Von Cabeceo und Pfahlsitzen

 

Meine Vermutung, der Schmuck am Handgelenk würde zu größeren Debatten führen, hat sich bestätigt.

Wenn ich mal zusammenfassen darf: Die Aufforderung per Cabeceo, die im Tango hierzulande vor zirka 15 Jahren aufkam, wird seither von den Traditionalisten als die alleinseligmachende Annäherung ans andere Geschlecht gepriesen.

Dennoch wird immer wieder moniert, die praktische Umsetzung (siehe Sitzordnung, Schummerlicht etc.) sei schwierig, Missverständnisse träten öfters auf. Es verstummen auch nicht die Klagen gerade von älteren Frauen, nicht aufgefordert zu werden. Oder von Fremden, die nicht zu einer Clique gehören.

Macht dann jemand einen Vorschlag, das Auffordern für alle zu erleichtern, wird das von den Hütern der Tangotugenden als Angriff auf den heiligen Cabeceo verstanden und sofort attackiert.

So schreibt der Münchner Tango-Grande Carlos von Geldern, dem man Liberalität nun wirklich nicht vorwerfen kann:

„Das rote Bändchen ist völlig überflüssig! Wir brauchen keine neuen Regeln, sondern die Einhaltung der bestehenden. (…)

Im Tango Argentino ‚auf deutsche Weise‘ aufzufordern ist übergriffig (…)

Hilfreich wäre die öffentliche Bekanntgabe ‚hier gelten die Códigos‘  inklusive Aufforderung mit Mirada und Cabeceo. Dann wissen alle Bescheid.

Tangolehrer, Milonga-Veranstalter und Tangotänzer sind aufgerufen, diese wertvolle, weltweit einheitliche, ein Jahrhundert alte Tradition zu vermitteln und einzuhalten. Tango ist ein „Paket“, dass nicht nach Belieben von jedem in jedem Land ‚aufgemacht‘ werden kann.“

https://www.facebook.com/groups/tangomuenchen/permalink/10159898911881186

Merken wir uns also: Kulturelle Aneignung ist Pflicht!

Auch die unter dem Pseudonym „Arthur Dent“ schreibende Kampfdrohne für Recht und Gesetz schreibt: 

„Denn ohne diese Codigos wäre es Anarchie! Was ‚Tango‘ von z.B. Pogo unterscheidet, ist, dass er ein Paar-Tanz ist, und er auf gewissen Regeln basiert. Schritt-Regeln, Tanzrichtung, aber auch den Umgang miteinander. Gerade diese ‚Regeln', ‚allg. akzeptierten Absprachen' ermöglichen erst das *soziale* *MIT*einander auf der Tanzfläche (und nicht nur dort: i.d. Milonga)! Diese Absprachen / Regeln / ‚Codigos' schaffen einen Rahmen von Sicherheit, in der wir uns gemeinsam bewegen.

Und in normalen, modernen Tango Gemeinschaften sollten diese gemeinsamen Regeln *inklusiv* sein! Beschützend auch! (NEE, es kann und darf nicht sein, dass jemand einer anderen Person gegen ihren/seinen/es Willen irgendwo hin grapscht, z.B.) Das, was eigentlich im allgemeinen Zusammenleben schon normal sein sollte!“

Na gut, aber gegen das „Hingrapschen“ gibt es ja schon die Regelungen des Strafgesetzbuchs. Sollte doch reichen…

Die Gegenposition vertritt der ebenfalls nicht für verbale Zurückhaltung bekannte Joachim Beck, der einer Cabeceo-Anhängerin schon mal mitteilt, sie habe „das Problem nicht begriffen“. Mansplaining vom Feinsten! Auch „Quatsch“ oder „Unsinn“ attestiert er anderen Kommentatoren.

Inhaltlich hat er aber – ich muss es zugeben – durchaus recht:

DU bist hier gar nicht angesprochen. Aber es gibt Frauen – Ältere, Schüchterne, Anfängerinnen – die werden in der Milonga einfach übersehen. Die sitzen sich Schwielen am Hintern. Für die ist es eine tolle Sache, wenn ein Mann durch irgendein Zeichen zu erkennen gibt, dass er nix dagegen hat, direkt angesprochen zu werden, so wie es in jedem anderen Tanz – außer Tango – üblich ist. (…)  Es ist völlig OK, wenn Du da nicht mitmachen möchtest, Du musst den mit dem roten Bändel nicht ansprechen  es geht nur darum, dass es für andere Frauen die Möglichkeit gibt. Das muss Dich gar nicht kümmern. Wie Du das lieber hältst, ist davon völlig unabhängig, unwichtig, es betrifft Dich nicht.“

