Was meine Musikerinnen so spielen
Vorgestern
gab es auf unserer Wohnzimmer-Milonga
wieder einmal Live-Musik von unserer „Haus-Kapelle“, dem „Duo Tango Varieté“:
Bettina
Kollmannsberger
(Akkordeon)
Karin Law Robinson-Riedl (Violine und Gesang)Foto: Dieter Holtum |
Die
drei Sets (mit jeweils zwei Tandas) sind für mich ein Musterbeispiel dafür, wie
man im Tango Tradition und Moderne, argentinische und europäische
Musik, Tango und artverwandte Genres miteinander
verbinden kann. Daher möchte ich ihre Setlist
nicht nur vorstellen, sondern die einzelnen Stücke näher beschreiben:
Vida mía (1933)
Für
mich ist dieser Titel der Brüder Emilio
und Osvaldo Fresedo die ultimative
Tangoschnulze – besonders liebe ich die im Text versteckte Ironie: „Vida mía – lejos mas te quiero“
– „Du mein Leben, je weiter du weg bist, desto mehr liebe ich dich“.
Dejalo hermano
„Lass es, Bruder“ von O.Roma und A.
Maffia ist ein Tango, zu dem ich kaum Informationen gefunden habe. In
meinen Ohren klingt die munter-zackige Komposition ziemlich europäisch und ist
wunderbar zu tanzen.
Nunca tuvo novio (1930)
„Sie hatte nie einen
Freund“
ist einer meiner absoluten Lieblingstangos. In bittersüßer Weise beschreibt er
das Schicksal einer alten Dame, welche nie die Liebe kennenlernen durfte – nur in
Romanen, in ihrer Fantasie. Den anrührenden Text zu Agustin Bardis Melodie schrieb kein Geringerer als Enrique Cadícamo. Dieser Antagonismus
zwischen Feuer und Eis ist für mich
Tango pur! Daher habe ich Karin so lange zugesetzt, bis sie sich mit Bettina an
dieses Stück wagte.
Caserón de tejas (1942)
Der
Walzer mit der wunderbaren Melodie von Sebastián
Piana steht für die Erinnerungen an ein „großes,
altes Haus“, eine Jugendliebe, mit der man sich einst dort getroffen hat.
Sueño de juventud (1931)
Der
„Traum von der Jugend“ ist ein Vals
von Enrique S. Discépolo, der es
sogar in konservative Playlists geschafft hat. Auch dieses Stück lockt die
Tanzpaare zuverlässig auf die Fläche!
La Foule
Dieser Walzer geht auf den Titel „Que nadie sepa mi sufrir" („Dass niemand mein Leiden kennt“)
von Ángel Cabral aus dem Jahr 1936 zurück. 1957 entdeckte Edith Piaf
das Stück und ließ sich von Michel Rivgauche einen neuen Text schreiben.
Er handelt von Zweien, die sich inmitten eines Festgetümmels zum ersten Mal
sehen – es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch im Getümmel („La Foule“) verlieren sie sich wieder
aus den Augen.
Amor en Budapest
Der argentinische Orchesterchef Enríque Rodríguez machte 1945 das Stück populär, welches der Ungar Mihály Erdélyi komponierte. Dieser „Puszta-Fox“ hatte in verschiedenen Versionen Erfolg. Den
spanischen Text verfasste Alberto
Novarro.
Azúcar, pimiento y
sal
„Zucker, Pfeffer und
Salz“
ist eine muntere Tango-Milonga von Héctor
Varela, Titi Rossi und Abel Aznar. Der früher oft gespielte
Tango ist auf den hiesigen Milongas gänzlich unbekannt.
Jalousie
Der
dänische Geiger Jakob Gade schrieb
Musik für Stummfilme. 1925 gelang ihm der Welthit „Jalousie“ („Eifersucht“). Die Tantiemen reichten für ein
sorgenfreies Leben und Gründung einer Stiftung für junge Musiker. Für Geiger
ist vor allem das Solo zu Beginn eine „Lebensaufgabe“…
Baldosa floja (1957)
„Lose
Fliesen“ heißt eine Milonga von Florindo
Sassone und Julio Boccazzi, die
auf deutschen Milongas selten erklingt. Dabei lässt sich wunderbar dazu tanzen!
El Porteñito
„Porteños“ („Hafenstädter“) nennen sich die Einwohner von Buenos Aires. Ángel G. Villoldo beschrieb 1903 mit
der spritzigen Canyengue den „Kleinen vom
Hafen“ – einen Herumtreiber, der die Frauen schwindlig tanzt und sie dann ausnimmt:
„Wenn das Geld schon knapp ist, erzähle
ich meiner Süßen ein Märchen, dass sie die schlaueste Frau ist.“
Ficha personal (1944)
Der
„Personalbogen“
ist eine muntere Milonga von Antonio
Polito und Yaravi, die leider
kaum gespielt wird. Dabei ist der Text bestes Kabarett zum argentinischen Ego:
„Porteño bin ich,
nehmt das zur Kenntnis:
eine einsachtziger Statur
und von eleganter Figur
ohne Diskussion.
Alleinstehend, gut aussehend,
weiße Haut, gerade Nase,
intuitiv bin ich ein Dichter
und Sänger von Beruf.“
eine einsachtziger Statur
und von eleganter Figur
ohne Diskussion.
Alleinstehend, gut aussehend,
weiße Haut, gerade Nase,
intuitiv bin ich ein Dichter
und Sänger von Beruf.“
Corumba
Die
flotte Milonga klingt zwar argentinisch, wurde jedoch von dem Deutschen Walter Pörschmann verfasst. Daher
dürfte sie wohl ausschließlich von unserem Duo zum Tanz geboten werden!
