Die ewige Kontroverse
Gestern fand ich auf Facebook einen sehr interessanten Text. Er scheint schon mehrere Jahre alt zu sein – und leider fand ich weder konkrete Angaben zum Autor noch sonstige Herkunftsnachweise. Der Titel: „Die ewige Kontroverse: Was ist Tango und was nicht?“
Ich habe den Beitrag aus dem Englischen übersetzt.
Da der Artikel ziemlich lang ist, habe ich Unwesentliches weggelassen und einiges zusammengefasst. Unter dem Link am Schluss findet man die vollständige Version.
„Natürlich ist das immer etwas Persönliches, und wenn wir über Kunst sprechen, gibt es keine objektiven Kriterien, an die wir uns halten könnten. (…)
Der Autor spricht die inzwischen boomenden Tango-Meisterschaften an:
„In diesen Kulturen, in denen der Tanz eher als Sport und selten als künstlerische Ausdrucksform wahrgenommen wird, sind die Auswirkungen wahrscheinlich noch stärker. Man hört oft Kommentare wie ‚und jetzt das beste Tangopaar Europas‘ oder ‚die besten Bühnentänzer der Welt‘. Aber kann man ernsthaft den Gewinner von ‚Pop Idol‘, ‚The Voice‘ oder anderen Fernsehshows als den besten Sänger des jeweiligen Landes bezeichnen?
Das soll nicht wie eine Abwertung der Teilnehmer und vor allem nicht der Gewinner klingen. Ich erkenne an, dass viel Arbeit, Opfer und Talent dahinterstecken, und manchmal sehe ich auch brillante Technik. Aber um einen Sport zu etablieren, muss man objektive Kriterien schaffen, ein System, das die Entscheidung unterstützt, und selbst wenn wir die Jury als völlig objektiv akzeptieren (und ich füge vorsichtig hinzu: nicht darüber sprechen, wer von der Jury Privatunterricht bei wem genommen hat...), sollte Kunst etwas viel Bunteres, Aufregenderes und Persönlicheres sein. Zumindest würde ich mir das selber wünschen.“
Der Verfasser sieht diese Aktivitäten nicht als den einzigen Weg zum Tango. Zu den vielen Debatten im Netz meint er:
„Im Tango gibt es immer viele Gruppen von Menschen, die unterschiedliche Meinungen darüber haben, was Tango ist und was nicht. Wenn man auf Youtube geht, sieht man die erstaunlichsten Darbietungen der besten Tänzer der Welt, und dann findet man sicherlich einige Kommentare darüber, warum es nicht korrekt ist, was sie tun, oder sogar, dass sie keinen Tango tanzen. Sie sollten ihre Schritte mehr auf dem Boden halten, die Haltung ist nicht elegant genug, zu viele Verzierungen, zu musikalisch, nicht musikalisch genug, es sollte immer eine geschlossene Umarmung sein, ihre Kleidung ist hässlich, ihre Schuhe sind hässlich, Salon ist das Beste, oder im Gegenteil: Salon ist nur Business (…)
Oh mein Gott, so viele dumme, ahnungslose Kommentare! Und dann ertappt man sich selbst dabei, dass man etwas mag und andere Dinge nicht mag, und es ist schwer zu erklären, warum. Ich glaube nicht, dass wir zwei Personen finden können, die sich völlig einig sind, was Tango ist.
Ich denke, in allen Kunstformen (…) gibt es eine Tendenz, nach etwas Neuem und Interessantem zu suchen, und wenn es dann etwas völlig Extremes und Verrücktes wird, kehren die Künstler zu dem zurück, was sie für ihre Wurzeln halten, und versuchen, etwas Klassisches, Traditionelles zu machen, bis es langweilig wird und dann eine neue Revolution kommt und so weiter.“
Der Schreiber weist auf die Ursprünge des Tango hin:
„Irgendwie war er am Anfang ein unschuldiger, instinktiver Volkstanz. (…) Damals gab es noch keinen Beruf, keine Technik, keine ausgebildeten Lehrer, natürlich auch keine Lehrmethoden. Es war ein Tanz der einfachen Leute. Es gab jedoch einen Unterschied, er war ein städtischer Volkstanz (…) Eine Stadt voller Einwanderer, die ihre Musik, ihre Kultur, ihre Rhythmen mitbrachten. Arbeiter, einfache Leute, Sklaven, vielleicht Prostituierte... Eigentlich schon irgendwie ein Mix der Kulturen, ein Austausch zwischen Europa und Amerika. Vielleicht ist das der Grund, warum er weltweit so populär werden konnte.“
Als eine der wichtigsten Veränderungen sieht der Autor die „Revolution“ des „Nuevo“ am Anfang der 1990er Jahre:
„Was ist dann aus dem Tango geworden? Wahrscheinlich haben viele der Kinder unserer neuesten Ära, die Fanatiker des traditionellen Tangos (ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich so gut über die Traditionen informiert sind), nur diesen Eindruck von großen, übertriebenen Bewegungen, schrecklicher offener Umarmung (die ihrer Meinung nach nicht so ratsam ist), seltsamer Kleidung, Musik, die oft kein Tango ist. Sie wären überrascht, dass die Art und Weise, wie sie tanzen möchten und wie sie den Tango jetzt sehen, wie sie über ihn denken, hauptsächlich auf diesen Prozess zurückzuführen ist. Also, ich habe ein paar Neuigkeiten für die puristischen und religiösen Saloneros... ihr seid stark vom Nuevo beeinflusst. :)
Ich möchte an dieser Stelle anmerken, dass diese Art von verrückten Kämpfen natürlich nicht zwischen den Profis stattfindet (…) Der große Streit herrscht immer zwischen Leuten, die noch nicht genug Informationen haben.
