Der bitterböse Milongaführer

Bei meinem Tangobuch kamen Interessenten wegen des Titels („Milongaführer“) immer wieder auf die falsche Vermutung,  es könnte eine Liste mit Bewertungen bundesdeutscher Tangoveranstaltungen enthalten. Auf solche Ideen antwortete ich stets, ich hätte mir Dutzende von Unterlassungsklagen ersparen wollen. Und Hausverbote obendrein.

Daher habe ich – auch auf meinem Blog – nur höchst selten die Orte meiner schlimmen Erlebnisse genannt. Klar, in Ausnahmefälle ging es nicht anders. Konkrete Events habe ich allerdings erwähnt, wenn Lobendes zu berichten war.

Dennoch hat das gewisse Kritiker nicht daran gehindert, sich – sozusagen anonym – beleidigt zu fühlen. Ich machte bald die Erfahrung, dass man hierzulande Veranstalter, Tangolehrkräfte und andere Zelebritäten nicht kritisieren darf – und zwar fast unabhängig davon, ob sie dem „traditionellen“ oder modernen Tango anhängen. Die Schwelle zur „Majestätsbeleidigung“ ist generell niedrig.

Dies scheint nicht überall zu gelten. Auf Facebook fand ich nun Texte, die in sehr deutlichen Worten ausdrücken, dass man mit bestimmten Milongas alles andere als zufrieden war – und das in … durchatmen … Buenos Aires!

Die Autorin Christine Garbe hat sich aus einfachen Verhältnissen bis zur Germanistik-Professorin hochgearbeitet – inzwischen ist sie emeritiert und kann ihrer anderen Leidenschaft, dem Tango, ungehindert frönen. Ich habe ihr zwei Blogartikel gewidmet, da sie ein einem Video-Interview gewaltig über junge Männer auf gewissen Festivals ablästerte, weil die nach Jugend und Schönheit aufforderten und ältere Damen – auch wenn sie sehr gut tanzten – ignorierten.

https://milongafuehrer.blogspot.com/2021/10/irgendwann-merkts-jede.html

https://milongafuehrer.blogspot.com/2021/10/tango-festivalitis.html

Die Autorin ist eine intime Kennerin der Tangowelt von Buenos Aires, wo sie einen Teil ihrer Zeit verbringt und immer wieder nützliche Tipps und Informationen für Tangoreisende publiziert.

Sie nimmt auch kein Blatt vor den Mund, wenn ihr Dinge dort nicht konvenieren. Ich habe zwei eindrucksvolle Beispiele gefunden:

So lautet ihr Urteil über eine ziemlich neue Milonga („Sensaciones De Tango"):

„Es hat uns überhaupt nicht gefallen, und ich werde dort auch nicht wieder hingehen.“

Zu den Gründen schreibt sie unter anderem:

„Wir saßen an einem der hinteren Tische im Gastraum und hatten nicht den Eindruck, dass irgendjemand von uns Notiz genommen hätte. Es gab also keine ‚Gastgeber‘, die sich um ihre Gäste gekümmert hätten. (…)

Aufgefordert wurde so gut wie gar nicht. Zum Glück hatten wir einen Taxidancer mitgenommen, sonst wäre das ein sehr freudloser Abend geworden; an einem anderen Tisch saßen zwei (ältere) Frauen (Touristinnen), die wohl mit ähnlichen Erwartungen hergekommen waren wir wir: Sie haben gerade mal eine Tanda an diesem Abend getanzt! Mit anderen Worten: Ich kann diese ‚Milonga‘ nicht für Tourist*innen empfehlen, die dort nicht zur In-Group gehören; auch das Ambiente ist nicht so ansprechend, dass man dort nur zum Zuschauen hingehen wollte, und auch das Tanzlevel war durchaus gemischt, es gab keineswegs nur gute Tänzer*innen. Es gibt schönere Orte, bessere Gastgeber und tänzerisch ergiebigere Milongas in Buenos Aires!“

In einem Nachtrag schreibt Christine Garbe, sie freue sich, dass ihr Beitrag eine breite Diskussion ausgelöst habe. Ein Veranstalter habe sich bei ihr entschuldigt.