Die angesprochene Dame, welche den Cabeceo als beste aller Welten preist, liefert aber in einem weiteren Diskussionsbeitrag sehr aufschlussreiche Aussagen:

„Ich vermute, dass wir als Gesellschaft ein riesiges Problem haben. Der natürliche Umgang miteinander ist weg. Es gibt viele, viele traumatisierte Menschen, nicht erst seit C, aber seitdem eben deutlich mehr. Und das merkt man natürlich beim Tango. Wie soll das Miteinander funktionieren, wenn ich mit mir selbst nicht klarkomme? Viele haben Scheu bis Angst vor Körperkontakt oder Nähe. Andere können oder wollen die erlittenen Ausgrenzungen nicht vergessen. Wieder andere tanzen nur noch mit bestimmten Leuten, deren Ideologie sie kennen. Ich glaube mittlerweile nicht mehr, dass es mit dem Älterwerden zu tun hat. Wer ein gesundes Selbstwertgefühl hat, kann Brücken schlagen oder mit Situationen umgehen. Wie überall wird auch beim Tango gedeckelt, dass sich die Balken biegen (schon immer!!!). Für mich ist innige, wirkliche Verbindung unmöglich geworden, wenn ich nicht ich selbst sein darf. Und anders mochte ich noch nie tanzen.“

https://www.facebook.com/tom.opitz.77/posts/pfbid0aAwzuiJMuTmo6TTZCTY7tuitJE4qTeCQ6xMt5Jz6TjLQEcDDPa2chAYjFUFcorVzl

Ich beobachte nun das Gedöns um die „heiligen Códigos“ im Tango schon seit mehr als 15 Jahren, habe schätzungsweise 3500 Milongas besucht und hatte sicherlich gut 3000 verschiedene Tanzpartnerinnen.

Von daher kann ich sagen: Das Gefetze ums vorschriftsmäßige Auffordern tobt im Netz weit heftiger als in der Realität. Auf den Tanzabenden wird in sehr unterschiedlicher Weise aufgefordert – vom Cabeceo über ein „angelegentliches“ Gespräch bis hin zur klassischen Tanzschul-Einladung.

Besonders lustig finde ich eine Sitte auf unserer örtlichen Milonga, wo man sich während der Cortina zu einem Pulk abseits der Tanzfläche versammelt. Dann erfolgt irgendwas zwischen „Nah-Cabeceo“ und direkter Ansprache. Nur der DJ fordert konsequent lege artis auf, wobei er sich dem Opfer mit hypnotischem Blick nähert. Sehr unauffällig…

Wenn ich merke, dass es auf einer Milonga recht steif zugeht, kriege ich zum Spaß durchaus mal den Cabeceo hin (erst gestern dreimal). Im Normalfall aber frage ich halt. Aber ich würde mich nie an eine Tänzerin wenden, die von mir überhaupt keine Notiz nimmt. Und wenn ich vermute, der Tanz habe meiner Partnerin nicht gefallen, werde ich sie nicht mehr fragen. Im Zweifel kann sie ja mich auffordern.

Den letzten Korb erhielt ich vor über sechs Jahren. Daher glaube ich, dass meine Strategie ziemlich erfolgreich ist. Und klar, ich bevorzuge Milongas, bei denen es eher locker zugeht. Nicht nur wegen der Abwesenheit verkrampfter Konventionen. Meist ist auch die Musik besser.

Daher lautet mein Appell: Lasst doch jeden und jede auffordern, wie er oder sie will! Wogegen ich mich auch weiterhin wehren werde, sind Zwänge und Vorschriften.

Der obige Text der Cabeceo-Freundin hat mir sehr zu denken gegeben. Ich glaube wirklich, dass es viele zum Tango zieht, die „Scheu bis Angst vor Körperkontakt oder Nähe“ haben. In einer Art „Konfrontations-Therapie“ versucht man dann, die Defizite zu beheben. Nicht nur, dass es selten klappt: Solche Leute bestehen dann auf festen Regeln, um die nötige „Sicherheit“ zu gewährleisten.

Ich stimme der Schreiberin völlig zu: „Wer ein gesundes Selbstwertgefühl hat, kann Brücken schlagen oder mit Situationen umgehen.“ Wer nicht, sollte sich vielleicht doch ein anderes Hobby suchen, statt die Szene mit seinen Obsessionen zu belasten.

Mein Vorschlag wäre Pfahlsitzen. Das läuft in Ostfriesland nach strengen Regeln:

https://www.youtube.com/watch?v=631uotUEEQ8

P.S. Zum Weiterlesen:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/01/die-angstkultur-im-tango.html

 

Kommentare

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