Wege zum Beinahe-Cabeceo

 

Worüber man beim Tango auch diskutiert – früher oder später führt das zum Auftritt entschlossener Cabeceo-Verfechter, welche gegen den Sittenverfall auf den Milongas wettern. Mich erinnert das an DDR-Zeiten, wo letztlich auch jedes Problem – ob fehlende Südfrüchte oder Auto-Ersatzteile – bei der Grundfrage des Marxismus-Leninismus endete. Und hier wie dort wusste der Eingeweihte: Wenn man jetzt nicht einlenkte, wurde es gefährlich.

Und das, obwohl die Geschichte in beiden Fällen lehrt, dass die reine Ideologie bei Kollision mit der Praxis zu höchst unbefriedigenden Zuständen führt. Im Falle der aufforderungsmäßigen Kopfnick-Einladung zu jeder Menge Missverständnissen und Unsicherheit: Hat er jetzt wirklich geguckt? Schaut die nun absichtlich weg oder hat sie meinen Blick schlicht nicht bemerkt? Wo ist meine Brille? Fragen über Fragen…

Daher bin ich der Überzeugung, dass die kulturelle Aneignung der argentinischen Sitte hierzulande in erster Linie Tänze verhindert, die ein klärendes Wort ermöglicht hätte. Allmählich kommt mir der Verdacht, dass die Apologeten der Blickelei vor allem deshalb auf Tango stehen, weil man dann mit einer größeren Zahl von Menschen nicht tanzen muss.

Na ja, wenn ich übliche Milongas besuche, die Musik höre und auf das Parkett schaue, erscheint mir dieser Wunsch manchmal ziemlich nachvollziehbar…

Ich glaube, wenn Mirada und Cabeceo wirklich problemlos funktionieren würden, wären sie auf den Tangoveranstaltungen längst selbstverständliches Allgemeingut. Nach meinen Erfahrungen ist das nicht der Fall.

Hundertprozentig wird das Ganze wohl höchstens auf den Sekten-Versammlungen befolgt, die man „Encuentros“ nennt. Klar, dort sorgt schon eine glaubensmäßige Selektion dafür, dass nur ideologisch Hundertprozentige teilnehmen. Typischerweise sitzen einander dort Frauen und Männer gegenüber, für freie Sicht sorgt während der Cortina die völlige Räumung des Parketts sowie eine OP-Spezialbeleuchtung. Und Abweichler werden nicht mehr eingeladen.

Für Anfängerinnen und Anfänger habe ich bereits vor Jahren eine genaue technische Beschreibung der orthodoxen Tango-Einladung verfasst. Und als „Hardcore-Cabeceo-Verweigerer“ (was übrigens nicht stimmt) weiß ich sehr genau, wovon ich spreche. Lernen Sie also beim Experten:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/10/kontakt-linsen-fur-anfanger.html

Auf den üblichen Tangoevents sehe ich dagegen eine bunte Mischung aller möglicher Aufforderungsarten. Lustig finde ich aber, dass man aus Angst vor tangopolitischen Verwerfungen die offensichtliche verbale Aufforderung (wie in der Tanzstunde) vermeidet. Man läuft ja stets Gefahr, sich bei solchem Tun einen fetten Korb à la „Ich lasse mich nur mit Cabeceo auffordern“ einzuhandeln – und in der Folge von den Orthodoxen gemieden zu werden.

Wobei diese Furcht nach meinen Erfahrungen höchst theoretisch ist. Wegen des häufig herrschenden Männermangels sind die Frauen oft froh, überhaupt aufgefordert zu werden – egal wie. Umgekehrt haben die Damen allerdings eher die Arschkarte gezogen, falls sie sich nicht entschließen, auf Opfer ihrer Begierde direkt zuzugehen. Und ja – nach Art. 3 (2) Grundgesetz dürfen sie das! Auch wenn es manche Herren anders sehen.

Mir ist es jedenfalls noch nie passiert, dass mir jemand einen Tanz mit der Begründung einer Regelverletzung verweigert hätte – mehr noch: Ich kriege kaum Körbe. Wahrscheinlich deshalb, weil ich nie eine Frau auffordern würde, die mich überhaupt nicht beachtet. Beispielsweise, weil sie zu einer Clique gehört, die nur untereinander tanzt. Mag sein, dass ich das manchmal falsch einschätze und durchaus Chancen hätte. Aber es ist ja jeder Tänzerin unbenommen, mich zu fragen. Vor einer Ablehnung wäre man sicher.