Quelle: https://www.facebook.com/groups/1266963763884516/permalink/1470384650209092

Noch schlimmer ergeht es der traditionsreichen Milonga „La Viruta“, der sie eine „Polemik“ widmet: „Vergesst La Viruta“. Früher sei sie sehr gern dorthin gegangen.

„Diese Zeiten scheinen vorbei zu sein: Ich bin in diesem Aufenthalt in Buenos Aires seit Anfang November fünf Mal in der Viruta gewesen (…) und habe KEINEN EINZIGEN ERFREULICHEN ABEND dort erlebt! Ich kam so gut wie nie zum Tanzen dort – und da ich mich weder für eine unattraktive Frau noch für eine schlechte Tänzerin halte, suche ich die Gründe dafür weniger in meiner Person als vielmehr in der Milonga. (….)

Also, was ist hier los? Anscheinend kommen hier nur noch entweder junge Leute her, die sowieso nicht mit einer ‚älteren Frau‘ wie mir tanzen (okay, das war schon immer so und damit kann ich auch leben), oder ältere Herrschaften, die darauf aus sind, mit den jungen Frauen zu tanzen, um sich ihre eigene Attraktivität und Jugendlichkeit zu beweisen.

Kommen hier eigentlich nur noch BLASIERTE TYPEN her? Es scheint mir fast so … (‚blasiert‘ = gelangweilt-überheblich, dünkelhaft-herablassend, arrogant, eingebildet, hochnäsig, versnobt …). Vielleicht liegt es ja auch am Veranstalter, dem international gehypten Horacio Pebete Godoy, dem dieser Ruhm offenbar schlecht bekommt: Er kümmert sich einen Dreck um seine Gäste, sondern spielt entweder Schach oder bleibt in seiner In-Group …

Das bekommt einer Milonga einfach nicht gut! Hier herrscht inzwischen eine Atmosphäre der saturierten Selbstzufriedenheit, die glaubt, sich nicht um die Gäste der eigenen Milonga kümmern zu müssen. (…)

Mein Fazit: Ich kann die VIRUTA (am Sonntag und Mittwoch Nacht) für weibliche Touristen NICHT empfehlen (außer frau ist blond und unter dreißig), auch für Männer dürfte es dort eher schwierig sein, aber das kann ich als Frau nicht so gut beurteilen. Wenn ihr dort hingehen wollt, bringt euch eine/n Tänzer*in oder Taxitänzer*in mit oder bescheidet euch damit, nur herumzusitzen und zuzuschauen (was nicht mein Fall ist).

ICH HOFFE, ICH ERNTE ZU MEINEM POLEMISCHEN BEITRAG REICHLICH WIDERSPRUCH! (Es ist ja immer unerfreulich, einen Abgesang auf eine Milonga zu schreiben, die man einmal sehr gemocht hat …)“

Und die Kommentare? Viele geben der Autorin recht oder bedanken sich für die Informationen. Eine Schreiberin setzt noch eins drauf und schildert die dortigen Grüppchen:

„Die angefressenen Touristen und Argentinier, die sich dem Tango verschrieben haben... die einen in der Freizeit und die andern, die nicht wirklich arbeiten (…)

Die Profis und Groupies kommen nach 2 Uhr oder später vorwiegend freitags, (…) sie tauschen sich aus, trinken Wein, essen oder tanzen mit anderen Profis aus aller Welt, um Geschäfte zu initiieren.

Die Argentinier, die auf Frauenjagd sind und hoffen, jemand mitnehmen zu können...oft tanzen sie übel, sind jedoch sehr überzeugt von sich.

Die Glorietta-Truppe trifft sich mit Freunden und Frauen, die ihnen gefallen, die sie zuvor auf Milongas gesehen haben, sie sind immer da und lästern zum Teil auch ab über die Tanzenden... Frauen und Männer.

