Kein Tanz wie jeder andere?

 Unsere miserable Spezies ist so gestaltet, das die, welche auf ausgetretenen Pfaden laufen, immer Steine nach denen werfen, die neue Pfade wagen." (Voltaire)

Wie nicht anders zu erwarten, hat die Frage eines simplen roten Bändchens am Handgelenk zu den tangoüblichen ideologischen Stellungskriegen geführt. Das Signal „Mich darfst du auch direkt ansprechen, ich gebe keine Körbe“ droht anscheinend die hehre Welt der Tango-Reglements ins Wanken bringen, „Anarchie“ (wörtliches Zitat) könnte ausbrechen!

Es spricht nicht für das gesunde Selbstbild einer Szene, wenn sie durch ein unschuldiges Kleidungsstück ins Wanken geraten könnte – so wie die Machthaber im Iran offenbar fürchten, das Fehlen (oder auch nur zu lockere Binden) eines Kopftuches könnte den islamischen Gottesstaat gefährden.

Ein Dialogsatz auf Facebook hat mir sehr zu denken gegeben. Ein Befürworter der Bändchen-Idee erklärte einer Widersacherin, das müsse sie doch in keiner Weise einengen. Aber für „Ältere, Schüchterne, Anfängerinnen“ sei es eine tolle Sache, wenn ein Mann durch irgendein Zeichen zu erkennen gibt, dass er nix dagegen hat, direkt angesprochen zu werden, so wie es in jedem anderen Tanz – außer Tango – üblich ist. Es gibt diesen Cabeceo-Unsinn nur beim Tango.“

Die antwortete darauf: Tango ist nicht wie jeder andere Tanz.“

Ein Satz, den ich in Variationen schon oft gehört habe. Und ich fürchte, dass viele das glauben. Wenn dem so wäre, müsste der Tango also über Merkmale verfügen, die in keinem anderen Tanz zu finden sind. Welche sollen das sein?

Gerne beschwört man in diesem Zusammenhang die unvergleichliche „Tangokultur“. Sicherlich kam da in über hundert Jahren einiges zusammen. Meine erste Frage wäre aber, wieso man diese, was den Tanz betrifft, nur bis zirka 1960 akzeptiert. Alles danach wird oft als belanglos, wenn nicht gar als Verirrung betrachtet.

Zweitens habe ich die Erfahrung gemacht, dass es mit Interesse für diese Kultur, den Kenntnissen darüber in Wirklichkeit sehr schlecht bestellt ist. Wieviel Prozent der Tanzenden haben eine Ahnung von den wichtigsten Interpreten, Komponisten und Textern der Tangomusik, verstehen zumindest ungefähr, was die Sängerinnen (!) und Sänger erzählen? Haben einen Überblick zu den weltweiten Entwicklungen in diesem Tanz? Fünf von hundert oder weniger? Meine Erlebnisse dazu habe ich schon beschrieben:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/09/die-deutschen-in-der-tangokultur-ratlos.html

Vor allem aber: Haben denn die anderen Tänze keinen kulturell bedeutsamen Hintergrund? Der Wiener Walzer beispielsweise hat seit etwa 1800 eine ganze Epoche geprägt. Was allein die Familie Strauss dazu beigetragen hat, füllt ein langes Kapitel in der Musikgeschichte. Die meisten Standard- und Lateinamerikanischen Tänze entstanden zwischen 1920 und 1950, können also altersmäßig ganz gut mit dem Tanz vom La Plata konkurrieren. Swing und Rock’n‘Roll haben Generationen begeistert, Filme und Musicals von Weltruf beeinflusst. Und was ist mit der mehrhundertjährigen Tradition des Balletts? Hat der Flamenco keine kulturellen Wurzeln? Wie steht es mit dem Einfluss der Popmusik auf den Tanz?

In der Szene beschwört man auch gerne die einzigartige Verbindung, die sich in der Umarmung („Abrazo“) des Tango offenbare. „Auseinandertanzen verboten“ gilt auf vielen Milongas ebenso wie bei den FDJ-Clubabenden in der einstigen DDR. Tatsächlich dürfte der Tango der einzige Tanz sein, bei dem man ein Hilfsmittel zur paarweisen Bewegung derartig hochstilisiert. In der Praxis hat man oft den Eindruck, dass es weitgehend dabei bleibt. Für größere tänzerische Aktionen wird man eher angefeindet. Man könnte inzwischen durchaus fragen, ob manche Umarmung am Platz noch als Tanz bezeichnet werden solle!

