Exorzismus-Liste für DJs

 

Kürzlich fand ich eine bemerkenswerte Aufstellung unter dem Titel:

„Welche Tango-Musik ist NICHT für die Milonga geeignet? - Die ultimative Sammlung!“

Sie wurde auf Facebook (Tango-DJ-Forum) veröffentlicht, wo sie zu über 260 Kommentaren führte. Den ursprünglichen Text findet man hier:

https://endretango.com/en/tango-music-not-suitable-for-the-milonga/

Man solle die Liste nicht ernst nehmen, „obwohl in jedem Witz ein Körnchen Wahrheit steckt“. In dieser Quelle heißt es (von mir übersetzt):

„Liebe Leute,

ich habe auf FB so viele Diskussionen über Tango-Orchester gesehen und darüber, ob sie für das Spielen auf der Milonga geeignet sind oder nicht, dass ich dachte, ich stelle mal eine einfache Check-Liste zusammen. Das meiste davon ist dem erfahrenen Tango-DJ bekannt, aber es kann trotzdem nützlich sein, vor allem für Anfänger-DJs. Bitte lest sie sorgfältig durch und befolgt die Anweisungen:

Zuerst gibt es einige allgemeine Grundsätze, was man nicht spielen sollte, und dann eine Übersicht der Orchester. Hier ist also, was kein Tango-DJ spielen darf:

- Alles aus der Guardia vieja und „Guardia nueva“ vor 1935.

- Alle ‚vergessenen Orchester‘. Sie sind nicht ohne Grund vergessen.

- Alle Tangos nach 1958 - Anmerkung: Mit Ausnahme des einen zeitgenössischen Orchesters, das in dieser Saison gerade en vogue ist. Nur um zu zeigen, dass du ein hochmoderner DJ bist. Für 2018 bist du mit dem Orquesta Romantica Milonguera auf der sicheren Seite.

- Alles Neo, Nuevo usw. (natürlich)

- Alle Candombes. Okay, der Rhythmus ist nett, aber die Texte...

- Alle Foxtrotts. Warum sollte man die Gelegenheit, eine Milonga-Tanda zu spielen, mit Foxtrott vergeuden?

Was die Orchester betrifft, spielt keinen Tango von:

- Basso. Von wem? Eben.

- Biagi (außer mit Ortiz, wenn es sein muss). Im Allgemeinen, wenn ihr Tangos von Biagi spielen wollen, spielt stattdessen D'Arienzo mit Biagi. Milongas und Walzer sind in Ordnung.

- Francisco Canaro (außer vielleicht mit Maida). Zu einfach. Canaro nach 1939 ist noch schlechter. Die Milongas hingegen sind in Ordnung. Walzer nur, wenn man zufällig in Wien auflegt.

- Rafael Canaro. Wenn ihr wirklich euer Leben als DJ riskieren wollt, versucht einen seiner Tangos auf Französisch.

- D'Agostino ohne Vargas.

- Vargas ohne D'Agostino.

- D'Arienzo nach 1944. Ich weiß, dass sie das in Buenos Aires machen, aber seien wir ehrlich, es ist Kitsch. Mit den Instrumentalstücken vor 1945, Echagüe und Mauré kann man nichts falsch machen.

- De Angelis. Die Sänger! Die Geigen! Das Karussell! Nur Walzer sind erlaubt.

- De Caro. Nicht zum Tanzen. Wenn ihr De Caro spielen müsst, spielt De Caro von Pugliese.

- Di Sarli mit Serpa. Und Di Sarli mit Durán. Lasst es einfach. Bleibt bei den Instrumentalstücken, Podestá und Rufino, oder fügt vielleicht Pomar hinzu, wenn ihr eine 50er-Jahre-Statement-Tanda machen wollt.

- Domingo Federico. Einfach nicht gut genug. Außerdem hat Vidal eine nervige Stimme.

- José Garcia. Dieselbe Kategorie wie Federico. Außerdem hat Rojas eine nervige Stimme.

- Firpo. B-O-R-I-N-G. Keine Energie. *schläft ein* Firpo Quarteto: schlimmer.

- Francini-Pontier. Oder Francini ohne Pontier oder andersherum. Passt nur mit Caló.

- Fresedo mit Serpa. Oder jeder Fresedo aus den 50er Jahren. Vorsicht: Fresedo mit Ray ist nur in Europa erlaubt.

Lomuto. Die Milongas sind okay, wenn ihr ‚No Hay Tierra Como La Mia' nicht von Canaro spielen wollt.

- Maderna, und Símbolo Maderna. Geschweige denn, die beiden zu kombinieren. Und kein Merceditas, bitte! Im Allgemeinen tolles Zeug für das Wohnzimmer, nicht für die Milonga.

