Was ist nur mit dem Tango los?

 Seit einiger Zeit geht mir eine Frage durch den Kopf, die ich einmal mit anderen besprechen wollte, die auf eine ähnliche Tangoerfahrung zurückgreifen können wie ich. Da unsere Tangofreundin Manuela Bößel uns gerade besuchte, setzten Karin und ich uns gestern nach dem Frühstück mit unserem Gast zu einer kleinen Diskussion zusammen, die wir aufzeichneten. Ich habe sie anschließend verschriftlicht:

Gerhard: Ich hätte gerne einmal ein Problem mit zwei anderen Personen besprochen, die ebenfalls seit 1999 Tango tanzen – also im Kreis von immerhin 75 Jahren Tangoerfahrung. Was mir auf den üblichen Milongas auffällt – ob nun traditionell oder neo: Ich finde, das Tanzniveau sinkt immer weiter, obwohl doch im letzten Jahrzehnt sehr viele Leute dazugekommen sind und sich hätten entwickeln können. Davon sieht man aber kaum etwas. Die Paare, welche es gut hinbekommen, sind meist solche aus der „alten Zeit“. Die interpretieren die Musik und haben einen persönlichen Stil.

Und dabei wurde noch nie so viel Tangounterricht angeboten wie heute – also ganz viel Unterricht und wenig Ergebnis. Meine Frage an euch: Ist das so mit dem Tanzniveau?

Manuela: Ja.

Karin: Ja, sieht man schon so.

Gerhard: Und habt ihr Erklärungen zu den Gründen?

Karin: Ich glaube, viele versprechen sich vom Unterricht wer weiß was: Sie brauchen nur ein paar Stunden zu nehmen, und schon geht bei ihnen die Erleuchtung auf, und die setzt sich dann in Können um. Ich halte das für eine Illusion, weil der Unterricht allein das nicht bewirkt. Dazu gehören eine gewisse Begabung, sehr viel Eigeninitiative, Übung und persönliches Engagement…

Gerhard: …und Musikalität?

Karin: Auch, natürlich. Und Interesse für die Musik – weil gerade im Tango die Umsetzung von Musik in Bewegung vielleicht noch wichtiger ist als in anderen Tänzen.

Manuela: Früher war es viel, viel schwieriger, Tango und Tangounterricht zu finden. Das war ein gewisser Filter für Leute, die nicht hartnäckig genug waren, die nicht um jeden Preis Tango lernen wollten, die dann von vornherein ausgeschieden sind und vielleicht im Ehepaar-Tanzkreis der örtlichen Tanzschule gelandet sind – oder beim Squaredance im Turnverein. Halt irgendwas machten, das leichter zu erreichen war.

Gerhard: Inwiefern ist der Tangounterricht daran schuld? Man liest ja immer wieder sehr hochtrabende Ankündigungen, was in 90 Minuten alles gelernt werden könne, zum Beispiel, zu den vier großen Orchestern zu tanzen, oder was auch immer. Könnte man den Unterricht anders aufziehen, damit mehr dabei herauskommt?

Manuela: Ja natürlich, aber das wäre nicht sehr effektiv für den Geldbeutel der Tangolehrer. Aber bei manchen Leuten kannst halt keine Musikalität rausholen, weil da keine drin ist. Die würden dann wegbleiben. Heute heißt es ja, du sollst dem Publikum keine Leistung verkaufen, sondern eine „Transformation“.

Karin: Für mich ist es ein Werbephänomen – es wird überall Glück versprochen. Ich kauf mir eine Hautcreme, und dann krieg ich keine Falten…

Manuela: Wo gibt’s die?

Karin: Alles Wundermittel, meist überteuert. Die Leute kaufen was und meinen, nun würden sie glücklich – ob sie ein Produkt erwerben oder Tangotanzen lernen. Es sind Glücksversprechen, und damit kriegt man die Menschen. Aber du brauchst halt eine musikalische und eine Bewegungsbegabung, da kann man sicherlich ein Stück weit ansetzen, aber das alles wird übertüncht von diesen Heilsversprechen. Alles sehr zweifelhaft. Aber wenn man halbwegs bei Verstand ist, muss man doch diese Werbestrategien durchschauen!

