Von den Keimdrüsen ins Smartphone


„Sie, Herr Dokta, was kost' des, bal ma oan mit an kloan Stecken am Kopf aufi haut? (… ) Moana S', es ko mir was g'schehg'n? I ko hundert Eid schwör'n, daß i in einer Notwehr befunden g'wen bi. Überhaupt hob i eahm bloß mit an kloan Steckerl am Kopf aufi ghaut."
(Ludwig Thoma: Onkel Peppi und andere Geschichten - Kapitel 8)

Bekanntlich wird ja auf sozialen Internet-Foren die Lebenshilfe ganz groß geschrieben. Während man jedoch auf naturheilkundlichen Seiten gerne Fotos karbunkelnder Geschwüre am Oberschenkel mit der Bitte um eine Diagnose postet, hat man auf Tangoforen wie der Facebook-Gruppe „Tango München“ andere Probleme:

„Situation:
Du stehst mit deiner Partnerin ausserhalb der Tanzfläche. Ihr wollt auf die die Tanzfläche. Zwischen den beiden Paaren vor euch sind etwa 50 cm Abstand.
Frage:
Ist das korrekt, wenn du den hinten Tanzenden ansiehst, selbst nickst und dich dann zwischen die beiden Paare schiebst und deine Partnerin dazu ziehst?
Zusatzfrage:
Darfst du den hinter dir Tanzenden schimpfen, wenn er seine Partnern in dich hineinführt, weil er nicht damit gerechnet hat, dass ihr die Tanzfläche betretet?“

Ein anderer Kommentator ergänzt:

„Interessanter ist mMn wie damit umgehen wenn dir das passiert. Ich glaube wir sollten uns alle SELBST bemühen, unser mögliches tun, uns selbst und allen anderen eine gute Atmosphäre zu schaffen. Dazu gehört mMn auch dass wir als Gäste nicht anderen Gästen Vorschriften machen. Das ist Aufgabe der Veranstalter, die damit eine große Verantwortung tragen.“

Für alle, die im Regelwerk des „traditionellen“ Tango nicht so firm sind: Es geht hier um den so genannten „Cabeceo unter Führenden“. Wenn ein Tänzer mit seiner Partnerin das Parkett betreten möchte, so soll er sich vom Kollegen, vor dem er sich einreihen will, erst per Blickkontakt und Nicken die Erlaubnis dazu holen.

Solche Vorfälle nimmt man in alter Tradition nicht mit einem Lächeln hin oder bespricht das untereinander vor Ort, sondern fährt nach Hause und meldet den Skandal auf Facebook
Selbstredend gibt es dort eine Vielzahl von Código-Experten, welche sofort mit Expertisen aufwarten.  

Die Rechtslage, so die vorwiegende Ansicht, ist klar:

„ Ohne Bestätigung aus der Ronda normalerweise kein Betreten der Piste.“

„ich veranstalte keine Milongas, aber als Gast erwarte ich, dass der Veranstalter sich bemüht, mir und den anderen Gästen einen Rahmen zu schaffen, der es mir ermöglicht, mich wohl und sicher zu fühlen.“

„Es gibt Kollegen, die meinen, bei ausreichend Platz (>1,5m) kann man den anderen nur anschauen und dann einfach auf die Tanzfläche gehen. Oder noch besser: erst Platz einnehmen, dann kurz rüberschauen und lostanzen. Nein, reicht nicht. *bevor jetzt die Trolle kommen: Bei 10m Abstand zum nächsten Paar ist das anders, wäre aber auch dann sozial.“

Tango-Veteranen berichten zudem, wie es vor dem Krieg war:

„Ich habe Tanzen angefangen da gab es gar keine Ronda. Ich bin selbst kreuz und quer über die Tanzfläche gepflügt. Heute habe ich in einer gepflegten Ronda einen niedrigeren Blutdruck....“

Eine Tanguera betont der Frauen Pflicht und Schuldigkeit:

„Die Männer haben recht!“

Auch technische Aspekte spielen sicherlich eine Rolle:

