Tango-Festivalitis

 

In meinem letzten Artikel habe ich über die deutsche Tanguera Christine Garbe berichtet, die sich heftig über den sozialen Stil von Festivals in Polen und Sizilien beklagte.  

Inzwischen habe ich mich näher über den polnischen Event informiert: Austragungsort war das Schloss von Żagań inmitten eines der schönsten Landschaftsgärten des 19. Jahrhunderts. Ende Juli dieses Jahres nahmen daran mehr als 450 Gäste teil.

https://www.pressreader.com/germany/maerkische-oderzeitung-schwedt/20210731/282480006835312

Auf ihrer Website geben sich die Veranstalter äußerst liberal und zugewandt:

„Die Idee des Festivals ist es, zu verbinden: Egal, was deine musikalischen Vorlieben sind, ohne zu trennen und zu sagen, welcher Tango besser und welcher schlechter ist, wer besser oder schlechter tanzt. Für uns ist Tango schön in seiner Vielfalt! Aus diesem Grund sind die Determinante des Barocco parallele Milongas in zwei Räumen: traditionell und nuevo.“

„Treffen Sie uns alle zusammen ohne Auswahl, ohne die Auserwählten, ohne jemandem zu sagen, dass er oder sie es noch nicht hätte... diese Idee schuf Barocco – obwohl es ein neues Festival auf der Landkarte Polens ist, steht es für einen Platz außergewöhnlicher Freundlichkeit und Wesensart  – alle  zusammen im Tango.“

http://tangobarocco.pl/

In der privaten Facebook-Gruppe „Tango Barocco“ rechnete Christine Garbe dennoch ziemlich schonungslos mit dem Festival ab. Hier ihr Beitrag (aus dem Englischen übersetzt) in voller Länge:

„Unter all den begeisterten Kommentaren zum Barocco Tango Festival möchte ich ein kritisches Feedback teilen: Ich bin eine Tangotänzerin aus Berlin, tanze seit über 35 Jahren Tango Argentino auf der ganzen Welt, mein Lieblingsort zum Tanzen ist Buenos Aires.

Es war das erste Mal, dass ich an einem Tangofestival in Polen teilnahm, und es wird definitiv auch mein letztes Mal sein! ICH HABE MICH IN SAGAN NICHT AMÜSIERT, obwohl ich eine sehr erfahrene Tangotänzerin bin. Was ist der Grund? In Sagán gab es ca. 25 Prozent mehr Frauen als Männer, was für jedes Festival ein absolutes NO GO ist! Männer hatten jede Wahl, sogar schlechte Tänzer, und Frauen mussten sehr hart kämpfen und arbeiten, um aufgefordert zu werden.

Die meisten Männer bevorzugten die jungen, schlanken und schick gekleideten Damen, ob sie nun gute oder weniger gute Tänzerinnen waren, und die älteren Damen (60 +), selbst wenn sie gute Tänzerinnen waren, wurden ignoriert. Anders als in Buenos Aires und vielen anderen Orten der Welt wurde hier nicht die Qualität des Tanzes geschätzt, sondern Jugend und Sexappeal. Leider ist dies auch bei anderen großen Tangofestivals in Europa ein Phänomen.

Aber was in Polen einzigartig war, ist die Unverbindlichkeit polnischer Tänzer: Selbst wenn man aufgefordert wurde und mit einem polnischen Tänzer eine schöne Tanda tanzte und viele Komplimente bekam, kannte er dich am nächsten Tag nicht mehr und forderte dich auch nicht wieder auf.

HALLO!!!??? Bist du völlig AUSSER KONTAKT??? Das ist mir noch nirgendwo auf der Welt passiert, aber meine Wahrnehmung wurde auch von vielen anderen ausländischen Tänzerinnen bestätigt. Polnische Tänzer scheinen speziell nicht in der Lage zu sein, sich zu verbinden – denken Sie bitte über dieses seltsame Phänomen nach! Für mich war dies ein frustrierender Event, und ich bin nicht versucht, ihn zu wiederholen.“

https://www.facebook.com/groups/2073077332775244 (Post vom 29.7.21)

Am 1.8. legte eine andere Besucherin in ähnlicher Weise nach:

Ob die polnischen Herren Angst hätten, den Cabeceo nicht kennen würden oder „einfach nur arrogant“ seien? Es mache keinen Spaß wie mit Italienern oder Argentiniern oder Tänzern aus Paris oder Berlin“.