Manuela: Das ist wie die Geschichte mit den Italienern: Man weiß, dass sie lügen – aber sie lügen so schön. Sagt Monika Gruber.

Gerhard: Oder die Argentinier…

Manuela: Die Leute legen sich in eine Illusion und zahlen gerne dafür. Und wenn man dann traditionelle Milongas anschaut oder gar Encuentros, das ist so eine Massen-Trance. Ich glaube schon, das kann auf eine gewisse Weise zufrieden machen. Ich habe beim Tango aber immer dieses Zweischneidige gesucht: Gleichzeitig wütend zu sein und sanft, das alles auf einmal muss man ja erstmal aushalten. Beim heutigen Tango fehlt das, da wird man in Zuckerwatte gepackt, und alle können’s, alle sind gleich, alles ist „toholl“ und harmonisch… aber ich fang dann an, mich zu langweilen.

Karin: Aber das ist genau, was viele Leute suchen! Dieses Ausgleichende, ohne Probleme, und dann ist dieses Glücksversprechen erfüllt, weil sie für ein paar Stunden diese Harmonie haben. Klar löst sich die auf wie bei einem zerplatzten Luftballon. Dieses Einfache, das Versinken in Traumwelten, das suchen sie – aber das hat nichts mit Tanzen zu tun, so wie ich es verstehe.

Gerhard: Kann es sein, dass sich die Einstellung der Neulinge geändert hat? Dass früher vor allem die Leute zum Tango kamen, welche es unbedingt wollten, die auch fünfmal die Woche tanzen gingen, wenn es die Möglichkeit gab – und heute eher die Population vorherrscht, die sagen: Ich versuch’s vielleicht mal. Es gibt ja genug Angebote, und dann wird da mal ein Kurs gemacht oder dort ein Workshop. Aber es wird auch sehr schnell wieder fallengelassen. Oder man gibt sich damit zufrieden, halt irgendwie über die Tanzfläche zu latschen.

Manuela: Nach meiner Beobachtung waren früher sehr viel mehr „sperrige“ Menschen beim Tango unterwegs, teilweise mit ziemlich schrägen Lebensgeschichten, die waren weniger „nett“ als kantig. Die haben ihre Widersprüche auch auf dem Parkett ausgelebt. Das sieht man heute überhaupt nicht mehr.

Gerhard: Damals war man sehr begehrt, wenn man anders getanzt hat als die anderen. Heute ist das geradezu unwillkommen. Man muss in die Ronda passen, damit der angebliche schöne Bewegungsfluss nicht durch Extratouren verlorengeht.

Karin: Ich hab schon Verständnis dafür, dass jemand sagt: Ich möchte beim Tango alles vergessen. In der Ronda entsteht eine Art meditativer Stimmung. Und diese beiden Welten passen nicht zusammen, deshalb gibt es immer wieder Streitigkeiten darüber.

Gerhard: Aber wir haben vor 20 Jahren auch Paare toleriert, die ganz klein und brav immer wieder dasselbe getanzt haben. Dann haben wir unsere Aktionen halt an einer anderen Stelle des Parketts durchgezogen. Aber heute will die Mehrzahl das Gleichförmige, und da ist die Toleranz geringer, wenn man als einzelnes Paar mehr macht.

Karin: Da haben sich die Verhältnisse völlig umgekehrt. Was ich nicht richtig finde: Dass diejenigen, welche das Meditative wollen, alles andere verteufeln, behaupten, das sei kein Tango mehr.

Manuela: Aber aus deren Sicht vollkommen logisch, weil alles, was dieses Kuschelgefühl bricht, ist ja dann kontraproduktiv. Und wenn dann ein Piazzolla reinholzt, stürzt man schon böse aus dem Kuschelbett.

Gerhard: Also nochmal die Frage: Können die nicht mehr oder wollen die nicht mehr?

Manuela: Ich glaube, sie können nicht mehr und wollen deshalb auch nicht mehr.