„Es ist vielleicht auch eine Frage der Geschwindigkeit in der Tanzrunde, es wird ja über Abstände diskutiert.“

Die Damen hingegen haben eher den hormonellen Aspekt im Blick:

„aber ob jemand schimpft oder nicht ist auch nocch von weiteren Faktoren Abhängig und zwar vom jeweiligen Hormonspiegel ob Stresshormone vorhanden sind oder nicht, wenn der vorden du dich einreihen willst eh schon gestresst ist, wird er sich wohl über alles und jeden aufregen, was ständig sein Fass zum überschwappen bringt...“

„Lust oder Frust, kommt auf das innere Milleu an... Auf die Hormonsuppe in der wir schwimmen... daher kann ich jedem nur empfehlen beim tanzen zu lächeln, einfach nur so auch wenn eine nicht danach ist, denn autoamitsch werden durch die hochgezogenen Mundwinkel Glückshormone ausgeschüttet... und die Welt ist leichter, aber nein,... lieber hört man auf die die sich aufregen... und lässt sich von Ihnen Diktieren...“

„Stelle mir gerade die Führenden mit Frau im Arm und Hormonfass an der Seite baumelnd vor! Muss mal wieder nach München kommen!“

Eine Veranstalterin nutzt die günstige Gelegenheit, auf ihre alternative Milonga hinzuweisen, was aber gar nicht gut ankommt:

„eine Milonga ohne Ronda und bla bla, mal sehn, kann ja dann berichten wies war.“
„Genau. Wer Ronda scheisse findet, der kann zu dir kommen“

Vereinzelt werden – was mich wundert – sogar halbwegs vernünftige Einsichten laut:

„warum soll es um ‚Recht haben/ bekommen‘ gehen? es sind aus meiner Sicht einfache Regeln des gegenseitigen Respekts, nicht mehr und nicht weniger!“

Hier der Diskussionsverlauf im Original:

Wenn ich auch mal was dazu sagen darf:

Ich weiß nicht, mit welchem Klammerbeutel man gepudert sein muss, um sich zwischen zwei Tanzpaare zu drängen, die gerade einmal einen halben Meter voneinander entfernt sind. Da ist eine Kollision kaum zu vermeiden. Ich würde halt in einer solchen Situation einfach warten, bis genug Platz wird. Und wenn es denn derartig voll auf dem Parkett ist, kann man eh nicht das betreiben, was ich unter „Tanzen“ verstehe.

Allerdings versuche ich eben auch, Platz zu machen, wenn ein Paar vor mir das Parkett betreten möchte – beispielsweise, indem ich die Vorwärtsbewegungen einstelle, eventuell sogar etwas nach hinten gehe oder zur Mitte hin ausweiche. Aber ein solcher „Spurwechsel“ ist ja nach den heiligen Códigos nicht erlaubt. Und hier beißt sich halt die Katze in den Schwanz…

Hätte Karl Kraus Tango getanzt, würde seine Einschätzung wohl lauten:
„Die Códigos de la Milonga sind Regeln zur Vermeidung der Schwierigkeiten, welche es ohne sie nicht gäbe.“

Ich habe bei den Zitaten die Urheber bewusst nicht genannt, da solches Gefasel im Internet austauschbar ist (wer möchte, kann sie über den Facebook-Link finden). Und ich habe die Texte auch nicht rechtschreibkorrigiert, um deren Stil zu belassen: Der erinnert mich fatal an die Briefchen, welche sich Schüler/innen in der 7. Klasse gegenseitig unter der Bank zuschieben. So auch im Internet: Vorwiegend pubertäre Keimdrüsen-Botschaften werden ohne maßgebliche Beteiligung der Großhirnrinde ins Smartphone gehackt. Eine intellektuelle Beschäftigung mit diesem Kram ist daher fast aussichtslos.