- Malerba. Knappe Entscheidung, hätte es fast geschafft. Hat es aber nicht. Außerdem ist Medinas Stimme nervig.

- Piazzolla. Nicht zum Tanzen. Und ich sagte doch, kein Nuevo.

- Donato Racciatti. Ich muss zugeben, ich habe eine Schwäche für Racciatti mit Nina Miranda. Zu meiner Verteidigung: Ich arbeite daran.

- Rodríguez. Viele DJs spielen Tangos von Rodríguez, aber sie liegen falsch. Wenn ihr den Drang verspürt, Rodríguez zu spielen, spielt stattdessen d'Arienzo oder Tanturi. Walzer ist gerade noch akzeptabel. Und kein Foxtrott, schon vergessen?

- Rotundo. Ihr wollt doch keine Angeber sein, oder? Und vor allem kein Rotundo mit Ruiz.

- Salamanca. Mein Gott, die Violiiiinen!

- Sassone. Tolle Musik für den Aufzug.

- Varela. Ich meine, wirklich?

Ich hoffe, diese Checkliste hilft. Lasst uns alle die Qualität der Musik auf den Milongas verbessern.“

Auch den letzten Satz würde ich nicht allzu ernst nehmen. Wenn es wirklich darum ginge, könnte man ja bei den Einladungen zu Milongas wenigstens mal ungefähr andeuten, welche Tangorichtung(en) der DJ auflegt. Das ist inzwischen nur noch sehr selten der Fall. Ist ja auch wurscht – halt irgendein antik klingendes Geplürre.

So gut wie nie veröffentlichen die Musiklieferanten ihre Playlists – könnten schließlich von anderen abgekupfert werden… Da muss man schon froh sein zu erfahren, was nicht gespielt wird – und da kommt eine größere Menge Tangokultur zusammen, die man auf diese Weise von den Milongas fernhält.

Dass man sich dann noch als „Retter des Tango-Weltkulturerbes“ aufspielt, ist eine Dreistigkeit sondergleichen!

Stattdessen sollte man sich der Gruppe vernagelter Kulturwächter zugehörig fühlen, die immer mal wieder befanden, was „verbotene“ Musik“ sei – zum Hören und oft auch zum Tanzen:

So erging es einst dem Wiener Walzer, dann dem Tango und anderen „Schiebe- und Wackeltänzen“ im Kaiserreich, der „Swing-Jugend“ im Dritten Reich, dem als „Negermusik“ verunglimpften Rock’nRoll, der ausländischen Popmusik in der DDR, welcher man das Etikett „westliche Dekadenz“ aufklebte. Selbst der Twist bekam Anfang der 1960er Jahre noch sein Fett ab, und wer in muslimischen Ländern tanzt, muss damit rechnen, wegen „Sittenwidrigkeit“ eingebuchtet zu werden. Näheres habe ich schon einmal zusammengestellt:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/06/tanzverbote.html

Da wünsche ich den „traditionellen“ DJs viel Spaß in dieser Gemeinschaft von „Kulturexperten“!

Mir fällt außer dem Tango kein soziales Hobby, dass man mit einer derartigen Flut von Reglements zupflastert – und keine andere Szene, die sich das so widerspruchslos gefallen lässt.

Ich habe in der obigen Verbotsliste jedenfalls eine Menge Ensembles gefunden, welche ich schon zum großen Vergnügen unserer Gäste aufgelegt habe. So kenne ich in meiner nahen Umgebung zwei Damen, welche bei Foxtrotts von Enrique Rodriguez begeistert das Parkett stürmen.

Und das gerade zum Trotz gegen die Teufelsaustreiber am Mischpult!

https://www.youtube.com/watch?v=xim9hjOF4bc

Kommentare

  1. Jaja, mein herzallerliebster Riedl! Es gibt immer wieder doofe Menschen, die meinen, irgendwelche Tangomusik-Shitlisten veröffentlichen zu müssen. Hier ist noch so ein Exemplar dieser Sorte:
    https://milongafuehrer.blogspot.com/2024/02/video-meine-tango-shitparade.html
    Tstststs ....

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    1. Vielen Dank! Auf diesen Quatsch habe ich gewartet, daher antworte ich gerne darauf:
      Die obige "Verbotsliste" schließt eine fünfstellige Zahl von Tangoaufnahmen von den Milongas aus. Mein verlinkter Artikel dagegen nennt 11 Titel, bei denen ich nicht fordere, dass man sie nicht spielen solle - nur bitteschön, nach meinem persönlichen Geschmack, nicht mehr so oft.
      Mein Wunsch nach intelligenteren Gesprächspartnern erfüllt sich wieder einmal nicht!

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