Karin: Ich weiß nicht, ob diese Kausalfolge immer zutrifft – aber es ist auf jeden Fall beides. Wenn ich das mit der Musik vergleiche: Musikschüler geben ein Konzert. Jeder weiß, dass die noch nicht so gut sind. Das ist in diesem Rahmen zu akzeptieren. Aber dann stelle ich mich nicht in die Elbphilharmonie und versuche, dort ein Klavierkonzert zu geben. Auf einer Milonga treffen Tanzende ganz unterschiedlicher Qualifikation aufeinander. Das lässt sich nur mit großer Toleranz auflösen. Aber es wird immer schwierig bleiben.

Gerhard: Glaubt ihr, dass man mit komplizierterer Musik auch wieder „sperrigere“ Menschen anlocken könnte?

Manuela: Das kannst du als Veranstalter schon machen, aber dann hast du die „sperrigen“ Menschen auch als Kundschaft. Die keine Kurse belegen, sondern einfach tanzen wollen. Und die sind wahrscheinlich nicht nur dabei „sperrig“, sondern auch im sonstigen Umgang. Ich meine das nicht abwertend, aber die Kunden eines Encuentros sind da einfacher zu bedienen.

Gerhard: Die kriegen alle dasselbe Menü serviert.

Karin: Also à la carte oder Einheitsmenü.

Manuela: Und man kann schwer abschätzen, wie ein Musikprogramm ankommt. Dieses Experimentelle ist für manche Leute bedrohlich. Nicht zu wissen, was passieren wird.

Gerhard: Okay, Schlussfrage: Könnte man das Tanzniveau auf den Milongas verbessern, und wenn ja – wie?

Manuela: Blicken wir mal auf gewisse Ehepaare, die wir von vielen Events kennen. Die sehen den „wilden“ Tango und wollen genau das haben. Sie versuchen es aber mit einen Konzept, das dieses „Harmoniedings“  bedient. Also nur mit dem eigenen Partner tanzen, nicht ausbrechen, sich nicht auf Unbekanntes einlassen, keine 87 Gefühle gleichzeitig haben. Aber mit diesen Methoden kriegt man das nie. Und deshalb sind sie dann manchmal auch so sauer auf uns.

Karin: Ich würde einzelne Leute dort abholen, wo sie sind. Der Gruppenunterricht bringt nicht viel. Man muss ein Paar ganz individuell betreuen. Man muss allgemeine Kompetenzen trainieren, wie zum Beispiel Flexibilität, Navigation, vor allem auch Körperbeherrschung. Muskeln warmmachen, Stabilität, kontrollierte Bewegungen. Wie beim Skifahren, da muss man auch das Ausweichen lernen.

Manuela: Und was wir damals gelernt haben: Frustrationstoleranz, das Aushalten gegensätzlicher Gefühle. Weil man nie weiß, was einem beim Tanzen alles passiert.

Karin: Also seelische Flexibilität.

Manuela: Wenn man das auch körperlich „begriffen“ hat, wachsen die mentalen Fähigkeiten, mit solchen Situationen umzugehen. Vorher ist das ganz schwierig.

Gerhard: Und ich plädiere immer wieder dafür, private Übungsgruppen zu organisieren, statt darauf zu warten, dass einem Veranstalter ein Angebot machen. Statt dieses komischen Schulunterrichts Musik zu spielen und verschiedene Sachen auszuprobieren. Ohne große „Themen“.

Manuela: Das funktioniert oft nicht, weil das ja feste Paare sind, die gar nicht wechseln wollen.

Gerhard: Na, dann sollen sie es lassen! Schnell noch mit der Bitte um eine kurze Antwort: Wie viel Prozent dessen, was ihr heute im Tango könnt, habt ihr im Unterricht gelernt?

Karin: 30

Manuela: 10

Gerhard: auch zwischen 10 und 20

Dann sehen wir betroffen die Tanda aus und alle Fragen offen. Herzlichen Dank euch beiden für das Gespräch!

Foto: www.tangofish.de

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