klartext: Die
sitzen nicht rum, weil sie keiner auffordert, sondern zwecks Erhöhung ihres Status.
Schaut eine an mir vorbei, weil sie mit dem Cabeceo nicht vertraut ist oder eben doch, und mir damit das Signal gibt, ich dürfe mich trollen?
Aber auch auf dem Parkett
geht es weiter: Bin ich an eine Ideologin
geraten, welche die enge Umarmung
als Pflicht ansieht? Die es furchtbar findet, wenn ich mal rechts überhole oder durch die Mitte
tanze? Die es als verdächtig betrachtet, wenn ich ungenormte Schritte vollführe, von ihr gar Initiative erwarte? Darf ich mal während einer Tanda auffordern und
die anschließende Cortina ignorieren oder gelte ich ihr somit fortan als „Gesetzloser“, mit dem nochmal zu
tanzen rufschädigend wäre?
Die Bretter vor dem Kopf, welche man „Códigos“
nennt, haben dem Tango ganz viel von seiner Unbefangenheit genommen. Viele sind ständig am Rätseln, wie denn die eine oder andere versteckte Botschaft zu deuten
sei, ob man nun eine Aufforderung wagen
könne. Meistens lässt man es dann lieber. Sollte man es bis aufs Parkett
geschafft haben, darf man es natürlich nicht kreativ nutzen, sondern fühlt sich
wie in einem Verkehrs-Kindergarten für
Führerschein-Aspiranten: Alles nach strengen
Regeln und im ersten Gang, falls
man den Motor nicht gleich abwürgt. Und auf dem Beifahrersitz findet sich oft
ein Klugscheißer…
Noch dazu: Kein Reglement macht bei einer künstlerischen
Betätigung wie dem Tanzen aus Deppen
rücksichtsvolle Menschen. Als Nachfüllpackung
für Kinderstube eignen sich die hehren argentinischen Gebote in keiner
Weise. Es wird nur alles komplizierter, als es sein müsste.
Auf unserer privaten
Milonga sehen wir es immer wieder: Es funktioniert ohne dieses Gedöns viel
besser. Rücksicht und Respekt hängen nicht von Tanzflächen-Pfeildiagrammen ab.
Und es gibt nur zwei Arten von Aufforderungen: freundliche und unhöfliche.
Daher habe ich für den eingangs zitierten Kommentator sehr schlechte Nachrichten.
In etwas vereinfachter Form: Die ganzen „Spielregeln“
dessen, was man heute unter „traditionellen
Milongas“ versteht, wurden nicht vor hundert Jahren in Argentinien, sondern
kurz vor der Jahrtausendwende von einem Saarbrücker
Tangopaar erfunden und mittels eines Tangoblogs
der Szene aufgedrückt.
Und zum Schluss, ganz traditionell, eine Cumparsita, historisch gut nacherfunden:
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