Daher überlasse ich die Gesamtwertung einer Tanguera, welche die Problematik mit dem von mir im Tango besonders geschätzten osteuropäischen Charme beleuchtet:

„Wenn man geht rein ohne Blick, ist Mann einfach Anfänger und weisst nicht was er macht. Wenn jemand tanzt und sieht sehr genau Leute neben Tanzfläche stehend und nicht sofort Platz für diese Leute macht - ist einfach Arschloch. Ich finde immer lustig wenn manche machen da ganze Zeremonien. Männer Cabaceo ist für einfache und höfliche Leben, nicht für kranke Ego.

Gut gesagt - Dobrze powiedziane!

P.S. Als Arbeits-Anregung für die Münchner Código-Experten:

In der Straßenbahn nicht hinsetzen (vermeidet Knitterfalten in der Hose).
Passwort zum Milonga-Eintritt nicht vergessen!
Die Damen haben sich von der Mutter begleiten zu lassen.
Ein Taschentüchlein zwischen seine und ihre Hand legen!
Schlechte Tänzer mit Kronkorken bewerfen!
Außer im Fasching keine kurzen Hosen tragen!

Edit (10.1.19): Gerade hat man in der Facebook-Gruppe "Tango München" die Kommentarfunktion für diesen Thread deaktiviert. Klar: Nicht, dass die Meinungsfreiheit ausartet...


Kommentare

  1. Auf „Tango München“ scheint die Lage inzwischen zu eskalieren. Joachim Beck hat sich nämlich an einer Satire über mich versucht:

    „Es ist ein hungriges, gefräßiges Tier. Es lauert im Norden Münchens auf Beute. Es beobachtet, es ist geduldig, es hat Zeit und es ist unerbittlich! Es ist ein Riedl! Sei auf der hut, tanguero - begehst du nur einen kleinen Fehler, so packt es Dich – das Riedl. Zum Glück ist ein Biss des Riedls völlig unschädlich.
    Früher lebte das Riedl störend aber relativ ungestört auf Münchner Milongas, leicht zu identifizieren an veitstanz-ähnlichen Hüpfschritten, abrupten Richtungswechseln, unmotivierten Quertraversen. Belächelt aber wohlgelitten überlebte das Riedl lange Jahre in seiner selbstgewählten Nische.
    Was das Riedl schließlich aus seinem angestammten Habitat vertrieben hat, ist in der Tango-Forschung letzgültig nicht geklärt worden. Es gilt jedoch als sicher, dass das seltene Tierchen in München ausgestorben ist. Das Riedl lebt nun im Metropol-Dreieck Maushof, Deimhausen, Puch, insidern bekannt als tri-be-frei – triangle below Freinhausen.
    Das Riedl ernährt sich dort hauptsächlich von Facebook-Nachrichten aus der Münchner Tango-Szene. Fachleute sind verblüfft, welch geringe Menge an Energie nötig ist, um das Riedl am Leben zu erhalten. Einmal genährt scheidet das Riedl große Mengen an Textzeilen aus. Das Riedl ironisiert, bis es schließlich einen Sarkasmus bekommt und verstummt.
    Es überlebt dann in einer Art Winterstarre, bis der nächste Münchner Tangofreak irgendeinen komischen Scheiß postet “

    https://www.facebook.com/groups/tangomuenchen/permalink/10156025184971186/

    Einer der beiden Moderatorinnen derSeite, Maren Gehrmann, drohte ihm daraufhin mit Löschung:
    „Mein Chatfach sagt gerade was anderes. Viele wollen Deinen Kommentar gelöscht sehen, haben aber keine Lust auf Diskussion.“

    Nun tobt dort eine Diskussion mit dem Autor der Satire, der unter anderem schreibt:
    „Und wenn es dir daran gelegen wäre, eine lebendige ‚tango münchen‘-szene zu etablieren, dann könntest du das ganz leicht schaffen. aber nein, du willst leute, die dir nach dem mund reden. fundamentale kritik ist nicht dein ding. (…) naja, die art, wie du diskussionen abbügelst, macht ja niemandem mut, seine meinung zu sagen“

    Echt jetzt? Na ja, ich hatte mich schon 2016 darüber aufgeregt, dass man dort einen ziemlich harmlosen Beitrag meiner Bloggerkollegin Manuela Bößel gelöscht hatte…

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  2. Hier ein Kommentar von Matthias Botzenhardt:

    Hallo Gerhard,

    schlechte Tänzer mit Kronkorken bewerfen?

