Liebes Tagebuch… 52


Sie war mir schon längere Zeit in der betreffenden Szene aufgefallen: Deutlich über 60, Single, Anfängerin, BMI Richtung 40 – also etwa das Gegenteil dessen, was die männliche Tangowelt gerne auffordert. Daher sitzt sie auf den heimatlichen Milongas auch ziemlich viel herum.

Deshalb hatte ich mir schon längst vorgenommen, sie bei Gelegenheit einmal zu einem Tanz zu bitten. Auf einer Milonga mit ziemlich viel freiem Raum auf dem Parkett und bei einer musikalisch relativ ruhigen Tanzrunde war es dann so weit.

Ich kann nicht behaupten, dass mich die Ergebnisse überrascht hätten: Von dieser Spezies kriegst du fast immer einen majestätisch nach hinten hängenden Oberkörper. Zudem muss ein aktiver Einsatz der Beinmuskulatur mit selbstständigem Setzen der Schritte nicht befürchtet werden. Stattdessen ist Herumschieben angesagt; die Füße fallen dann meist lasch unter den Körperschwerpunkt. Etwas heftigere Drehungen oder gar rhythmische Spielereien sind aussichtlos – man darf froh sein, wenn sie die Hauptschläge einigermaßen trifft. Außerdem muss ihr irgendein Depp das Kreuz beigebracht haben, welches sie sich bei irgendeiner auswendig gelernten Zahl von Schritten von selber in den Lauf legt. Das erledigt halbwegs sanftes Dahingleiten im Keim – verbunden mit höchster Stolpergefahr.

Generell gebe ich auf Milongas (und auch sonst) keinen „Tangounterricht“ – und in solchen Fällen sage ich bestimmt kein einziges Wort. Dieser Tänzerinnen-Typ zeichnet sich nämlich durch vollständige Therapieresistenz aus – jedenfalls mir gegenüber: Ich habe ja auch keinen Pferdeschwanz und kriege das hispanoide Lispeln nicht hin – und zudem wären meine Tipps ja gratis. Und was nix kost…

Dennoch ergab sich nach dem Tanz ein kurzes Gespräch. Wo sie Tango lerne? Ich erfuhr – zu meiner ausbleibenden Überraschung – den Namen eines argentinischen Profis. Und neulich hätte sie einen Workshop bei einem anderen Paar aus dem Tango-Heimatland absolviert – der sei ganz schön anstrengend gewesen, drei volle Stunden habe er gedauert.

Worum es dabei gegangen sei? „Über den Vals, der hat da ein ganzes Clipboard vollgeschrieben.“  „Was stand denn da so alles drauf?“ „Na, halt der Rhythmus, der Dreivierteltakt – und wie so ein Vals gegliedert ist.“ „Ah so.“

Echt, was soll man da noch sagen – außer, sich freundlich für den Tanz zu bedanken? Natürlich hätte mich noch interessiert, ob der Maestro auch einmal selbdritt mit seiner Schülerin getanzt habe, aber ich sah die Antwort voraus, der war wohl mit seinem Tafelanschrieb voll beschäftigt…

Und natürlich kann man, da es ja einkommensmindernd wäre, der Dame nicht sagen, dass sie alles andere braucht als einen solchen Workshop – dass sie eventuell erstmal ein halbes Jahr ins Fitness-Studio (oder wenigstens zur VHS-Seniorengymnastik) gehen sollte, damit sie in der heutigen Tangowelt auch nur den Hauch einer Chance hat? Dass sie sich, wenn schon, einen Lehrer suchen sollte, der ihr die einfachsten Basics des Tango argentino beibringt, und zwar eigenhändig?

Oder der ihr wenigstens das Clipboard vor den Bauch hängt, damit sie mit dem Oberkörper endlich mal nach vorne belastet?

Echt, so wird das nix im Neuen Jahr – aber es wäre ja noch viel Zeit…


P.S. Ich hoffe, dieser Text erfüllt den Wunsch eines Tangolehrers, der mir neulich schrieb, meine Feder möge so spitz bleiben wie bisher, es solle ihr aber die Tinte ein wenig früher ausgehen, damit die Texte a bisserl kürzer werden... Ich hatte ihm versprochen, hinkünftig nicht die Wörterzahl zu überschreiten, welche ein durchschnittlicher Tangolehrer pro Kursstunde einsetzt, notfalls sogar auf seinem Clipboard!

Aber wer doch noch mehr zum Thema lesen möchte:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/10/die-beratungs-resistenten.html 

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