Motto. Let  the Music shine"...

https://www.youtube.com/watch?v=nLeYyG5HIsc

Der Abrazo wird oft geradezu als Eintrittspforte zum höheren Menschsein verkauft. Hat das einen liebevolleren Umgang als bei anderen Tänzen zur Folge? Nach meinem Eindruck: nein. In vielen Szenen dominieren Hierarchien, Ausgrenzung und böse Konflikte hinter der Fassade der „Bussi-Gesellschaft“. In den anderen Tanzgemeinschaften gelten Tangoleute oft als arrogant und elitär. Unser Tanz ist durchaus in Gefahr, in dieser Hinsicht „anders als alle anderen“ zu werden!

Das zeigt sich auch darin, dass manche Tangovertreter zumindest in den sozialen Medien Schaum vor dem Mund entwickeln, wenn sie mit anderen Tanzarten – vor allem im Standard – konfrontiert werden. Respekt vor abweichenden Auffassungen tänzerischen Tuns ist da Fehlanzeige. Man betreibe im Tango schließlich Kunst statt Sport! Ich fürchte: weitgehend weder das eine noch das andere.

Gerne nimmt man für unseren Tanz in Anspruch, jedes Stück sei anders und müsse daher auch speziell interpretiert werden. Angesichts des musikalischen Angebots auf vielen Milongas hält sich das Anderssein in engen Grenzen: Weitgehend werden recht ähnliche Stücke aus einer zwanzigjährigen Epoche geboten. Schon daher kein Wunder, dass unterschiedliche Tanzweisen kaum erkennbar sind. Reines Kabarett bilden dann noch Angebote, in 90 Minuten zu einem bestimmten Orchester (oder gar zu mehreren) tanzen zu lernen.

Und ich kenne keinen anderen Tanz, bei dem die Paare sich nicht ab dem Anfang der Musik bewegen, anstatt mindestens die erste halbe Minute zu verquatschen.

Am schönsten finde ich die Mär vom „reinen Improvisationstanz“. Sicherlich würde die Fülle des musikalischen Angebots aus über hundert Jahren zu individueller, spontaner Gestaltung einladen. In vielen Kursen bietet man jedoch – durchaus vergleichbar mit „normalen“ Tanzschulen, Schrittkombinationen an. Wobei die ADTV-Tanzlehrkräfte immerhin noch Technik und Figuren der 10 Tänze des Welttanzprogramms vermitteln müssen.

Was dann auf dem Milonga-Parkett an „Improvisation“ geboten wird, ist ebenso dürftig wie bei den Ehepaar-Tanzkreisen der üblichen Tanzschulen, wo die Akteure halt das gelernte Figuren-Repertoire heruntertappen. Zudem wird im Tango die Gestaltung noch durch „Ronda-Regeln“, „Beinhebe-Verbote“ und ähnlichen Schwachsinn eingeschränkt.

https://www.facebook.com/reel/370078972331389

Sicherlich hätte der Tango durch die Fülle seiner musikalischen Anregungen etliche Alleinstellungsmerkmale. Man könnte, wie es Manuela Bößel neulich in unserem Gespräch sagte, „mehrere Gefühle gleichzeitig“ tanzen, Ambivalenzen erkunden, die Zerrissenheit einer großen Zahl von Tangostücken darstellen, die zu individueller Darstellung einladen. Nur müsste man sie dann auch auflegen, was tunlichst vermieden wird. Was bleibt, ist Tango als „11. Standardtanz“ mit Kuschelgarantie. Was mich und andere vor vielen Jahren zu diesem Tanz zog, findet man heute nur noch in seltenen ökologischen Nischen.

Klar. Wer’s mag, soll es beim Mainstream-Tango belassen. Nur könnte man sich dann die vollmundigen Sprüche vom „völlig andersartigen“ Tanz abschminken und das elitäre Getue vergessen. Und übrigens: Kein Tanz ist wie der andere – alle beruhen auf unterschiedlicher Musik, speziellen Techniken und einem besonderen kulturellen Hintergrund. Da bildet der Tango keine Ausnahme – mehr ist er aber nicht.

Als ich das Thema heute mit einer Tangofreundin besprach, meinte die:

„Das Besondere am Tango ist das Gedöns.“

Kommentare

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.