Wenn Verbissene mich verbissen nennen
Wieder einmal bin ich meinen Kritikern dankbar, weil sie mich zu neuen Texten animieren.
So schrieb gestern ein Kommentator (der es selbstverständlich unterließ, seinen Namen zu nennen):
„Sie sehen die Welt oft durch Ihre Vorurteilsbrille, ein ‚sowohl-als-auch‘ scheint es wohl nicht zu geben, wenn es nicht Ihrer Sichtweise entspricht.“
Ich habe nun recherchiert, was unter dem Begriff „Vorurteil“ zu verstehen ist:
„Ein Vorurteil (juristisch-philosophisch auch: Vorverständnis) ist ein Urteil, das einer Person, einer Gruppe, einem Sachverhalt oder einer Situation ohne eine gründliche und ohne eine umfassende Untersuchung, Abklärung und Abwägung zuteilwird. (…) Es ist ein voreiliges Urteil, also ein Urteil, das überhaupt nicht oder nur sehr ungenügend durch Realitätsgehalt, Reflexionen oder Erfahrungen gestützt wird, oder es wird sogar vor jeglicher Erfahrung oder Reflexion aufgestellt.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Vorurteil
Ich bewege mich nun seit 25 Jahren in der Tangoszene, habe ein Buch dazu geschrieben und Recherchen zu über 1600 eigenen Blogtexten durchgeführt. Wer Artikel von mir liest, stößt typischerweise auf zahlreiche Links, die ich als Beleg für meine Aussagen anführe.
Daher meine ich schon, mich bei meinen Einlassungen auf Tatsachen und Erfahrungen zu beziehen und mir Zeit für Abwägungen zu lassen. Doch so wenig meine Veröffentlichungen Vorurteile darstellen, sind sie Urteile. Ich maße mir beim Tango kein Richteramt an. Eher sehe ich mich als Anwalt, der für gewisse Veränderungen plädiert. Diese Forderungen sind stets persönlich – ich beanspruche nicht, für eine gewisse Gruppe oder gar eine gefühlte „Mehrheit“ zu sprechen. Im Gegenteil betone ich oft, gegen den heutigen „Mainstream“ anzuschreiben.
Und ja: Ich werte häufig. Das tun viele andere in der Szene auch.
Daher muss ich meinen verehrten Gegnern schon ankreiden, dass sie immer wieder Ansichten zu meiner Autorentätigkeit verbreiten, die aus meinen Artikeln überhaupt nicht abzuleiten sind. Mit anderen Worten: Die Behauptung, dass ich Vorurteile bediene, ist ein Vorurteil!
Weiterhin behauptet der obige Kommentator, ein „Sowohl als auch“ scheine es bei mir nicht zu geben, wenn es nicht meiner Sichtweise entspreche. Ich möchte diese Einlassung an einigen Beispielen durchbuchstabieren:
In seinem bislang letzten Beitrag auf seinem Blog (von 2022) schreibt Cassiel zu einem Artikel von mir: „Mich stört zunächst dieses permanente Werten.“ Da muss ich schon fragen, was dieser Kollege eigentlich anders macht! In seiner aktiven Zeit hat er uns tonnenweise mit Werturteilen zum Tango versorgt: Welche Musik, welche Verhaltensweisen und Regeln im Tango denn nun passend oder unpassend, ja gefährlich seien. Aber wahrscheinlich waren das – aus seiner Sicht – keine Wertungen, sondern Verkündungen absoluter Wahrheiten…
Und wenn man sich die Einladungen zu Tangoevents anschaut, stößt man auf permanente Qualitätsurteile: Alles ist suptertoll, einmalig und gigantisch erfolgreich!
Gerne wird auch der Vorwurf erhoben, ich wolle stets Recht behalten und gehe nicht von meinen Ansichten ab. Na, das unterscheidet mich sicher von den Tango-VIPs, die sich bekanntlich selber ständig in Frage stellen und ihre Ansichten korrigieren…
Im selben Kommentar tut Cassiel so, als fuße mein Tangoverständnis auf der Musik von Peter Alexander. Nur, weil ich es gewagt habe, zu Hause im Wohnzimmer wenige Male einige Stücke von ihm aufzulegen. Dabei werden natürlich knallhart Vorurteile bedient!
https://tangoplauderei.blogspot.com/2022/11/wie-sich-mein-tango-veraendert-hat.html
Weil wir schon bei der Musik sind: Anhängern modernerer Klänge bleibt gar nichts anderes übrig, als sich mit dem „Sowohl als auch“ abzufinden. Wenn man in unserer Gegend öfters zum Tanzen gehen möchte, muss man damit klarkommen, dass auf vielen Veranstaltungen den ganzen Abend keine einzige Aufnahme gespielt wird, die jünger als 60 Jahre ist. Also hat man sich auf die Dialektik einzulassen, halt aus den ollen Zeug das tänzerisch Mögliche herauszuholen. Oder man tröstet sich damit, dass die Atmosphäre, die Gäste ganz sympathisch sind. Kompromisse gehören da zum Alltagsgeschäft.
