Deutliches von Toumanova


„Wenn Sie gleichgeschlechtliche Paare von der Tanzfläche verdrängen, verteidigen Sie keine heilige Essenz, sondern sind ein Arsch.“
(Veronica Toumanova)

Die Tangolehrerin und Autorin Veronica Toumanova dürfte die international bekannteste und beliebteste Tango-Bloggerin sein. Das sei ihr von Herzen gegönnt. Ich habe schon einige Texte von ihr übersetzt und besprochen:

Zu ihren Bewunderern gehöre ich allerdings nicht. Wenn ich überlege, welche Standpunkte sie im Tango vertritt, muss ich regelmäßig wieder in ihren Texten nachlesen – ich merk‘s mir nicht. Die Dame pflegt einen wolkigen „Einerseits-Andererseits-Stil“, den wir in unseren radikalen 68-er Zeiten mit dem Spruch abgetan hätten: „Wenn man bedenkt, wie er so hängt…“ Na gut – oxytocinlastiges Gesäusel findet im Rosamunde Pilcher-Tango halt genug Fans…

Dies bedeutet nicht, dass ich alle ihre Einschätzungen ablehne – wenn sie denn nicht ganze Satzgebirge zur Verhüllung ihrer Ansichten bräuchte! So bringt es ihr gerade auf Facebook veröffentlichter Text „Warum Frauen führen und Männer folgen“ auf ganze 2618 Wörter: mehr als doppelt so viele wie durchschnittliche Artikel von mir – für zu lang hält man jedoch im Zweifelsfall meine…

Wie man schon am Ausgangszitat sieht, wird Toumanova endlich einmal deutlicher. Worum geht es? Offenbar hat sie sich – ebenso wie ich – über den Vorfall bei einem Tangofestival in St. Petersburg geärgert, als man ein Frauen-Tanzpaar mitten im Stück vom Parkett verwies. Ich habe das Thema schon vor etwa zwei Wochen behandelt:

Das Ganze war mitnichten ein Versehen, sondern knallhart ideologisch begründet: „Die organisierende Schule gab eine Erklärung ab, in der es heißt, dass es beim wahren Tango um Männer geht, die führen, und Frauen, welche folgen, und dass sie auf ihren Veranstaltungen keine Ausnahmen tolerieren werden.“

Wie üblich zieht die Autorin bei ihrer Einschätzung einen weiten Bogen: Das Fundament von Paartänzen sei natürlich, dass sich Paare fänden – mit Ritualisierungen, damit die dominanten Männer die Damen nicht gleich von den Beinen holten. Und gerade der Tango sei in Mode gekommen nicht trotz, sondern wegen seines obszönen Hintergrunds.

Aber: „In jedem Paartanz verlagert sich der Schwerpunkt irgendwann von ‚Paar‘ auf ‚Tanz‘. Er wird komplex genug, um als Kunstform, als Ausdrucksmittel und nicht als Grund für ein Date interessant zu sein. Die Rollen kommen ein Stück weit vom Geschlecht ab. (…) Im Tango geht es immer noch sowohl um Tanz als auch um Paarfindung, aber jeder von uns lebt die beiden Komponenten in jedem Moment auf sehr persönliche Weise aus. Viele Leute beginnen mit dem Tango in der Hoffnung, eine neue Liebe zu treffen, um sich dann in einen neuen Tanz zu verlieben.“

Jede Rolle habe ihre geschlechtsspezifische Geschichte: Als weibliche Gesellschaftskleidung seien halt früher hochhackige Schuhe und enge Röcke üblich gewesen, was die Tanzbewegungen – im Gegensatz zum Nuevo in Jeans und Sneakers – einschränkte.

