Er hat das böse Wort verwendet
Tatsächlich
las ich heute auf der Facebook-Seite „Neotango
Roma“ den Begriff, der in der deutschsprachigen Szene praktisch unsagbar
ist. Offenbar war es der Administrator
der öffentlichen Seite, welcher einen Artikel mit dem Titel „Etymologie des Begriffs ‚TALIBAN‘ (des Tango)“
publizierte. Den Beitrag ziert dann noch ein gar schröckliches Gorilla-Bild.
Eine
Randerscheinung ist diese Gruppe wohl
nicht – immerhin stützt sie sich auf über 1100 „Gefällt mir“-Reaktionen.
Bevor
nun in der konservativen Tangoszene
hierzulande Schnappatmung einsetzt: Ich mache mir den Titel ja nicht zu Eigen –
zumal der Text keine Etymologie
darstellt, also nichts über Herkunft
und Geschichte des bösen Begriffs
sagt.
Dennoch
halte ich den Artikel aus verschiedenen Gründen für interessant und habe ihn daher – mit Unterstützung von Google und
meiner Gattin – so halbwegs aus dem Italienischen
zusammengeklöppelt (Korrekturen von Experten sind natürlich willkommen):
Wir wissen, dass in
den Milongas von Buenos Aires, nach der Zeit, in der die Orchester live
spielten, die Hälfte der Musik Tango und die Hälfte Rock und Tropical war,
zumindest bis in die 70-er Jahre, alle Argentinier kennen das gut, und Alberto
Podesta bezeugt es auch: Ihre Milongas
waren und sind vor allem ein „sozialer" Ort. Zu Beginn des Jahrhunderts
wurde auch elektronischer Tango eingeführt, der eindeutig argentinischen
Ursprungs war, da die Musik des Restes der Welt dort entweder unbekannt oder
unerwünscht war, weil sie außerhalb der Kontrolle des Systems lag. Es wurde
auch getanzt, wenn auch musikalisch sehr reduziert, fast auf der Höhe der Guardia
Vieja. Die Vorstellung, dass in einer traditionellen Milonga, die als sozialer
Ort gedacht ist, nur Tango getanzt werden sollte, ist daher für die
argentinische Realität recht neu.
Dies bedeutet nicht,
dass Argentinien ein Vorbild sein muss, auch wenn die Talibanisierung in
jüngster Zeit für viele offensichtlich begonnen hat, weil sie für die Betreiber
des Sektors besser funktioniert hat als für die „Nutzer" der
Dienstleistung, wie in allen Taliban-Ländern, bei denen die Prediger niemals
den Preis zahlen.
Die Strategie der „Taliban"
ist, dass es keine andere Musik gibt, die in der Milonga jenseits des
traditionellen Tangos getanzt werden kann. Wer Musik tanzt, die kein Tango ist,
ist ein Störer, ein „Untreuer", und deshalb abzulehnen. Die Argumente,
warum wir nicht tanzen können, sind immer baufällig und basieren auf der
Tatsache, dass traditioneller Tango Kultur und Regeln sind, der Rest ist nichts.
In den letzten Jahren
hat der Prozess der Talibanisierung auch begonnen, den Tanz zu beeinflussen.
Früher war es eine Improvisation, bei der jeder seinen Tanzstil frei ausdrücken
und „verderben“ konnte. Ein Tanz, der hauptsächlich auf Gehen auf engstem Raum
besteht. Jetzt bewegen sie sich in Richtung Standardisierung, immer mehr
Menschen schließen sich an, ohne Ganchos, ohne Off-Axis, ohne irgendeine Art
von Bewegung, die erfordert, dass Bewegung und Übung gut und nicht auf plumpe
Weise durchgeführt werden.
Diejenigen, die auf standardisierte
Art und Weise tanzen, sind erhaben, indem sie nur auf kleinem Raum gehen und
nicht diejenigen, die auf dem tatsächlich verfügbaren Raum mit ihrem eigenen
Stil tanzen. VEREINHEITLICHUNG?
Viele Tänzer sind
ratlos und akzeptieren die Regeln aus Angst, nicht als Teil des Systems angesehen
zu werden.
Auf lange Sicht
gewöhnen sie sich daran, nur diese Musik zu tanzen, AUS GEWOHNHEIT, und weil es
oft nichts anderes gibt, wird „Religion" immer von den Betreibern der
Branche auferlegt, die die Ausübung der Macht eines Geschäfts von Hunderten von
Millionen Dollar pro Jahr bewachen – und niemals von Menschen.
