Irgendwann merkt’s jede
Jörg Buntenbach, bundesweit bekannt als Vorsitzender des Vereins „proTango“, hat sich nun eines sensationell neuen Themas angenommen: Auf seiner Seite „tango argentino online“ veröffentlichte er jüngst ein Interview mit dem Titel „Vom Missvergnügen, auf Tango-Festivals eine ältere Frau zu sein".
Gesprächspartnerin ist die als „Tango-Reisende“ bezeichnete Christine Garbe, immerhin eine waschechte Germanistik-Professorin, die 2018 emeritiert wurde. In der Folge entschloss sie sich wohl, etliche Monate tangohalber in Buenos Aires zu verbringen. Tango tanzt sie aber offenbar schon länger.
Im Interview, das man auch auf YouTube ansehen kann, berichtet die Tanguera von zwei in diesem Sommer besuchten großen Tango-Festivals (in Polen und auf Sizilien): Die Männer hätten sich „bevorzugt an die jungen, schlanken und auffällig gekleideten Damen gehalten“. Trotz der wunderschönen Örtlichkeiten habe sie sich „nicht wirklich amüsiert“. Obwohl sich die paar hundert Teilnehmenden paarweise anmelden sollten, waren ungefähr 25 bis 30 Prozent mehr Frauen als Männer dort.
Bei den großen Bällen könnten sich ältere Tänzerinnen noch so toll herausputzen und noch so einladend schauen – sie würden einfach nicht wahrgenommen: eine sehr frustrierende Erfahrung. Sie meint, diese Probleme tauchten gehäuft bei sehr großen Veranstaltungen auf. Aber auch allgemein schnappten sich bei Männermangel die alten Kerle junge Frauen, die ihre Töchter sein könnten, und bewiesen sich, dass sie bei denen noch gut ankämen.
Auf den traditionellen Milongas in Buenos Aires habe die Sprecherin das anders erlebt: Obwohl dort das Auffordern wegen der althergebrachten Códigos eher von den Männern ausgehe, werde man spätestens wahrgenommen, wenn man mit einem guten Tänzer einmal auf dem Parkett war.
Sollte man bei uns als Frau nicht aktiver sein? Buntenbach fragt, ob man die „alten Konventionen“ des Aufforderns nicht sein lassen und Männer auch verbal einladen könnte. Christina Garbe ist da hin- und hergerissen. Sie schätze schon auch die nostalgischen Traditionen, bei denen sie „in die traditionelle Frauenrolle“ schlüpfen könne – natürlich nicht im Ernst, sondern als „Spiel der Geschlechter“.
Dann müssten die Männer aber auch ihre Rolle als „Kavaliere“ annehmen und Damen jeden Alters hofieren. Bei uns solle ihnen dies durch Tangolehrkräfte und Veranstalter nahegebracht werden. Also ein „sozialer Tanz“ und kein „Ego-Trip“.
Buntenbach lässt nicht locker: Ob sich denn diese argentinischen Gepflogenheiten wirklich eins zu eins auf unsere Kultur übertragen ließen? Könne man es bei uns nicht „etwas lässiger sehen“? Also einfach mal fragen – und es gäbe ja auch Männer, die zu schüchtern seien, selber initiativ zu werden.
Nun schwenkt seine Gesprächspartnerin um: Wir hätten in Europa wohl größere Chancen, wenn wir „die Tangokultur weiterentwickeln“. Und übrigens habe selbst in Buenos Aires die jüngere Generation diese Regeln „nicht mehr so verinnerlicht“. Vor allem aber müssten die Organisatoren im Tango dafür sorgen, dass „alle auf ihre Kosten“ kämen und nicht nur die Männer.
Sichtlich erleichtert beendet Buntenbach das Gespräch an dieser Stelle. Hier das Video:
https://www.youtube.com/watch?v=82DOEM339os
Ich fürchte, die Frau Professor bestätigt mit diesem Interview ein wenig das männliche Vorurteil, dass die Damen nicht immer wissen, was sie wollen: Helfen bei der Problemlösung nun eher die alten Konventionen oder die Überwindung solcher Regeln?
Meiner Ansicht nach benachteiligen Reglementierungen fast immer die Frauen. Gemacht haben sie Männer. Aber auch durch Liberalisierung wird man das Problem nicht aus der Welt schaffen.
Beim Paartanz herrschte schon immer das (nicht nur von Männern eingesetzte) Selektionsprinzip – und ausgewählt wird (in unterschiedlichen Anteilen) vorwiegend nach Aussehen, Ausstrahlung und tänzerischem Können. Wer nach diesen Kriterien insgesamt einen zu niedrigen Score erreicht, bleibt halt sitzen. So einfach ist das. Und irgendwann merkt das jede.
Auch hierbei zeigen sich wieder Unterschiede zwischen dem Tango als Subkultur respektive Branche. Ganz schlimm geht es auf großen und traditionell orientierten Festivals zu: Wo sich die „Schönen und Wichtigen“ treffen, verdorren Mauerblümchen rückstandslos. Zudem werden durch den engen Raum auf dem Parkett und die gleichförmige Musik tänzerische Fähigkeiten weniger wichtig. Was bleibt, ist dann nicht der Umstand, wie man getanzt hat, sondern wie oft und mit wem.
Tragischerweise rennen die Damen scharenweise zu solchen Monster-Events in der irrigen Annahme, unter hundert Herren würde es wenigstens ein paar geben, die mit ihnen tanzen wollen. Tut es nicht.
Warum diese Selektion mehr bei Frauen als bei Männern zuschlägt? Aus zwei Gründen: Männern bietet sich oft die größere Auswahl – und sie dominieren das Auffordern.