Und dann gibt es solche, die einem noch von vorherigen Jahren kennen und sich riesig freuen, dass man auch hierhergekommen ist, das sind die Joker!!! (…)

Ich kann nur von den Männern reden und meinen Erfahrungen....alleine ging ich noch nie ins La Viruta....das wäre wie ins Haifischbecken zu springen ohne bissfeste Weste, da ich blond und jung war...

Ich habe meine Erfahrungen gemacht und gelernt!!

Also komm mit deinen Freunden oder Bekannten oder geh lieber schlafen und träume den schönen, gepflegten Tandas nach.“

Quelle: https://www.facebook.com/groups/1266963763884516/permalink/1478072936106930

Ich kann mir ungefähr vorstellen, welcher Shitstorm über mich hereingebrochen wäre, hätte ich Ähnliches geschrieben! Woher kommt der Unterschied? Vielleicht daher, weil es den argentinischen Veranstaltern durch die politischen Verhältnisse mehr als dreckig geht und sie daher keinen Bedarf haben, sich mit der Kundschaft anzulegen. Und das Geld bringen ja vor allem die Touristen!

Insgesamt geht es wohl im Tangomekka nicht viel anders zu als bei uns: Es gibt tolle Events, aber auch viele, welche gerade für die Frauen aus der Fremde nur ein „teures Mineralwasser“ bedeuten. Zudem scheint die Hierarchie dort noch ausgeprägter zu sein als hierzulande.

Man muss oft Plätze reservieren oder bekommt sie zugewiesen, und die No Names landen dann gerne neben der Klotür. Was ich auch schon oft gelesen habe: Am besten bringt man Freunde mit, dann kann man wenigstens mit denen tanzen. Oder mit anderen Touristen. Allenfalls mit Argentiniern, welche auf Weiberfang sind…

Und, beinahe hätt ich’s vergessen: Was das Tanzen betrifft – das kann ich in meiner näheren Umgebung auch so ähnlich haben. Warum also in die Ferne schweifen, wenn das Schlechte liegt so nah?

https://www.youtube.com/watch?v=r52UGAtFm1c

Kommentare

  1. Hallo lieber Gerhard, danke für deinen ausführlichen Bericht über meine Aktivitäten in Buenos Aires (vor allem in unserer Facebook-Gruppe "Tango Tourists in Buenos Aires networking together 2023"), ich wurde durch einen Freund (aus dieser Gruppe) darauf aufmerksam gemacht. Und klar: ich habe hier keine juristischen Konsequenzen zu befürchten, wenn ich einen "Milonga-Verriss" schreibe, aber natürlich mache ich mir damit nicht nur Freunde ... es gab auch schon üble Reaktionen. Insgesamt aber überwiegen die positiven Reaktionen, und ich bekomme viele dankbare Rückmeldungen von Tourist*innen, denen meine Beiträge (und meine hiesige WhatsApp-Gruppe für Tango-Freunde, die gerade in Buenos Aires sind) helfen, ihren Tango-Aufenthalt in der Stadt besser zu genießen. - Es gehört in meinem Verständnis zur Aufgabe eines Kritikers / einer Kritikerin, nicht nur Lob zu spenden und möglichst viele sachdienliche Informationen zu geben, sondern auch negative Aspekte zu beleuchten - und das wird übrigens inzwischen von den hiesigen Veranstaltern durchaus wahrgenommen! Liebe Grüße aus Buenos Aires, Christine Garbe

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    1. Liebe Christine,

      ich fand deinen Text sehr interessant und habe ihn gern besprochen.
      Nein, ich hätte auch bei uns keine juristischen Probleme, solche Milonga-Rezensionen zu veröffentlichen – falls ich nicht falsche Tatsachen behaupte oder Privates berichte.

      Dennoch würde ich weit mehr Empörung ernten als du in Buenos Aires. Zudem versuche ich, persönliche Konflikte nach Möglichkeit zu vermeiden.

      Und klar, zu einer Bewertung gehören positive wie negative Aspekte. Daran wird man sich auch im Tango gewöhnen müssen.

      Viele Grüße nach Buenos Aires!
      Gerhard

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