Hier
der Originaltext:
Was
ich sensationell finde: Der Text
erhielt bislang 54 Likes und wurde 48 Mal geteilt. Und vor allem: Soweit ich es
beurteilen kann, gibt es praktisch nur zustimmende
Kommentare. Kostprobe:
„Tanz ist und sollte
der maximale Ausdruck des Selbst sein, ein Raum der Freiheit in einer
Gesellschaft, der uns darauf hinweist, uns zu beurteilen, wenn er nicht zu der
formlosen Masse vereinheitlicht ist. Ohne diesen kostbaren Wert macht es keinen
Sinn, Kunst zu tanzen oder zu praktizieren.“
Auf
einer der üblichen deutschen Tangoseiten wären dem Urheber wohl wieder einmal
die Brocken um die Ohren geflogen…
Wenn
wir daher das böse Wort zunächst
einmal ausklammern:
Der
Schreiber weist zu Recht darauf hin, dass die heutige „traditionelle Milonga“ auf einer „Überlieferung“ fußt, die es so
nie gab. Die Stringenz des verbreiteten Regelwerks,
die simpel umsetzbare Musik und das
Gefühl, nach alten und heiligen Riten
zu tanzen, erschloss dem Tango einen völlig neuen und zahlenmäßig überlegenen Kundenkreis: Menschen, die nicht gerade
unter Jugend, Kreativität, Liberalismus und tänzerischer Begabung leiden –
dafür aber eher zahlungskräftig sind: die „Silver
Surfer“.
Ich
bin dem Autor dankbar, dass er auf etwas hinweist, das ich schon jahrelang publiziere:
Das war die beste Marketing-Idee
fürs bejahrte Publikum seit der Erfindung von Cholesterin-Senkern und Zahnhaftcreme!
Und
auch der Druck auf die Szene wird
realistisch geschildert: Wer ins Horn des Traditions-Schemas stößt, hat in der
Szene zwanzig Mal mehr Freunde. Und sozialer
Anschluss, Nestwärme sind fürs menschliche Sozialverhalten ganz ausschlaggebende
Faktoren. Klar gibt es in Großstädten auch manche Neolongas; wenn man
Glück hat, sogar die eine oder andere Veranstaltung mit gemischtem Musikangebot. Auf dem flachen Land jedoch sieht es oft
trübe aus. Ich kenne sogar zwei größere Städte in meiner Umgebung, wo man seit
Jahren den modernen Tango ausgerottet
hat.
Und
das – von mir oft genug belegt – mit nicht
eben feinen Mitteln. Erst kürzlich hörte ich wieder von einem moderner
auflegenden DJ, er habe beim ersten Mal Angst wegen der zu erwartenden Proteste
gehabt.
Hier
allerdings gleich von einem bösen „System“
zu schreiben, klingt mir denn doch zu sehr nach Verschwörungstheorie. Die Sache ist viel schlichter: Das Werbekonzept überzeugte viele – und wen
nicht, der wurde halt ausgegrenzt. Ich
weiß ziemlich genau, wovon ich da spreche…
Macht
man mit dem traditionellen Tango ein „Geschäft
von hunderten Millionen Dollar pro Jahr“? Schon 2008 berichtete DER
SPIEGEL: Mehr als 100000 Europäer
besuchten pro Jahr tangohalber Buenos Aires – und zahlten unter anderem für 4 Millionen Unterrichtsstunden.
Insgesamt schätzt das Blatt den jährlichen Umsatz der „Tangoindustrie“ dort auf
knapp 80 Millionen Dollar. Wieviel
dann weltweit für Unterricht, Milongas, Festivals, Tangozubehör und vor allem
Reisen ausgegeben wird, kann man nur schätzen. Einige hundert Millionen Dollar dürften es wohl sein.
Tango
ist für Argentinien der wichtigste Tourismusfaktor
– und das wäre er nicht ohne die Mär von
den Traditionen, welche Buenos Aires zum Mekka der Gläubigen macht.
Insgesamt stimme ich dem Autor da schon zu.
Die
Reizvokabel „Tango-Taliban“
auszugraben, ist halt eine Provokation im Sinne eines Anti-Marketings. Man darf
sich gerne darüber empören. Nur wird wohl kaum jemand mit Restgehirn daraus
ableiten, man würde so die Gegner der
Tango-Moderne mit Terrorismus, Massakern, Menschenhandel, Zerstörung
internationaler Kulturdenkmäler und Unterdrückung der Frauen in Zusammenhang
bringen. I wo!
Die
Parallele ist jedoch schon ein vernagelter
Fundamentalismus – und daher funktioniert der Spruch halt so gut. Für mich
sind das sektiererische Züge,
weshalb ich einmal den Begriff „Scientangologen“
geprägt habe:
P.S.
Der Berliner Blogger Thomas Kröter war
mit der Besprechung des Artikels diesmal schneller. Wie zu erwarten liegen
unsere Ansichten ein Stück auseinander. Ich sehe das nicht als Unglück – im Gegenteil.
Daher empfehle ich die vergleichende Lektüre:
http://kroestango.de/aktuelles/von-tango-taliban-und-mancherlei-primaten/
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