Was für mich ebenso feststeht: Das ganze Getue um die Aufforderungsriten hat dazu geführt, dass eine steigende Zahl von Paaren fast nur miteinander tanzt. Oft wohl als Folge einer „Cabeceo-Phobie“. Und wenn, dann führt die immer wieder zu lustigen „Beinahe-Cabeceos“:

Ich erlebe oft Tänzer, welche scheinbar absichtslos das Terrain durchstreifen und sich dann in der Nähe einer Tanguera postieren, um ihr schließlich auf kurze Distanz fordernde Blicke zu senden, oft verbunden mit einer einladenden Handbewegung – sozusagen ein „Gestoceo“. Oder sie nähern sich mit fesselndem Blick, bis die Dame endlich kapiert, was auf sie zukommt. Könnte man „Hypnoceo“ nennen…

Gelegentlich beobachte ich auch während der Cortina eine Art „Rudelbildung“ abseits der Sitzplätze, sodass sich die Paare dann auf nächste Nähe bilden. Keine Ahnung, ob mit Blickkontakt oder leiser Ansprache – ich mische da nicht mit. Oder der Herr stellt sich während der Zwischenmusik bereits neben die Auserwählte, was Nebenbuhler davon abhält, sich einzuschalten.

Sehr bekannt ist auch die männliche Strategie, sich neben die erwünschte Dame zu pflanzen und sie besinnungslos zu quatschen. Wenn dann eine Musik erklingt, die er für machbar hält (und das kann dauern), fordert er sie auf – mit hundert Prozent Erfolgsgarantie. Wahrscheinlich schon deshalb, weil sie froh ist, dem Gesabbel zu entkommen – was sich oft als Irrtum herausstellt: Er redet auf dem Parkett weiter. Auf jeden Fall zieht er eine Tänzerin so für eine geschlagene Stunde aus dem Verkehr.

Gelegentlich ergreifen auch Frauen diese Option, wobei sie schlauerweise oft „über Bande“ spielen und sich angelegentlich nicht mit mir, sondern meiner Partnerin unterhalten. Zeige ich nicht das gewünschte Interesse, schwirren sie nach einiger Zeit wieder ab.

Ich glaube, diese seltsamen Blüten müsste der Tango nicht treiben, wenn man den ganzen Krampf um die ach so wichtigen Regeln und Gepflogenheiten ließe und stattdessen lockerer miteinander umginge.

Aber gut, Ideologen glauben nun mal, das Lebensglück wäre von einer politischen Doktrin abhängig. So wie bei der der „Frage an Radio Eriwan“: „Was kann ich als treues Parteimitglied gegen meine Impotenz tun?“ Antwort: „Wickle das gute Stück in die ‚Prawda‘, denn in der Prawda steht alles!“   

P.S. Und hier noch drei Tipps aus dem unverkrampften Teil der Tanzwelt:

https://www.youtube.com/watch?v=utY-A_-xzsg

Kommentare


  1. Sehr geehrter Herr Riedl,
    zu diesem leidigen Thema erinnere ich mich an eine Studie, die ich vor Jahren in einer Zeitschrift über kommunikative Missverständnisse zwischen Mann und Frau entdeckte.
    In einem Versuch wurden junge, hübsche Frauen in einer Discothek angewiesen, ein paar jungen Männern in die Augen zu blicken und auf Gegenreaktion mit Blickentgegnung zu warten.
    Naturgemäß ist es in einigen westlichen Gesellschaften normal, dass Blicke, die nur diesen gewissen kurzen Augenblick andauern, natürlich sind und keine Kontaktaufnahme signalisieren. Dauert dieser Blick etwas länger, könnten er für die meisten zumindest als ein gewisses Interesse an der eigenen Person gedeutet werden.
    In dieser Studie wurden diese Damen nun angewiesen, ein paar junge Männer öfters und länger als diesen besagten Augenblick anzuschauen, also mit einer „mirada“.
    Nach diesem Versuch wurden diese kontaktierten jungen Männer befragt und die Antworten waren sehr bezeichnend:
    1-maliger Blickkontakt bedeutete für die Jungs, „vielleicht hat sie Interesse an mir“
    2-malig hieß dann schon „sie will es…“
    3-malig „es ist sicher, dass sie mich will“ - 4-malig „wohin gehen wir heute Nacht - zu ihr oder zu mir?“
    Und dass, obwohl diese Damen noch kein Wort mit ihnen geäußert hatten.

    Dass sich nun diese natürliche, nonverbalen - aber auch nützliche - Kommunikation von „mirada & cabeceo“ zu einem katechetischen Instrumentarium der Aufforderung entwickelt hat, wobei man doch, mit etwas Geschicklichkeit, auch auf viele andere Kommunikationsmittel zugreifen kann, amüsiert mich.
    Vor allen Dingen, dass sie zu einem außergewöhnlichen, nur in der Tangowelt praktizierten Kommunikationsmittel hochstilisiert wird.
    Eigentlich sind diese Mittel für einigermaßen kommunikativ bewanderte Menschen nicht erwähnenswert. Man könnte in der Tangoszene auch ebenso Kurse für geschickte, nicht-verletzende verbale Ausreden bei der verbalen „Korbverteilung“ anbieten; das wäre vielleicht sogar hilfreicher.

    Aber, dass der „cabeceo“ nun zu Rudelbildung und andere negativen Auswüchsen verholfen haben soll, kann ich nicht bestätigen. Ich finde es aber außerdem entspannender, wenn ich zu meinen normalen Aufforderungsmöglichkeiten eine weitere bekommen habe.
    Außer vielleicht, dass es einigen nicht so gefragten Tänzer*innen nicht mehr ermöglicht, direkt gewünschte Partner/innen anzusprechen.
    Dass in einer Milonga grundsätzlich aber eine Pflicht bestehen soll, alle Frauen aufzufordern, erschließt sich mir nicht. Wünschenswert und nett wäre es dagegen schon. In Sizilien scheint es, laut Auskunft einer befreundeten, älteren Dame jedoch völlig normal zu sein.