Die Revolution hat stattgefunden, weil drei Menschen den ‚Beruf‘ des Tangos im Wesentlichen geschaffen haben. Natürlich gab es viele andere, die zu diesem Prozess beigetragen und sie auf ihrem Weg begleitet haben. Diese drei Personen waren Gustavo Naveira, Fabián Salas und Mariano Chicho Frúmboli.
Es muss so etwas wie die literarische Moderne gewesen sein, eine revolutionäre Atmosphäre, Hunderte von neuen Ideen, Experimente, eine brennende Leidenschaft, die sich ausbreitete und alle erfasste. Sie begannen zu denken. Sie wollten verstehen. Sie wollten eine Struktur hinter dem Instinktiven finden. Sie schufen Regeln und Techniken, analysierten Möglichkeiten und Musik. Und dank dessen konnten beeindruckende neue Dinge entstehen. Andere Genres konnten helfen, mehr Wissen hinzuzufügen. Sie schufen das Professionelle. Die unschuldige Form des Tanzes wurde hinter sich gelassen, eine Tür öffnete sich und sie gaben uns eine neue Welt mit unendlichen Möglichkeiten. (…)
Tango ist ein wunderschöner Tanz. Es gibt zahlreiche Stile, Sichtweisen, er bietet genug Raum für die unterschiedlichsten Künstler. Es ist jetzt viel einfacher, ihn zu lernen und ein fantastischer Gesellschaftstänzer zu werden. Es gibt viele talentierte Profis mit neuen, frischen Ideen. Geschmäcker und Trends ändern sich ständig, und es wird immer Dinge geben, die uns gefallen und andere, die wir nicht mögen. Aber ich wünsche mir, dass der Tango bunt, interessant und kreativ ist. Ich würde ihn gerne als Kunst sehen und nicht nur als Sport. Es ist immer einfacher, dem Strom zu folgen, den gleichen Look zu haben, die gleiche Frisur, die gleichen Anzüge und Krawatten, Farben und Schuhe. Dieselbe Körperhaltung, dieselben Schritte, dieselbe Musikalität.
Wahrscheinlich führt das auch kurzfristig zu mehr Erfolg. Immerhin gehört man irgendwo dazu. Und es kostet dich auch viel weniger Energie. Aber mit Sicherheit ist es viel weniger interessant. Charakter und Persönlichkeit, das ist es, was ich gerne sehen würde. Wie die alten Milongueros, die nicht mehr unter uns sind, zu sagen pflegten: ‚Buscá tu propio tango‘ – Finde deinen eigenen Tango.“
Quelle: https://www.facebook.com/notes/2898883873678010/
Meiner Ansicht nach spricht der Autor ganz wesentliche Punkte an:
Nach meinen Erfahrungen im Standardtanz siehe ich die vielen Tangowettbewerbe ebenfalls kritisch. So sehr man Einzelleistungen bewundern kann – letztlich fordert ein sportlicher Wettkampf Normierungen. Und davon hat der Tango eh schon mehr als genug! Und Meisterschafts-Titel werden dann zur Werbung verwendet, obwohl sie nichts darüber aussagen, wie sich die Lehrqualität solcher Paare ausnimmt.
Und ja – der Tango verwandelte sich im Lauf seiner Entwicklung vom instinktiven „Volkstanz“ zu einer stark verwissenschaftlichen Sparte. Viele Debatten und auch Lehransätze sind verkopft und lenken vom „Bauchgefühl“ ab, das für mich der entscheidende Motor unseres Tanzes ist.
Was der Verfasser zum Schluss anspricht, versuche auch ich seit Jahren zu thematisieren: Der heutige Tango wird von einer Mainstream-Welle planiert. Das Schlimmste ist es, anders zu tanzen als die anderen. Landauf, landab sieht man auf den Milongas dieselben Umarmungen, fast identische choreografische Elemente. Das Ganze eingezwängt in viele Regeln und Vorgaben. Buntheit und Vielfalt gehen verloren.
Aber es ist stets der eigene Tango, der zählt: Buscá tu propio tango!
Doch lassen wir zum Schluss Fabián Salas und Carolina del Rivero vortanzen. Hier kann man wirklich von einem persönlichen Stil sprechen:
https://www.youtube.com/watch?v=-nt-iM0bntc
Und weil ich mich nicht zwischen den beiden Videos entscheiden konnte, gibt es das andere auch noch:
https://www.youtube.com/watch?v=-lAwCX9b94M
Kommentare
Kommentar veröffentlichen