Tumanova spricht auch andere moderne Tangoformen an: Queer Tango zeigte uns, dass dieser Tanz Verbindungs- und Ausdrucksmöglichkeiten in sich birgt, unabhängig von Geschlecht und sexueller Orientierung, aber auch, dass Schwule oder Lesben und Tango einander nicht ausschließen.“

Das Wiedererstarken des Salon- bzw. Milonguerostils sieht die Autorin „in jeder Hinsicht als eine Rückkehr zu den Wurzeln, aber gleichzeitig als eine Integration der vorherigen Phase (…) aber Frauen, die führen wollen, und Männer, die folgen wollen, waren bereits zu alltäglich, um das noch umzudrehen.“

Zum Führen sei sie selber gekommen, da ihr das Warten auf männliche Tanzangebote zu langweilig wurde und sie glaubte, damit anderen beschäftigungslosen Frauen eine Freude zu machen. Es sei natürlich wichtig für sie als Lehrerin, auch das Führen zu beherrschen – und je professioneller man werde, desto mehr sehe man darin schlicht eine andere Rolle.

Männliche Reaktionen darauf habe sie etliche erlebt: Das gehe von einem betrunkenen Milonguero in Buenos Aires, der sich zwischen sie und ihre Partnerin drängen wollte, über anzügliche Sprüche bis zu Vorwürfen, den Männern die heißesten Tänzerinnen wegzuschnappen. Es gäbe vor allem drei Kritikpunkte an gleichgeschlechtlichen Paaren: Führende Frauen verlernten das Folgen, Männer sollten nicht mit ihresgleichen tanzen, wenn so viele Frauen herumsäßen – und: „Tango ist ein Tanz der Leidenschaft, in dem ein Mann führt und eine Frau für immer und ewig folgt. Amen."

Man halte offensichtlich wenig von der weiblichen Fähigkeit, etwas Neues zu lernen und dennoch das Alte zu behalten. Zudem fuße solche Kritik auf dem „Herrschaftsmodell“, dass der Führende alles bestimme: „Dieses Modell steht paradoxerweise in völligem Gegensatz dazu, wie wir heute Tango unterrichten. Lehrerinnen und Lehrer meiner und jüngerer Generationen sehen die Interaktion zwischen Rollen als eine Zusammenarbeit gleichberechtigter Partner (…) Das Herrschaftsmodell spiegelt ein archaisches, weder wahrheitsgetreues noch intelligentes Tango-Verständnis wider, dem wir hier und da noch begegnen.“ Aus dieser Sicht gerate eine Folgende, welche aktiver tanzt, „gefährlich außer Kontrolle“.

Was Männer könnten, werde halt traditionell als schwieriger angesehen: „Auf der einen Seite sind unsere kulturellen und politischen Landschaften immer noch weitgehend von Männern dominiert, was bedeutet, dass alles, was Männer tun, standardmäßig als härter, glorreicher und für das andere Geschlecht weniger zugänglich angesehen wird.“

Zudem profitierten Männer davon, Mangelware zu sein: „Ironischerweise werden Männer in vielen Kulturen als weniger begabt für den Tanz angesehen, es sei denn, sie sind schwul, ein Stigma, das einen Mann davon abhalten kann, es überhaupt zu versuchen. Das männliche Geschlecht ist in fast jeder Tanzklasse unterrepräsentiert. Im Tango erschrecken die Strapazen der ersten zwei Jahre viele Männer. Wenn wir für jeden fortgeschrittenen männlichen Führenden mehrere wirklich gute weibliche Folgende haben, betrachten wir Ersteren als kostbar und halten Letztere für selbstverständlich.“

Weiterhin tanzten Frauen auf hohen Absätzen, Männer – auch als Folgende – nicht. Daher kämen sie oft zur Ansicht, Folgen sei gar nicht so schwierig. Aber das ist ihnen (wie in der Tangogeschichte) nur „zu Übungszwecken“ erlaubt: „In dem Moment, in dem sich ein männlicher Führender in das Folgen verliebt und andere Männer in Milongas auffordert, wendet sich die öffentliche Meinung radikal. (…) Während es die Leute hinnehmen können, wenn zwei Frauen als Mädchen zusammen Spaß haben, da die guten Männer schon vergeben sind, können zwei Männer, die einen Tanz in enger Umarmung genießen, die Menschen unruhig machen.“