Bessere Chancen habe Frauen, die nicht dem Tango-Klischeebild entsprechen, eher auf kleinen (oft privat organisierten) Milongas. Die Chance ist groß, dass es wegen des geringen Glamour-Faktors und der oft interessanteren Musik mehr ums Tanzen geht als um Alter und Schönheit. Ganz ausschließen lassen sich diese Faktoren aber nie.
Die schreckliche Falle, in die viele Frauen und manche Männer laufen, ist wiederum der Professionalisierung geschuldet: Will man viele Kunden haben, muss man zwangsläufig behaupten, Tango sei für alle geeignet. Das ist natürlich blühender Unsinn.
Wird jemand mit Fußball anfangen, wenn er physisch zart und psychisch sensibel strukturiert ist? Oder mit Sechzig unbedingt in eine Disco wollen? Sich als Stotterer bei einer Schauspielschule bewerben?
Ebenso wenig können alle mit dem Paartanz – und besonders mit dem Tango argentino – glücklich werden. Und schon gar nicht, wenn es ihnen nicht um Musik und Bewegung geht, sondern um eine Therapie persönlicher Defizite, die mit dem Tanzen wenig zu tun haben.
Wie fast immer bei einem Geschlechter-Thema fragte ich vor Veröffentlichung des Artikels meine Frau Karin um Rat. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie mir dazu einige Gedanken aufgeschrieben hat:
Der Tango argentino zieht Menschen etwa ab dem Alter von 20 Jahren an. Jüngere sind in der Szene eher die Ausnahme. Nach oben gibt es dagegen kaum eine Grenze.
Welche Erwartungen sind mit dem Tango verbunden?
Versprechungen von Tangolehrenden oder Milonga-Veranstaltern scheinen diese zu erfüllen, denn deren Werbung arbeitet mit den Bedürfnissen der Konsumenten: wundervolle Tänze zu herrlicher Musik, Kuschelfaktor und Geborgenheit unter Gleichgesinnten.
Wie tief ist dann der Absturz für Frauen mit dem gängigen Attribut „mittleren Alters“, wenn sie genau das nicht erleben! Abende lang schauen sie zu, wie sich der Gemeinschaftssinn der Männer, gleich welchen Alters, ausschließlich an jüngeren, hübschen Mädels abarbeitet, während sie kaum zum Tanzen kommen und dank der Aufforderungszwänge per Cabeceo die Tänzer ihren Blicken geflissentlich ausweichen können.
Es gibt unzählige Diskussionen, wie man diese Situation verbessern könnte. Nur denke ich, dass sie leider nicht wirklich änderbar ist, ohne dass ein komplettes Umdenken geschieht, was ich wiederum für unrealistisch halte.
Eine Milonga ist, wie jede Tanzveranstaltung, auf das Paar-Erlebnis hin orientiert, und auf diesem Gebiet haben die jüngeren, hübschen und schlanken Frauen bei Männern einfach die besseren Chancen.
Und je größer die Tangoveranstaltung ist, desto besser gelingt es den Tänzern, über für sie weniger attraktive Tänzerinnen hinwegzusehen.
Sollten sich daher ältere Frauen einfach zurückziehen, um sich Kummer und Frust zu ersparen?
Ich denke nicht.
Vielmehr würde ich raten, die Situation von vorneherein realistisch und pragmatisch einzuschätzen, sich also klar die eigenen Chancen auszurechnen. Wenn man weiß, worauf man sich einlässt, dann kann man auch nicht so tief fallen.
Und wenn man das nicht mag – es gibt genügend Bereiche, in denen man völlig unabhängig von Alter und Schönheit Gemeinschaft erleben kann – oft noch dazu mit Menschen, die ähnliche oder gleiche Ansichten über Höflichkeit und Anstand haben.
P.S. Und nicht zu vergessen: Führen lernen kann für Frauen ein durchaus gangbarer Ausweg sein. Daher war ich sehr angetan von einem Post, den der Münchner Neo-DJ Jochen Lüders gestern in der FB-Gruppe „Tango München“ veröffentlicht hat. Darin bietet er Privatstunden für Tänzerinnen mit den Worten an:
„Hola Tanguera,
du hast keine Lust mehr, auf Milongas den halben Abend rumzuhocken, weil wieder mal Frauenüberschuss herrscht? Oder du hast die Nase voll von mieser, unmusikalischer Führung, Gegrapsche und/oder Schraubstock-Umarmungen? Dann lerne FÜHREN und mach dich unabhängig von den Männern.“
https://www.facebook.com/groups/tangomuenchen
Na also – irgendwann merkt’s jeder!
Von den emotional-aggressiven Vorwürfen gegen polnische Tänzer in der Barocco-FB-Gruppe ("HELLO!!!??? Are you completely OUT OF TOUCH???") bis zu diesem eloquent-nichtssagenden Interview ist das Thema ja einem erstaunlichen Feinschliff unterzogen worden.
AntwortenLöschenLetztendlich hilft es aber nicht viel, solange weder vaterländische noch närrische Korps bereit sind Tanzoffiziere abzustellen, wird man die (mehr oder weniger) Freiwilligen wohl noch pfleglich behandeln müssen.
Richtig, zu Kaisers Zeiten gehörte zur Offiziersausbildung auch Tanzunterricht. Ob ich damals als Frau mit so einem stocksteifen, schnöseligen Leutnant aufs Parkett gewollt hätte, bezweifle ich. Aber manche Damen stehen wohl auf Uniformen – sieht man ja heute noch.
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