Paragraphos wohl einstudiert
„Wenn allerdings Gerhard aus Bequemlichkeit (weil er seit einem Jahrzehnt keinen Tangounterricht mehr nimmt) nun gegen Teile der Gemeinschaft der Tangotanzenden anschreibt, die sich in den letzten Jahren weiterentwickelt haben und nach meiner Wahrnehmung seine Unterstellungen mit einem obskuren Satirebegriff kaschiert, dann erinnert mich das eher an pubertäres Verhalten, als an eine sachliche Diskussion.“
https://milongafuehrer.blogspot.com/2017/07/nahfeld-mirada-und-cabeceo-stalking.html
Neulich las ich ein Veranstaltungs-Angebot, das inzwischen typisch für den Tango ist. Besonders schön fand ich aber die Überschrift – allein eine Satire wert:
„Buenos Aires-Flair in Kempten!“
Zweifellos gibt es kaum eine heftigere kulturelle Aneignung, als das bodenständige Allgäu mit einer glitzernden Latino-Parole aufzuhübschen. In meinem Tangobuch habe ich es so formuliert:
„Tanzen wie auf den Milongas in Buenos Aires in Hintergwemfting, Bräuroselgasse 14“
Als Satiriker muss man sich im Tango schon große Mühe geben, nicht von der Wirklichkeit überholt zu werden!
Angekündigt wird die mehrwöchige Niederkunft einer „Profesora y Bailarina de Tango“ – klingt natürlich besser als „Tangolehrerin und Tänzerin“. Natürlich verfügt sie über ein „umfassendes Tango-Wissen,- Können und jahrzehntelange Erfahrung“. Weiterhin ist sie auch Künstlerin. Sogar für ein Abendessen kann man reservieren, um „mit ihr über die Tangowelt zu plaudern“.
http://www.gotango-kempten.de/index.php?page=kurse-und-workshops
Besucht man die Website der „Vollblut-Tanguera“, wird es noch heftiger:
„Meine studien
Argentinien, professor für Körperausdruck, Pädagogik von Jean Piaget und Erziehungswissenschaften. Ich habe Gesang, Schauspiel, Afro-Lateinamerikanische Musik, Brasilianische Volkstänze, Pädagogin der ‚Feldenkrais-Methode‘, Selbsterfahrung durch Bewegung‘ Somatische Bildung studiert“
https://amira-tango.com.ar/de/home-page-de/
Nun will ich dies alles durchaus glauben – und die Dame hat sicherlich viel Ahnung vom Tango und kann wohl sehr gut tanzen. Nur: Warum hat sie dann eine derartige Beeindrucke nötig? Etwas verstörend finde ich auch, dass sie den Namen einer ihrer Lehrer, „Gustavo Naviera“, falsch schreibt.
Irgendwie fürchte ich in solchen Fällen, es werde von den Lernenden erwartet, dass sie das Übungsparkett auf allen Vieren betreten sollten. Na gut, dann muss man es nicht extra wischen…
Auf dem Tangomarkt sammelt sich inzwischen ein riesiges Angebot von Kursen, Seminaren und Workshops, meist zu recht ordentlichen Preisen. Und die argentinische Herkunft von Lehrkräften wird stets als schlagendes Argument eingesetzt.
Wenn es danach geht, müsste sich auf den Milonga-Pisten heute eine qualitative Spitzenauswahl tummeln. In Wirklichkeit sehe ich davon kaum etwas. Stattdessen oft sehr einheitliche, überschaubare Grundelemente, welche nicht gerade tänzerisch interpretiert werden und die Musik, wenn überhaupt, als reinen Taktgeber benutzen. Was zu vielen langweiligen historischen Aufnahmen ja irgendwie passt…
Was ich im Internet dazu lese, kommt fast immer aufs Selbe heraus: Um Tango zu lernen, hat man Kurse zu belegen und seine Fähigkeiten auf diversen „Workshops“ zu verfeinern. Und je berühmter und exotischer die Lehrkraft, desto wirksamer die Besprenkelung mit argentinischem Weihwasser. Und dieser Zauber macht aus einem Anfänger einen routiniert Tanzenden. Quasi „Tanguero ex machina". Und wenn man nicht zumindest für ein paar Wochen in Buenos Aires weilte, kann man eh nicht mitreden.
Ich darf schon einmal zart darauf hinweisen, dass der Erfolg jeden Unterrichts nicht nur von den Lehrenden, sondern mindestens ebenso von den Lernenden abhängt. Selbst falls also die Instruktoren von bester Qualität wären (dieser Beweis steht noch aus), nutzt das gar nichts, wenn die Schülerinnen und Schüler pro Woche lediglich ein, zwei Unterrichtsstunden nehmen und sich dann einbilden, sie würden dadurch viel dazulernen.
Schön finde ich die Videos, in denen das Lehrerpaar zum Schluss eine Zusammenfassung des Kursinhalts vortanzt und fast alle das dann per hochgehaltenem Smartphone abfilmen.
Mich erinnert das an die „Schülerszene“ im „Faust“, in der Goethe ziemlich bitterböse mit einer Art von Wissenschaft abrechnet, die nur im Kopieren und Nachbeten besteht.
Mephisto:
„Habt Euch vorher wohl präpariert,
Paragraphos wohl einstudiert,
Damit Ihr nachher besser seht,
Dass er nichts sagt, als was im Buche steht;
Doch Euch des Schreibens ja befleißt,
Als diktiert Euch der Heilig Geist!“
Schüler:
„Das sollt Ihr mir nicht zweimal sagen!