„Je mehr Homophobie der umgebenden Kultur sich in einer Tango-Community einprägt, desto weniger gleichgeschlechtlicher Tanz wird außerhalb des Übungsrahmens toleriert. Die Tatsache, dass der Vorfall in Russland stattfand, ist keine Überraschung. Aber selbst in Kulturen, die sich als offen und tolerant rühmen, betrachten wir weibliche Führende als bösartig und männliche Folgende als putzig. Wir finden immer noch, dass ‚Männlichkeit‘ eine Aufstiegsförderung für eine Frau ist, aber ‚Weiblichkeit‘ einen Mann degradiert. Für beide Geschlechter betonen wir, dass Rollentausch entweder zum Lernen oder zum Herumspielen dient und jede Möglichkeit einer tiefen, ernsthaften menschlichen Verbindung oder gleichgeschlechtlicher Anziehung ausschließt.“

„Die Frage ist für mich nicht, ob der Rollentausch das Wesen des Tangos irgendwie beschädigt oder verwässert. Die nicht konforme Rolleninterpretation war von Anfang an im Tango und hat nur an Beliebtheit zugenommen. (…) Und für mich heißt es, dass sich der Tango spektakulär entwickelt hat und die erotische Anziehungskraft als notwendige Bedingung zugunsten einer umfassenderen menschlichen Verbindung durch Musik und Bewegung abgelegt hat. Eine Verbindung, die erotische Anziehungskraft jeglicher Art oder überhaupt keine beherbergen kann und dennoch wahr ist.“

„Zu behaupten, dass der Rollentausch ein geringeres Erlebnis darstellt, ist kein Traditionalismus, sondern Intoleranz gegenüber einer anderen Art des Tangos. (…) Es geht nicht um Tango, der Tango braucht uns nicht, um ihn zu verteidigen. Tango möchte unser authentisches Verlangen, sich mit einem anderen Menschen zu verbinden.“

Gut gebrüllt, Toumanova, kann ich da nur sagen!

Ich gebe allerdings zu bedenken: Die Autorin äußert immer wieder ihre Neigung zum historischen Tango mit all dem Gewese, den er mit sich bringt. Dann erstaunt zu sein, wenn er hinsichtlich der Geschlechterrollen ebenfalls drastische Rückschritte erzeugt, halte ich für naiv. Die Probleme rühren nicht von den flachen oder hohen Schuhen her, sondern von der Population, welche man mit dem Label „traditionell“ massenhaft zum Tango gelockt hat: Menschen, die den Tango für eine Rettungsinsel vor dem verderbten Zeitgeist halten – für ein Bollwerk gegen Gleichberechtigung, Offenheit und Toleranz. Die Geister, die man rief, haben Geist durch Reglements ersetzt. Immerhin scheint dies der Autorin nun ansatzweise klar zu werden.

Was mich an der Geschichte in St. Petersburg am meisten ärgert, ist weniger, dass ein Volltrottel von Veranstalter ein Frauenpaar von der Tanzfläche verwiesen hat, sondern dass dies (wie Berichte bezeugen) bei den anderen Gästen für keinerlei Aufbegehren sorgte. Und nebenbei: Was die Autorin als „Herrschaftsmodell“ beim Führen und Folgen bezeichnet, ist hierzulande bis heute übliche Basis des Tangounterrichts!

Daher, liebe Veronica, wird der Lenz im Tango wohl noch auf sich warten lassen – und zwar umso länger, je mehr die Mädchen nur „tralala“ singen, anstatt klare Ansagen zu machen – und zwar egal, ob der Spargel dann noch wächst…



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