Zudem habe ich nie gefordert, nun den ganzen Abend Avantgarde aufzulegen. Oder gar Piazzolla-Dauerbeschallung. Im Gegenteil habe ich oft betont, dass auch dies bei Überdosierung nervig werden kann. Und dass ich keine Lust habe, mich überwiegend auf Musik zu bewegen, die mit Tango wenig bis nichts zu tun hat.
Ich werbe – auch mit meinen Playlists, die lieber keiner besprechen mag – stets für musikalische Vielfalt. Also sowohl alte Schnulzen als auch elaborierte Stücke, Historisches ebenso wie moderne Kreationen, Sanftes und Verträumtes genauso wie Dramatisches, Fröhliches wie Depressives. Und das alles gelegentlich in einer einzigen Komposition. Genau diese Kontraste faszinieren mich am Tango. Ich finde, mehr „Sowohl als auch“ geht nicht!
Und ich muss schon darauf hinweisen, dass diese Offenheit
den Freunden vom anderen Tangoufer nicht selten abgeht: Da beschwert man
sich sofort, wenn der DJ es wagt, mal eine Tanda moderner Art aufzulegen –
droht mit sofortigem Weggang und zukünftigem Boykott. Vom „Sowohl
als auch“ ist man Lichtjahre entfernt. Im Gegenteil hebt sofortiges Geplärr
an, wenn es mal nicht nach dem eigenen Willen geht. Da heißt es gegenüber geschmacklich anders Eingestellten: „Wenn's euch nicht passt, dann bleibt halt weg!" Spaltung statt Inklusion.
Ebenso sieht es aus, wenn es um die immer wieder diskutierten Códigos geht. Gut, ich kann mit den ganzen Reglements wenig anfangen, weil sie aus meiner Sicht oft praktisch schwer umsetzbar sind und die persönliche Entfaltung unnötig einengen. Dennoch habe ich nie gefordert, dass man dies alles auf den Milongas unterlassen müsse. Wer also per Cabeceo auffordern möchte, soll es doch tun! Ebenso ist niemand daran gehindert, in enger Umarmung sparsame Schritte zu setzen.
Nur muss man es dann ebenso tolerieren, wenn andere es anders machen. Tut man aber nicht. Solche Gäste werden ohne Not und pauschal als „rücksichtslose Störenfriede“ verunglimpft, welche Frauen zum einem Tanz nötigen. Es wird ein „Chaos“ befürchtet, wo es doch lediglich darum geht, verschiedene Einstellungen und Tanzstile unter einen Hut zu bringen. Sicherlich ist es nicht immer einfach, dieses „Sowohl als auch“ zu praktizieren, das Ideal des meditativen Kreistanzes ebensowenig zu erreichen wie die absolute Freiheit in der Gestaltung. Aber das gehört halt zu den vielen Widersprüchen unseres Tanzes, kann auch spannend und inspirierend wirken. Und mit genügend Respekt und Toleranz sind die Probleme lösbar.
In ein ähnliches Horn stieß neulich ein anderer Kommentator, dem es missfiel, dass ich schon wieder einen Text zum Thema „Auffordern“ publizierte:
„Ich finde Ihre Dauerschleifen über dieses Thema genauso verbissen wie die Argumente der vernagelten Befürworter dieser Praxis.“
Ich war schon ein wenig erstaunt, dass mir jemand „Verbissenheit“ attestiert, der seit Jahren nichts unversucht lässt, meine Kenntnisse und Fähigkeiten im Tango herabzuwürdigen, sich ständig als „Experte“ aufspielt, dem zu widersprechen eigentlich unziemlich sei. Eine Kostprobe:
„Ist er ein Top-Tänzer? Ist er Musikkenner? Ist er ein anerkannter Musikkritiker? Was zeichnet ihn denn als besonderen Kenner des Tangos aus? (…)
Wenn ich in einem Feuilleton einer Zeitung eine Musikkritik lese, erwarte ich vom Kritiker, dass er ein Fachmann seines Genres ist; dass er sich lange Zeit seines Lebens mit Konzertbesuchen, dem Hören und Vergleichen unterschiedlicher Interpreten, mit dem Lebenswerk einiger Komponisten und deren Lebensgeschichten auskennt. Seine Kritiken sollten über die bloße Unterscheidung ‚gefällt-mir-oder-gefällt-mir-nicht‘ hinausgehen. Also danach nochmal die Frage: Sind Sie Musikkritiker?“
Ich habe mich damals in dieser Szene umgehört:
„Die Frage heißt: Wie wird man eigentlich Musikkritiker? Realistische Antworten könnten lauten:
a) per Zufall,
b) auf Umwegen,
c) wider Willen,
d) keine Ahnung.