Mit dieser Kritik kommen die beiden Tangueras in der FB-Gruppe eher nicht gut an. Ach, nur die Polen seien arrogant? Reihenweise wird von ganz ähnlichen Erlebnissen in Berlin, Hamburg und anderswo berichtet. Inzwischen hat man die Kommentarfunktion zu beiden Posts gesperrt.

Mich hat es schon gewundert, dass sich ausgerechnet eine deutsche Hochschullehrerin dem Rassismus-Verdacht aussetzt. In dem Interview mit ihr hat Jörg Buntenbach diesen Aspekt vorsichtshalber nicht mehr angesprochen…

Mit Recht: Ich glaube nicht, dass man den im Tango herrschenden Machismo irgendwelchen Nationen speziell zuordnen kann. Was eine der Veranstalterinnen der Kritikerin antwortet, zeigt allerdings schon, dass die polnische Gesellschaft nicht gerade einen Hort der Emanzipation darstellt:

„Ich mache Männern im Allgemeinen keinen Vorwurf, dass sie mit jüngeren, schönen Frauen tanzen wollen… wo sonst können sie die in der Öffentlichkeit umarmen, ohne getadelt zu werden? Natürlich scherze ich teilweise. Und ja, ich habe auch manchmal dieses Gefühl, aber ich werde ihnen nicht böse, es ist männliche Natur (außerdem machen das nicht nur polnische Tänzer).“

Sorry, aber wenn es in der „männlichen Natur“ liegt, sich in der Öffentlichkeit als triebgesteuerter Hansel zu präsentieren, dann sage ich: Das mit dem Wahlrecht für Männer sollten wir nochmal überdenken.

Ich gestehe, die immer mehr um sich greifende „Festivalitis“ im Tango unterschätzt zu haben. Offenbar gibt es schon lange eine nach Tausenden zählende Migranten-Population, die ständig durch Europa zieht, um auf riesigen Events nach dem zu suchen, was sie für Tango halten.

Das Rezept ist relativ simpel: Man nehme eine romantische Location (bevorzugt ein altes Schloss) mit strahlendem Festsaal, ein bisschen Gegend zum Sightseeing, ein halbes Dutzend renommierte DJs, vielleicht sogar Live-Musiker, etliche Workshops (für oder gegen was auch immer) plus gute Verköstigung. Während man früher überzählige Frauen einfach abwies, dürfen sie sich nun als Führende" anmelden - und wollen dann doch lieber von Männern betanzt werden.

Durch das fürstliche Ambiente ist den angemeldeten Damen natürlich klar, dass sie sich – ungeachtet Alter und Konfektionsgröße gefälligst als Prinzessinnen zu verkleiden haben. Denn die angereisten Mannspersonen halten sich trotz Glatze, Wampe und 1,65 lichter Höhe für den Märchenprinzen auf dem weißen Zossen.

Und das Ganze kostet ja nicht wenig Geld: Obwohl die polnischen Preise eher moderat ausfallen, dürfte man am Ort schon 200 bis 300 Euro dalassen – bei 450 Gästen reden wir hier von über 100000 Euronen. Mächtig viel Asche also, was sicherlich auf Veranstalter nicht gerade abschreckend wirkt. Das heißt aber auch: Wenn der reisende Tangokavalier die dicke Hose etwas erleichtern darf, hat er schon Anspruch auf Besseres als mühsam satinverhüllte alte Spinatwachteln. Als Ökologe aber weiß man: Schreckschraube und Pflaumenaugust bewohnen das gleiche Biotop.

Was auf mich fast noch gespenstischer wirkt: Auch die meisten Tänzerinnen gehen weiterhin vom Cabeceo als eiserner Grundlage des Tango aus. Dabei schützt dieses Verfahren in der Praxis vorwiegend die Männer vor weiblichen Tanzgelüsten. Kein Wunder, dass die Herren jenes Verfahren mit Zähnen und Klauen verteidigen.

Über welches Thema unseres Tanzes ich auch immer schreibe: Fast immer ist die zunehmende Kommerzialisierung die Wurzel vielen Übels. Der Tango wird zum Lifestyle-Event, zum Luxusurlaub mit Tanzgelegenheit. Ich habe mir die Mühe gemacht, die vielen englischen und polnischen Kommentare zur Philippika von Frau Garbe durchzusehen – da taucht auch nicht einmal das böse Wort „Musik“ auf – und auch auf unterschiedliche, faszinierende Tanzweisen wird kaum eingegangen. Der Tango verkommt so zur Persönlichkeits-Prothese, die Musik zum Anlassgeber.

