Erotik homöopathisch geschüttelt
Neulich
las ich in der Facebook-Gruppe „blogging…
all about tango“ einen Wunsch der dortigen Chefin, Alessandra Seitz:
„Hallo ihr Lieben,
ich hab mal so ne Idee : Ich würde gern mal wieder etwas Lustiges oder Schönes
lesen, was unseren Tango betrifft, z. B. meine schönste Milonga, mein schönster
Tango, oder mein lustigster, mein schönstes Kleid (mit Bild) oder, meine Damen,
Schuuuuhe (…) Ich will Tangopositiv hören und lesen, mal wieder...“
Ich
gestehe, dass mich dieser Wunsch betroffen
machte. Klar reiße ich auf meinem Blog des Öfteren Späßchen, aber die bringen meist diejenigen, welche gemeint sind,
nicht gerade in euphorische Stimmung.
Und mit meiner verkopften, manchmal eventuell
zynischen Art bin ich nicht gerade
der Wunschkandidat für die
Schilderung schönster Kleider (mit Bild)
oder gar Schuuuuhe, schon gar nicht
für erotisch getränkte Komplimente.
Was
tut man als Autor, wenn man selber nicht liefern kann? Richtig: Man klaut. Erfreulicherweise hat soeben der
Schöpfer positiver Tangogefühle, Kollege Cassiel,
nach einem Jahr doch wieder einen neuen Artikel veröffentlicht. Und über den
kam ich auf einen noch schöneren Text des Meisters aus dem Jahr 2009, aus dem
ich (völlig aus dem Zusammenhang gerissen, aber rechtschreibkorrigiert)
zitiere:
„Die ersten 20 Sekunden...“
„Was passiert
eigentlich in den ersten 20 Sekunden, wenn ich mit einer mir bis dahin
unbekannten Tanguera tanze?“
„Wenn ich eine mir
unbekannte Tanguera mittels Cabeceo aufgefordert habe und wir schließlich uns
auf der Tanzfläche gegenüber stehen, dann nehme ich mir die Zeit und schlage in
aller Ruhe meine Hemdsärmel jeweils zweimal um. (Habe ich schon einmal gesagt,
dass ich Rituale liebe?) Das ist eine Marotte von mir und ich signalisiere
vielleicht damit, es gibt überhaupt keinen Grund zur Hektik.
Anschließend schaue
ich der Dame direkt in die Augen (und zwar einen ganz kleinen Augenblick länger,
als es höflich distanziert wäre); ja, das ist schon eine kleine
Herausforderung, aber auch ich zeige mich in diesem Blick. Da findet schon
Kommunikation statt (ohne dass wir unsere Namen kennen... auch so eine Marotte
von mir: Einer mir unbekannten Tanguera stelle ich mich fast immer erst nach dem
ersten oder zweiten Tango namentlich vor – ungefähr so: ‚Ach übrigens... ich heiße
Cassiel - und wer bist Du?‘ Auch das mute ich einer Tanguera bewusst zu.)
Anschließend gibt es
eine Einladung mit meiner linken Hand. Schon da arbeitet mein Scanner, ich konzentriere mich
darauf, wie sie meine linke Hand nimmt, wie warm ihre Hand ist, wie entspannt
sie ihre Hand in meine legt usw. Zwischendurch bemerkt: Wir haben noch keinen
Schritt getanzt.
Nun warte ich auf die
Dame, wie sie ihre linke Hand auf oder um meine Schulter legt. Auch da versuche
ich achtsam zu sein. (Hier greift das seltsame ‚Schaulaufen-Phänomen‘ – so nenne ich es jedenfalls... auf einer
Milonga entscheiden die ersten Tandas des Abends, wie ich von den Damen
wahrgenommen werde. Deswegen habe ich auch in der Regel kein Problem damit,
dass eine mir unbekannte Tanguera nicht weiß, auf was sie sich mit mir
einlässt. Sie hat mich bereits tanzen gesehen und hat eine ungefähre
Vorstellung davon, was sie erwartet. Umgekehrt gilt natürlich Ähnliches.) Im
Regelfall entscheidet sich die Dame zur geschlossenen Umarmung, wenn sie es
nicht wünscht, dann ist es mir auch recht. Noch immer haben wir keinen Schritt
getanzt.
Langsam und bewusst
lenke ich meine rechte Hand auf ihr Schulterblatt. In jüngster Zeit verändert
sich meine Tanzgewohnheit. Ich lege meine rechte Hand eigentlich immer weiter
oben auf (fast in Höhe des Schultergelenks) – das kann sich aber auch wieder
ändern. Jetzt korrigiere ich noch einmal meine linke Hand und fasse gegebenenfalls
vorsichtig nach (die linke Hand ist meine Dauerherausforderung beim Tango).
