Gar nicht so harmonisch: „Tango armónico“
„Goldene Tango-Zeiten
– aber bitte richtig!“ betitelt Kollege Thomas
Kröter seinen neuesten, zu Recht viel beachteten Blogtext:
Neben
einer ziemlich deutlichen Abrechnung
mit den zumeist wenig abwechslungsreich auflegenden Berliner DJs (und einem dicken Lob für meine Playlists) macht er
einen Vorschlag, der „traditioneller“ nicht sein könnte:
„Aber ich hätte einen
Vorschlag zur Güte an die Freunde des musikalischen Antiquariats: Ich könnte –
jedenfalls für eine Weile – auf den ganzen modernen Kram verzichten, wenn Ihr
mit der Orientierung an den guten alten Zeiten wirklich ernst machtet. Denn die
heutige Monokultur der Milongas ist erst lange nach dem Untergang der goldigen
Zeiten entstanden (…) In den 30-er bis 50-er Jahren gab‘s in den Milongas von Buenos Aires
Livemusik. Da wechselte sich ein Orquesta Tipica mit einer jazzorientierten
Band ab. Damals hieß es nicht ‚Non Tango‘, sondern ‚Otros ritmos‘.“
Könnte
man denn, so Kröter, nicht Milongas mit zwei
live musizierenden Ensembles organisieren, abwechselnd mit Tango und Swing (dessen goldene Ära
sich zeitlich mit der EdO überdeckt)?
Zu
dem Thema meldete sich prompt Carsten
Buchholz, ein DJ aus Darmstadt:
Ja und? Mache er bereits – und er habe sogar schon Playlists veröffentlicht! Seine ungefähre Aufteilung:
„1/3 harmonische trad. Tangos
1/3 beliebte melodiöse Neo Tangos
1/3 harmonische Juwelen der Musikgeschichte, die sonst (leider) kaum auf
Milongas zu hören sind“
Viele Titellisten gibt es noch nicht, da man erst letztes
Jahr begonnen hat. Ich habe mir die vom 22.7.18 herausgesucht. Carsten spielt normalerweise
Tandas aus drei Stücken plus Cortinas:
In Kürze:
Fresedo
Klazz Brothers &
Cuba Percussion: zweimal Piazzolla, einmal Gardel
DuoDiagonal: Valses
Jazz Tanda: Billie Holiday, Duke Ellington, Louis Armstrong
Pop-Tanda: Rocky Horror Picture Show, Eagles, Beatles
Quadro Nuevo
Pop-Tanda: The Commitments, Bonnie Raitt & John Prine, Beth Hart Joe
Bonamassa
Pop-Tanda: Iyeoka- Simply Falling, Diana Krall – Temptation, Sharon
Kovacs – My Love
Vals-Tanda: Stavros Lantsias, Eleni Karaindrou, Yorgos Kazantzis
Pop-Tanda: Gorillaz
Pop-Tanda: Jamiroquai, Haindling, Nils Petter Molvær
Milonga-Tanda: Squirre Nut Zippers, Phish, Hetty & the Jazzato Band
Tango-Tanda: El Cachivache, Orquesta Romantica Milonguera, Destiny Quartet
Finnischer Tango
Vals-Tanda: Francisco Canaro
Osvaldo Pugliese
Pop-Tanda: Jan Pascal, Kroke
Beltango
Roberto Firpo y su Orquesta – La Cumparsita
Outro: Rocky Horror Picture Show – I’m going home
Was mir vor allem
gefällt:
Carsten Buchholz zeigt eine
Eigenschaft, die bei „klassischen“ DJs im Tango Mangelware ist: Selbstkritik. So schreibt er zur obigen
Playlist:
„Einige Stücke waren
definitiv zu schnell und haben viele überfordert. Aber auch im
anderen Extrem war ich ein wenig zu experimentell. Einige meiner langsamen
Stücke hatten Passagen, in denen der Takt nicht explizit zu hören war (sondern
extrapoliert / gefühlt werden musste). Auch das kam nicht bei allen gut an.“
Daher
wird er sicher auch Fremdkritik
ertragen - wobei ich bekennen muss, im Fach Popmusik ziemlich unbewandert zu sein. Ich habe jedoch in viele
dieser Stücke hineingehört.
Also:
Ich hätte mich bei dieser Milonga sicher nicht
gelangweilt, für Abwechslung ist
wahrlich gesorgt. Allein die Chuzpe, nach der traditionellen Firpo-Cumparsita das Heimgehen noch via
Rocky Horror Picture Show zu
thematisieren, ist sowohl mutig als auch originell!
Allerdings
hätte das Programm meinen Zigarettenkonsum draußen vor der Tür erheblich
gesteigert: Selbst bei größtem Wohlwollen kann man höchstens die Hälfte der Stücke im weitesten
Sinne mit dem Begriff „Tango“
verbinden. Sorry, der Rest ist halt Popmusik
mit völlig anderen Wurzeln und Ausdrucksmitteln! Seiner obigen Aufteilung wird
der DJ nur ansatzweise gerecht.
Gerade
mit Mittelteil (wo sich viele
entscheiden, wie lange sie noch bleiben wollen) hat er sich schon kräftig
verirrt. Gegen Ende hin wird es (vielleicht in der Erkenntnis, überzogen zu
haben) wieder deutlich tangomäßiger.
Und
übrigens: Der Unterschied zwischen Tango
nuevo und Neotango ist dem DJ
(wie fast allen seiner Kollegen) offenbar unbekannt. Zur Info: Ersterer bezieht
sich auf Piazzolla (mit zwei „l“) und
sein Umfeld, keineswegs jedoch auf Gruppen wie Gotan, Bajofondo und Otros
Aires!
Das
soll Carsten Buchholz jedoch
keinesfalls entmutigen. Für die Zukunft könnte ein bissel mehr Tango nicht schaden. Aber allein die Tatsache, dass er sich um musikalische Vielfalt bemüht und seine Playlists veröffentlicht, unterscheidet
ihn wohltuend von 99 Prozent seiner Kollegen. Und wenn es noch eines Arguments
bedürfte, die Darmstädter Milonga „Tango
Armónico“ zu besuchen, so ein Spruch, den er zum Tanzverbot am Totensonntag
veröffentlichte:
„Jesus
hätte auch gern getanzt, wenn er es nicht so mit dem Kreuz gehabt hätte.“
(Für Genießer: Das Wortspiel wirkt beim Tango ja doppelt...)
Weitere Quellen (auch zu den
künftigen Terminen):
http://neunmalsechs.blogsport.eu/2018/gegen-religioese-gesetze-in-hessen/
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