Olé guapa (1937)
Trotz
des (nachträglich hinzugefügten) spanischen Titels („Hallo, du Hübsche“) stammt der Welthit vom niederländischen
Komponisten und Bandleader Arie Maasland („Malando").
Glücklicherweise haben wir mit Bettina eine Musikerin, welche die legendären
Akkordeon-Läufe des Stücks hinbekommt!
Eine Nacht in Monte
Carlo
Auch Deutschland hat eine Tangotradition! Daran
erinnerten die Musikerinnen mit einer Schnulze von Werner Richard Heymann und Robert Gilbert aus
der UFA-Filmoperette „Bomben auf Monte
Carlo“
(1937) mit Hans Albers und Heinz Rühmann.
Für mich soll’s rote
Rosen regnen
„Mit 16 sagte ich still:
ich will,
will groß sein, will siegen,
will froh sein, nie lügen.
Mit 16 sagte ich still:
ich will,
will alles oder nichts.“
So beginnt
eines der bekanntesten deutschen Chansons, das Hans Hammerschmidt 1968 zusammen mit Hildegard Knef schrieb. Die Damen vom „Duo Tango Varieté“ haben es
inzwischen bei etlichen Gelegenheiten gespielt – und es war stets eine der
Nummern, die besonders gut ankamen.
Smile
Melodie und Text stammen von Charlie Chaplin –
er hat sie 1936 für seinen Film „Moderne Zeiten“ geschrieben. Darin heißt es:
Smile, tho' your heart is aching
Smile, even tho' it's breaking
When there are clauds in the sky
You'll get by
If you smile through your fear and sorrow
Smile and maybe tomorrow
You'll see the sun come shining thru for you.
“Lächle, auch wenn dir weh ums Herz ist.
Lächle,auch wenn das Herz dir bricht.
Und wenn der Himmel voller Wolken ist,
wirst du durchkommen.
Wenn du lächelst – trotz aller Furcht und Sorgen,
lächle – und vielleicht schon morgen
wirst du sehen: Die Sonne wird scheinen – für dich.“
Libertango (1973)
Zu
Astor Piazzollas berühmtestem Stück
muss man nicht mehr viel sagen – außer: Ohne seine genialen Kompositionen hätte
der Tango nicht überlebt.
Es bedurfte einer längeren Überzeugungsarbeit von
mir, bis sich meine Musikerinnen an diesen sehr schwierigen Titel heranwagten.
Zunächst spielte Bettina ihn solo, inzwischen bieten ihn die Damen zu zweit in
einer Version, auf die sie sehr stolz sein können.
J’attendrai
(zunächst als italienische Version „Tornerai“)
schrieb Dino Oliveri 1936, angeregt vom
berühmten Chorthema aus der Oper „Madame Butterfly“. Bekannt wurde „Ich werde
warten“ während des 2. Weltkriegs vor allem in Italien und Frankreich als
Ausdruck der Hoffnung auf Kriegsende und Befreiung.
Zugaben:
Stardust (1927)
„Du wanderst den Weg
hinab und ganz weit weg
hinterlässt mir einen Song, der nicht vergeht.
Liebe ist nun der Sternennebel von gestern,
und die Musik der vergangenen Jahre ist vorbei.
hinterlässt mir einen Song, der nicht vergeht.
Liebe ist nun der Sternennebel von gestern,
und die Musik der vergangenen Jahre ist vorbei.
Manchmal frage ich
mich,
warum ich die einsame
Nacht damit verbrachte,
von einem Lied zu
träumen.
Die Melodie verfolgt
mich im Traum,
und ich bin wieder
ganz bei dir.
Und obwohl ich
vergeblich träume,
wird sie in meinem
Herzen bleiben,
die Melodie vom Sternenstaub,
mich erinnern an die
Wiederkehr der Liebe.“
Nicht
nur nach meiner Ansicht ist „Stardust“ die schönste Jazzballade, die jemals
geschrieben wurde. Die Melodie stammt von Hoagy
Carmichael, den wunderbaren Text verfasste der bekannte Autor Mitchell Parish. Ich habe den Song
bereits ausführlich vorgestellt:
Love Theme from Cinema Paradiso (1988)
Diese
zweite Zugabe hatte ich nicht auf dem Zettel – die beiden Musikerinnen boten
sie als Überraschung für mich. Andrea
Morricones wunderbares Stück zum gleichnamigen Film gehört schon lange zu meinen „Lieblings-Nontangos“.
***
Zufälligerweise
veröffentlichte Kollege Cassiel
gestern einen seiner inzwischen seltenen Texte, in dem er der Ansicht
entgegentritt, die „alte“ Musik sei langweilig. So pauschal ist dies
sicherlich auch nicht richtig. Und ich stimme ihm ebenfalls zu, wenn er
schreibt:
„Es ist durchaus
lohnend, von Zeit zu Zeit bewusst die Musik noch einmal zu hören, sich mit den
Themen des Tangos auseinanderzusetzen und spezifische Eigenheiten neu zu
entdecken (oder eben wieder zu entdecken).“
Ich
gehe sogar noch einen Schritt weiter: Für viele der heutigen Milonga-Besucher
wäre es gut, sich überhaupt einmal mit
Tangomusik zu beschäftigen – und dann vielleicht zu erkennen, dass die
beste Strategie, der Langeweile zu entgehen, die Erweiterung des Hör-Spektrums ist: Auch in den letzten 60 Jahren entstand
wunderbar zu tanzende Tangomusik.
Leute
wie wir sind ja keine radikalen
Erneuerer: Wer sich die obige Setlist genauer anschaut, wird erkennen: Die
meisten Komponisten und Texter sind längst
verstorben.
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