Ich versuche, unsere
Achsen zu synchronisieren (bei mir ist es so ein Gefühl, als ob ich an einem
Faden, der zwischen Schlüsselbein und Sternum bei mir befestigt ist,
hochgezogen werde). Ich balanciere meinen Körper aus und neige mich leicht nach
vorne (der Schwerpunkt verlagert sich; war er zuerst oberhalb von meinem
Knöchel, so schiebt er sich nun langsam nach vorne; irgendwann ist er über
meinen Zehenspitzen – so ungefähr jedenfalls). Wir haben noch immer keinen
Schritt getanzt.
Nun versuche ich
meine Synchronisierungsgewichtswechsel für die Frau bemerkbar zu machen. Hier
habe ich noch erheblichen Lernbedarf. Ich versuche, darauf zu achten, in
welcher Intensität ich diese vollführen muss, damit die Tanguera sie spürt. ...
und noch immer haben wir keinen Schritt getanzt.“
Und
wenn sie nicht gestorben sind, dann stehen sie noch heute… nein, natürlich nicht!
Cassiel beschreibt jedoch
hervorragend die Zeitspanne, in der ich – vom Schicksal hinter ein solches Paar
verschlagen – meistens denke: „Wann
marschiert denn der Depp endlich los?“
Daran
sieht man schon, wie wenig ich von Frauen verstehe! An den weiblichen
Kommentaren zu diesem Text erahnt selbst der Nicht-Erotikexperte, welche
Oxytocinschübe eine solche Strategie der Qi-Aktivierung bei der Damenwelt
auslöst:
„*Seufz* Und wann tanzen
wir endlich miteinander?
Deine Sophia“
Deine Sophia“
„Cassiel! Man ist ja
schon bei der Lektüre atemlos (wie muss es erst sein, mit Dir zu tanzen?)!
Artikel wie dieser hauchen (D)einem Blog den Lebensatem ein. - Ich werde ihn ausdrucken und heimlich in allen Salons der Umgebung auslegen, ihn den Männern in die Hemdtaschen, den Frauen in die Schuhbeutel schmuggeln!“
Artikel wie dieser hauchen (D)einem Blog den Lebensatem ein. - Ich werde ihn ausdrucken und heimlich in allen Salons der Umgebung auslegen, ihn den Männern in die Hemdtaschen, den Frauen in die Schuhbeutel schmuggeln!“
„Kaffeetrinken mit
Cassiel? Ich bin neidisch. :) Wusste die Frau eigentlich, welches Privileg sie
da hatte?“
„Ja, die Frau wusste
um ihr Privileg. Von der ersten bis zur letzten Sekunde...“
„Dein Seufzer ist
berechtigt. Es fühlt sich noch viel besser an, als es sich liest...“
„Nun ja, und da ich
in flachen sportlichen Schuhen tanze, werde ich wahrscheinlich bei Deiner
Vorliebe für Comme Il Faut oder Neo Tango niiiieee mit Dir tanzen :-(((.“
„Und ich bin bisher
nur ganz wenigen Herren begegnet, die der Dame genau dieses Gefühl der
Wertschätzung geben, das Du beschreibst, Cassiel.“
„Wie wird man so?“
Tja,
da wäre ich auch auf Vermutungen
angewiesen. Aber es kommt noch doller:
„Ich warte darauf,
dass er mich in die Umarmung einlädt und umarme ihn eigentlich *immer* eng,
aber mit einem ‚abrazo de una teta‘ -- wie sie das hier nennen (eine Titte
Umarmung) oder ‚de dos tetas‘ (von zwei Titten) je nach seinem Tanzstil
(Salon/Nuevo oder Milonguero).“
Pfui,
wie geschmacklos! Nuevo-Stil – das geht
ja gar nicht…
Nachdem
Cassiel hier nicht kommentieren
kann, nehme ich vorweg: Klar, der Text ist 10 Jahre alt – nur ist es ja keinem
Blogger verwehrt, überlebte Elaborate
zu bearbeiten oder sogar zu löschen. Wäre aber schade, da sich gerade hier die Komik aus dem Zusammenwirken von Autor und Leser(innen) ergibt.
Und
klar wäre es das andere Extrem, seine Hulda zu packen und sofort loszurumpeln.
Aber das hier beschriebene Achtsamkeits-Gedüdel
ist ebenfalls nicht unlustig. Wie in der Homöopathie
wird dabei der Sinn so lange schrittweise (?) verdünnt, bis keiner mehr
enthalten ist – jedenfalls im naturwissenschaftlichen Sinne. Persönlich bin
ich durch solche Zeilen gerührt, nicht geschüttelt…
Hier ein Kommentar von Matthias Botzenhardt:
AntwortenLöschenDanke dafür, uns diesen alten Kracher ins Gedächtnis zurückzurufen!