Ich denke mir, wie viel es nützt
Denn, was man schwarz auf weiß besitzt,
Kann man getrost nach Hause tragen.“
Und heute kann man die tolle Tangofigur sogar in Farbe mitnehmen! Die wird wohl oft genug im häuslichen Videoarchiv abgespeichert. Fertig! Dass man eine solche Bewegungsfolge viele Male daheim probieren müsste, um zu erkennen, wie man sie auf den eigenen Tangostil hin variieren, sie immer wieder auf den Milongas versuchen müsste – noch dazu mit verschiedenen Partnern… Forget it! Lieber besucht man einen neuen Workshop mit dem nächsten tollen Thema.
In Kursen und Workshops bekommt man etwas gezeigt – um das zu erlernen, muss man es zu Hause im Wohnzimmer und vor allem auf dem Milongaparkett wieder und wieder probieren!
Daher ist es meiner Meinung nach ziemlich egal, ob man als Anfänger Rückwärtsochos bei einem argentinischen „Maestro“, beim Tangolehrer um die Ecke, durch Betrachten eines Lehrvideos oder privat mit einem geübten Partner erlernt. Tangolehrkräfte benutzen zu Unrecht den alleinseligmachenden Nimbus. Entscheidend ist lediglich, was man dann selber aus dem Vermittelten macht.
Unter den vielen Tänzerinnen, die ich kenne, haben manche den Tango in längeren Kursen erlernt, andere höchstens anfänglich für kurze Zeit, und einige haben noch nie einen Tangounterricht von innen gesehen, sondern allein durch die Tanzpraxis auf den Milongas gelernt. Erstaunlicherweise tanzen die ohne viel konventionelle Ausbildung oft erheblich besser.
Dabei will ich den Lehrenden nicht pauschal unterstellen, dass sie alles nur schlimmer machen – obwohl ich auch solche Beispiele kenne. Vielmehr erfordert halt ein Lernen außerhalb der konventionellen Pfade eine gewisse Begabung, vor allem aber Fleiß und einen starken Willen. Kurz gesagt: tänzerische Leidenschaft.
Ich will aber niemand davon abbringen, den einen oder anderen Lehrgang zu belegen. Jeder und jede lernt anders. Nach der Investition von einigen hundert Euro sollte man aber einmal selbstkritisch überlegen, ob es das Geld wert war – und woran es liegt, wenn dies nicht der Fall sein sollte.
Persönlich habe ich schon vor langer Zeit erkannt, dass ich auf den Milongas mehr lerne als im Unterricht. Mit „Bequemlichkeit“ hat das nichts zu tun – im Gegenteil.
Und nochmal: Die argentinische Herkunft einer Lehrkraft sagt genau nichts darüber aus, ob er oder sie im Tango etwas vermitteln kann. Ebenso wenig schillernde Titel oder die Aufzählung gehabter Lehrer. Auch nicht, wie gut diese Leute selber tanzen.
Im „Faust“ ahnen wir, dass es bei dem von Mephisto genasführten Schüler nichts mit dem Studium wird. Die Parallelen zum Tango finde ich faszinierend. Auch da werden oft genug nur „Paragraphos wohl einstudiert“.
Und hier noch die „Schülerszene“ in der legendären Inszenierung von Gustaf Gründgens (1960). Welttheater vom Feinsten:
https://www.youtube.com/watch?v=OQpKwZCRdQk https://www.youtube.com/watch?v=N36uQlpnc_s
Mal eine offtopic-Frage: Ist der Herr im Bild links der junge James Kirk?
AntwortenLöschenNein, das ist Uwe Friedrichsen, dem Fernsehpublikum vielleicht noch bekannt als Zollfahnder in der Serie "Schwarz Rot Gold".
LöschenUnd jetzt was Inhaltliches. Klar, auf Milongas vertieft man Dinge und macht sie praxistauglich. Auf einer mittelvollen Piste fallen schon mal ca. 50% der üblich verdächtigen Moves wegen Platzmangel flach. Speziell wenn man sie im Kurs "groß" gelernt hat, das Kleinermachen geht meist, braucht aber auch Training.
AntwortenLöschenAaaber: Nur learning by Milonga-Doing ist horizont- und techniktechnisch sehr verlustreich und kann leicht tief im eigenen Saft enden. Ladies können sich das noch am ehesten leisten, sie kriegen ja auch so Neues - Männer eigentlich nicht. Ab und zu ein bißchen Kurs - muß nicht bei Big Names sein, das wäre nur so eine Art Kirsche auf dem Kuchen - sollte schon sein, als Schutz gegen das Verlottern und auch für gelegentlichen frischen Wind im Werkzeugkasten.
Ich bevorzuge Milongas, bei denen ich genug Platz zum Tanzen habe. Wegen meines eigenartigen Musikgeschmacks gelingt mir das oft. Ansonsten: Leider unterrichtet man in den üblichen Kursen viel zu wenig das Navigieren.
LöschenWas "Learning by Doing" betrifft: Klar braucht man am Anfang jemanden, der einem Grundbewegungen beibringt. Ob dies nun ein Tangoelhrer tut oder ein erfahrener Tanzpartner, halte ich für zweitrangig.
Ansonsten habe ich das Meiste mit sehr guten Tanzpartnerinnen gelernt, die mich auch immer wieder auf neue Ideen brachten. Und wenn die Kommunikation passt, kriegt man sehr schnell mit, falls man schlampig oder uninspiriert tanzt.
Aber wer's braucht, kann sich natürlich auch bei einer Lehrkraft frische Ideen besorgen - sollte die welche haben...