Der Werdegang zum Musikkritiker kennt kein Patentrezept.“
https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/01/hamse-jedient.html
Kein Zweifel: Wenn Verbissene mir Verbissenheit attestieren, kann ich gut damit leben!
Und ich werde noch oft auf meinen Wahlspruch hinweisen: „Tango geht auch anders.“ Wohlgemerkt: „auch“ – nicht „nur“!
Wieder so eine in die Luftnummer ohne Recherche:
AntwortenLöschen[…] Die Frage heißt: Wie wird man eigentlich Musikkritiker? Realistische Antworten könnten lauten:
a) per Zufall,
b) auf Umwegen,
c) wider Willen,
d) keine Ahnung.
Der Werdegang zum Musikkritiker kennt kein Patentrezept.“[…]
Wikipedia:
"Musikkritiker ist die Berufsbezeichnung für eine Person, die Rezensionen und Besprechungen z. B. über Instrumental- und Orchesterwerke, Opern, Operetten, Musicals oder andere musikalische Bühnenwerke bzw. Vokal- und Chorwerke sowie Rock, Pop oder Jazz und andere verwandte Stilrichtungen verfasst. Diese können in einem Fachorgan gleichermaßen wie in Tageszeitungen oder Wochenzeitungen, aber auch in Rundfunk bzw. Fernsehen oder im Internet veröffentlicht sein. Die Ausbildung zum Musikkritiker erfolgt heute gelegentlich im Rahmen eines Studiums der Musikwissenschaften, meist im Kontakt mit diversen Medien.[1]
…In den vergangenen Jahrhunderten waren Musikkritiker nicht speziell für diesen Beruf ausgebildet. In der Regel handelte es sich um Komponisten oder Musiker, die neben sehr viel Erfahrung in der Kompositionstechnik und der zeitgenössischen Musik ein entsprechendes schriftstellerisches Talent mitbrachten. Da es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts keine phonographischen Aufnahmen von Musikwerken gab, waren die Musikkritiker in weiten Teilen darauf angewiesen, sich durch das Studium von Noten, Partituren und Klavierauszügen die notwendige Grundlage zu schaffen, um ein Werk richtig beurteilen zu können. "
Das sind genau die Voraussetzungen, die ich bei Ihnen vermisse.
Mit freundlichen Grüßen
Klaus Wendel
Lieber Herr Wendel,
Löschenwas Sie als „Luftnummer“ bezeichnen, war einfach eine satirische Anmerkung, die nicht mal von mir stammt. Eine gründlichere Recherche findet man im verlinkten Artikel.
Aber Sie haben ja im Grunde recht: Musikkritiker bin ich sicherlich keiner. Ich wüsste aber nicht, dass ich dies je behauptet hätte. Daher kann ich aus „Noten, Partituren und Klavierauszügen“ bestimmt keine ästhetischen Wertungen ableiten, schon gar nicht zu „ernster“ Musik. Ich nehme an, Sie können das, da Sie mich ja öfters belehren, wie ich den Schaffensbereich der EdO einzuschätzen habe. Wie Sie einmal schrieben, „sollte man die Struktur eines Tangos der Epoca de Oro verstehen können, um zu erkennen, dass sie eigentlich gar nicht langweilig ist.“ Merke: Bei genügender Fachkenntnis kann man zu gar keinem anderen Urteil kommen.
https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/01/hamse-jedient.html
Immerhin kann ich mich in Zweifelsfällen an meine Frau wenden, die seit zirka 60 Jahren Geige spielt und einigen Jahrzehnten auch singt. Aber auch sie hat kein abgeschlossenes Musikstudium zu bieten, sondern lediglich viele hundert Stunden Privatunterricht und Dutzende von Auftritten jährlich.
Ich nehme an, Ihnen stehen solche Quellen auch zur Verfügung.
Das Problem ist halt, dass die meisten Musiker und Musikfachleute nicht tanzen können. Daher erlaube ich mir gelegentlich, aus dieser Sicht etwas über Stücke zu schreiben, zu denen ich gerne tanze. Und auf dem Parkett bin ich seit etwa 55 Jahren.
Im Gegensatz zu anderen mache ich aus meiner Biografie kein Geheimnis. Meine Leserinnen und Leser können also selber einschätzen, wie sich meine fachliche Basis ausnimmt. Und vor allem betone ich immer wieder, dass meine Ansichten einen sehr persönlichen Charakter haben und ich niemand mit der Wucht meines Fachwissens beeindrucken möchte.
Das habe ich wahrlich nicht nötig.
Mit besten Grüßen
Gerhard Riedl