Als ich den Text damals „live“ las, habe ich mich nicht halb so sehr darüber amüsiert, wie beim heutigen Wiederentdecken.
Sehr wahrscheinlich würde dem Cassiel der Gegenwart sein Text heute nicht mehr in dieser Gestalt aus der Feder fließen.
Wer Neuling auf einem Gebiet ist, dem helfen eben gewisse Rituale beim Bewältigen verschiedenster Herausforderungen. Insofern seien jedem seine Rituale zugestanden. Im Übrigen auch Cassiels langes (rituelles?) Meiden von Tangomarathons.
Wenn Rituale in abergläubischen Dogmatismus münden, so können sie allerdings fragwürdige Züge annehmen.
Beispielsweise meine ich mich an ein Interview zu erinnern, in dem der Basketballer Michael Jordan zugab, bei den meisten NBA Spielen stets die EINE Unterhose zu tragen. Und zwar nämliche Unterhose, die er als College Student in einem wichtigen Spiel (das er durch eine besondere Einzelleistung zu Gunsten seiner Mannschaft entschied) trug.
Insofern hoffe ich, dass Cassiel sich inzwischen nicht mehr selbst gezwungen sieht, IMMER ein langärmliges Hemd tragen zu müssen :-)
Den Irrtum eines HemdZWANGES habe auch ich einst mit mir herumgeschleppt, allerdings inzwischen bereits seit Langem hinter mir gelassen :-)
Mein eigenes Denken über verschiedene Ansätze im Argentinischen Tango fand ich seinerzeit recht gut in den Texten Cassiels wiedergegeben. Ich habe die meisten seiner Beiträge sehr gerne gelesen und subjektiv von diesem Blog auch eine Menge profitiert. An dieser Stelle: Danke dafür!
Vor rund einer Dekade empfand ich den Text zwar etwas zu anbiedernd und schwülstig, hatte aber keinerlei prinzipiellen inhaltlichen Anstöße.
Wie schön, dass man (im Gegensatz zu facebook) in Blogs so mühelos auch zeitliche Entwicklungen nachzeichnen kann. Nachdem auch ich mich im vergangenen Tango-Jahrzehnt vielfach verändert habe, würde ich mich heute dagegen eher etwas fremdschämen, wenn ein erfahrener Tänzer diesen Text schriebe.
‚…auf einer Milonga entscheiden die ersten Tandas des Abends, wie ich von den Damen wahrgenommen werde‘.
Diese Aussage offenbart eine sehr verbreitete Selbstüberschätzung. Sie ist sehr typisch für viele, leicht über dem Durchschnitt angesiedelte männliche Tänzer. Tänzer gaukeln sich damit selbst vor, dass sie ihre (sehr subjektive) „Klasse“ nach außen darstellen könnten. Auch ich habe schon so empfunden und gedacht. Die Prämisse für solches Denken lautet aber: Die Damen nehmen mein (tolles) tänzerisches Vermögen vom Stuhle aus wahr!
Und genau diese Prämisse ist leider völlig falsch. Um ÜBERHAUPT in einer (gehobenen) Tanzqualität wahrgenommen werden zu KÖNNEN, müssen die betreffenden Personen miteinander getanzt haben. Hierzu gibt es (glücklicherweise) keinerlei Alternativen.
Aus diesem Grund schmunzle ich auch über die hilflosen Versuche, die Riedl‘sche Tanzqualität anhand eines oder zweier Videos beurteilen zu wollen.
Es lassen sich zwar gewisse OPTISCHE Unterschiede zwischen Dir und einem Guillermo Barrionuevo (https://www.youtube.com/watch?v=FdMoInFQSZk) erkennen, jedoch tanzen die üblichen Urteilenden (jedenfalls soweit mir persönlich bekannt) leider ebenfalls nicht annähernd in dieser OPTISCHEN Liga…
Und wie gesagt: Optik lässt meiner Meinung nach auf „gespürte“ bzw. „erlebte“ Qualität nur wenig Rückschlüsse zu.
Viele Grüße,
Matthias
Lieber Matthias,
Löschenvielen Dank für die zusätzlichen Gedanken, die sicherlich auch zum Amüsement der Leser beitragen. Im Einzelnen möchte ich nicht darauf eingehen, vielleicht haben ja andere Interessierte noch Ideen.
Nur so viel: Klar ändern sich Sichtweisen im Lauf der Jahre. Das Schöne an einem Blog wäre halt, dass man seine alten Texte gelegentlich aktualisieren oder gar löschen könnte. Mache ich regelmäßig.
Aber auch ich bin Cassiel sehr dankbar: Er hat mich vor mehr als 5 Jahren zum Bloggen gebracht – und ich ihn später davon ab.
Schöne Grüße
Gerhard