    Allerdings verstehe ich eines nicht, Herr Riedl, wenn Sie doch „mirada & cabeceo“ so entspannt umgehen können, warum Sie dann seit mehreren Jahren dieses Thema immer wieder hier behandeln.
    Gehen Ihnen die Themen aus?
    Ich finde Ihre Dauerschleifen über dieses Thema genauso verbissen, wie die Argumente der vernagelten Befürworter dieser Praxis.
    Mit freundlichen Grüßen
    Klaus Wendel

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    1. Lieber Herr Wendel,

      beim Vergleich meines Blogs mit denen anderer finde ich die Frage, wem die Themen ausgehen, sehr spaßig. Meine Erfahrung ist halt, dass man in der Tangoszene gewisse Dinge sehr oft ansprechen muss, damit sich vielleicht etwas ändert.

      In Anwesenheit von Geistlichen habe ich bei einer Moderation einmal bemerkt, dass wir manche Dinge schon sehr oft vorgeführt hätten. Aber ich hielte mich an die katholische Kirche, die seit 2000 Jahren dasselbe Programm mit großem Erfolg aufführt. Die Herren haben sehr gelacht.

      Von einer Pflicht, bei Milongas alle Frauen aufzufordern, habe ich nie geschrieben. Das wäre bei größeren Veranstaltungen schon zahlenmäßig unmöglich. Richtig finde ich es aber, auch mal Damen um einen Tanz zu bitten, die - aus welchen Gründen auch immer - lange herumsitzen.

      In meinen Beiträgen plädiere ich – nicht nur bei der Aufforderungsweise – für Offenheit, Vielfalt und Toleranz. Wem dies „verbissen“ vorkommt, sollte seine eigene Einstellung hinterfragen.

      Ich habe die beschriebenen Verhaltensweisen auch nicht als „negative Auswüchse“ bezeichnet. Wenn das ideologisch Vorgeschriebene schlecht funktioniert, sucht man eben nach Auswegen.

      Das Grundproblem ist aber in meiner Sicht, dass man Frauen davon abhalten will, Männer direkt um einen Tanz zu bitten. Und dagegen werde ich wohl noch etliche Texte verfassen.

      Mit besten Grüßen
      Gerhard Riedl

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    2. […]"Das Grundproblem ist aber in meiner Sicht, dass man Frauen davon abhalten will, Männer direkt um einen Tanz zu bitten. Und dagegen werde ich wohl noch etliche Texte verfassen."[…]
      Sind Sie sich da so sicher? Es kann doch auch dazu beitragen, dass sich Damen damit unliebsame Herren vom Leib halten.
      Das ungleiche Zahlenverhältnis mehr Damen als Herren sollte nicht dazu führen, den "cabeceo" dafür verantwortlich zu machen. Es gibt auch Abende, wo das Zahlenverhältnis umgekehrt ist, und bestimmte unliebsame Herren "unbetanzt" rumsitzen.
      Es soll nämlich Männer geben, die so schlecht führen, dass Damen davor zurückschrecken und dankbar sind, dass sie durch cabeceo nicht mit diesen tanzen oder diese nicht verbal abweisen müssen.
      Sie sehen die Welt oft durch Ihre Vorurteilsbrille, ein "sowohl-als-"auch" scheint es wohl nicht zu geben, wenn es nicht Ihrer Sichtweise entspricht.

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    3. Welchen Grundschritt empfehlen Sie uns Frauen, Gerhard, wenn wir uns demnaechst am Rande der Tanzflache bewegen, um Maenner zu animieren, uns um einen Tanz zu bitten? - Die Base in Trippelschrittchen?
      Lachend angesichts der Vorstellung, den Tipps Ihres empfohlenen Videos zu folgen, Doris Lennart

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    4. Das Video stellt Tipps zum Salsa vor. Die intellektuelle Übertragung auf den Tango überlasse ich Ihnen.

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  2. Lieber anonymer Schreiber,

    sind Sie Herr Wendel oder kopieren Sie nur seinen Stil?

    Ich fürchte jedenfalls, Sie sind ein Opfer der aktuellen Tangoverhältnisse. Früher gingen wir nämlich zu Milongas, um zu tanzen. Und zwar möglichst viel und mit zahlreichen Partnerinnen. Auch wenn dann nicht jeder Tanz besonders toll war.

    Die nachfolgende Generation scheint eher daran interessiert zu sein, möglichst wenig zu tanzen – und wenn, dann nur mit jemand, bei dem der Erfolg garantiert scheint. Dazu braucht man dann Mechanismen, die viele Tänze zu verhindern.

    Was das „Sowohl – als auch“ betrifft, haben Sie mich auf die Idee zu einem neuen Artikel gebracht. Vielen Dank dafür!

    Gerhard Riedl

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