    Was die Breite der Münchner Tänzer (jedenfalls auf den von mir besuchten Milongas) tatsächlich hervorragend beherrscht… ist das Biertrinken.
    Ich verfolge dies nun seit einigen Jahren sporadisch; letztmalig kurz nach vergangenem Weihnachtsfest.

    Hierin unterscheidet sich die Bayerische Hauptstadt von den meisten anderen mir bekannten Städten. Nach eigener Beobachtung haben sich auch die stets anwesenden Expatriates dazu durchgerungen, diesem lokalen Brauchtum ausgiebig zu frönen. Bei gewissen Personen drängte sich mir bereits der Verdacht auf, der Pflege dieses kulinarischen Kulturgutes würden sie deutlich mehr Aufmerksamkeit widmen als dem Tanz. Dies erklärt möglicherweise, weshalb es etliche Personen nur auf einem dieser beiden Felder zu einer angedeuteten Meisterschaft bringen.
    Zweckdienlicher Nebeneffekt: Zahlreiche Darbietungen auf dem Münchner Parkett lassen sich mit ausgiebigem Alkoholgenuss wesentlich leichter entschuldigen. Vielleicht überhaupt nur so.

    Vorwiegend wird das Bier - auch Export und Pils - gefälligerweise in Flaschen gereicht. Ich befürchte deshalb, dass die Menge der dem Publikum verfügbaren Kronkorken bestenfalls für einen kleinen Bruchteil der auszumachenden Zielpersonen gereichte.

    Speziell in München, würde ich also eine kleine Variante Deiner Arbeitsanregung vorschlagen:
    Nämlich die „Guten“ Tänzer mit Kronkorken zu bewerfen!

    Erstens bräuchte ich mich dann keinesfalls um den Beschuss durch Kronkorken zu kümmern; zweitens fänden sich auf diese Weise selbst Mütter auswärtiger Damen sehr schnell im mediokren Getümmel der Ronda zurecht.

    Um „Gutes“ zur Empfehlung an die eigene Tochter möglichst flott zu erkennen, könnten sie sowohl die Flugkurven als auch das helle Landegeklimper nutzen.
    Können sich einzelne Damen eigentlich auch von ihren Töchtern begleiten lassen? Und wie kommen weibliche (Halb-)Waisen ohne Mutter und Tochter zurecht?

    Zum Abschluss meiner Gedanken über den traditionellen Alkoholkonsum in München, möchte ich Dein obiges Zitat Ludwig Thomas um ein Werk Gerhard Polts erweitern (Stichworte: Geisterbahn, 8 Metzger (aus dem Schlachthof?), zu wenig Platz, Höflichkeit, interkulturelle Verständigung).
    Ich bitte mein holpriges Transkript zu entschuldigen!

    „Mia hom gsogd, mia nema koane Fraun’ mit - mia woin a Gaudi hom. […] ziagt der Adi aus der Jopm an Schduihoxn aussi [...] von Zuaschlong - keine Rede. Der Adi hod ned zuagschlong. Der Adi hod an Zwedschgnmandi an Moasgruag lediglich leicht am Schädl aufgsetzd.“
    [https://www.youtube.com/watch?v=vZiltDCU8xo]

    Viele Grüße,
    Matthias

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    Antworten
    1. Lieber Matthias,

      also - bei allen Unsitten auf den Milongas - verstärkten Alkoholgenuss habe ich bislang noch kaum wahrgenommen. Und schon gar kein Bier, ist wegen der entstehenden "Fahne" bei Tangueras nicht beliebt.

      Aber ich habe auch schon lange keine der "angesagten" Münchner Milongas mehr besucht. Möglicherweise hat sich inzwischen einiges geändert.

      Eventuell sind auch die Formulierungen (und die vielen sprachlichen Fehler) auf Facebook und anderen Foren vom Promillegehalt beeinflusst. Wer weiß?

      Herzliche Grüße
      Gerhard

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