Man könnte sonst eine Milonga doch auch mal als Gelegenheit zum Zuhören und Zuschauen begreifen – davon ist man inzwischen Lichtjahre entfernt. Nein: Was zählt, sind einzig die Namen auf der Tanzkarte.

Dass in diesem Umfeld die Frauen kapieren, was Tango sein könnte, halte ich für unwahrscheinlich – dass die einschlägigen Männer es verstehen, für ausgeschlossen. Gerade erreichte mich in unserer FB-Gruppe der putzige Kommentar eines Tänzers zu meinem letzten Artikel:

Ihm täten zwar öfter die Damen leid, die den ganzen Abend nur säßen – er sähe es aber nicht ein, dass er die „aus Mitleid“ auffordern solle, denn da bin ich tatsächlich egoistisch, denn ich gehe auf eine Milonga, um maximalen Spaß zu haben.“ Er wähle die Tanzpartnerinnen nach Können, Ausstrahlung und Gewicht, das Letztere, weil ich sehr gerne Hebefiguren tanze.“

Tja, die leichten Mädchen im Tango… Was aber, wenn sitzende Tangueras auch mal Spaß haben wollen? Na, dann sollen sie ihn auffordern, er gebe keine Körbe. Ich schrieb in meiner Antwort:

„Aber zwei, die beide nur ihren Spaß haben wollen, finden einander selten im Paar. Die normale Kombination besteht aus Spaßnehmer und Spaßgeberin.“

Quelle: https://www.facebook.com/groups/1820221924868470 (Post vom 6.10.21)

Begeben wir uns daher lieber in die Welt der Schönen und Wichtigen, welche viele aufsuchen, um dort zu erkennen, dass sie weder schön noch wichtig sind. Für die passende Stimmung sorgt im Video der „Sanfte Inder“ („Indio manso“) von Carlos di Sarli nebst einem elegischen Showtanzpaar. Alternativ kann man auch Farbe beim Trocknen beobachten.


https://www.youtube.com/watch?v=Xbdwer58kig

Kommentare

  1. Robert Wachinger8. Oktober 2021 um 12:17

    Hi Gerhard,

    mir kommts so vor, dass auch du bei diesem Thema die Dynamik des menschlichen Paarungsverhaltens nicht berücksichtigst. Und das (unabhängig davon, ob man konkret auf der Suche ist oder nicht) spielt immens auch beim Tango rein (eigentlich überall da, wo Männer und Frauen interagieren).

    Ganz platt ausgedrückt ist es doch so: Männer stehen auf Schönheit (ergo Jugendlichkeit) bei den Frauen, diese umgekehrt auf Status bei den Männern (den der Mann im Tango durch gute Tanzfähigkeiten aufbauen kann, und als schlechter Tänzer wieder verliert ;-) ).

    Und so kommts, dass die Männer jeglichen Alters an den jungen, hübschen Dingern kleben, und ältere Frauen halt auch nicht mehr von denen aufgefordert werden, die sie früher (als sie selber noch jung und knusprig waren) nicht mit dem Arsch angesehen hätten ;-) (Und natürlich sind beide Geschlechter gleichermassen "triebgesteuert").

    Also eigentlich ist das da alles ganz normal und kein Grund sich über irgendwas zu wundern.

    PS: "Die normale Kombination besteht aus Spaßnehmer und Spaßgeberin." das möchte ich bezweifeln. Üblicherweise erwarten Frauen, dass Männer um sie balzen, d.h. ich sehs eher andersrum: "Die normale Kombination besteht aus Spaßgeber und Spaßnehmerin".

    Ciao, Robert

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    1. Lieber Robert,

      stimmt schon: Kann auch umgekehrt sein. Oft jedenfalls eine Kombination aus Geber und Nehmer. Seltener sind Personen, die gleichermaßen geben und nehmen.

      Ansonsten wundere ich mich gar nicht darüber, dass die sexuelle Attraktion überall dort mitspielt, wo sich Frauen und Männer treffen. Aber eben nur als eine Komponente.

      Herr Lindner beispielsweise dürfte zwar mit Frau Baerbock koalieren, aber nicht kopulieren. Weil’s vorwiegend um Politik geht.

      Auch beim Tango wäre ich froh, wenn es in erster Linie um Tanz und Musik ginge – und nicht um die Frage, wer an wem pappt. Und solche Events gibt es durchaus, das weiß ich aus eigener Erfahrung.

      Zu klären wäre noch, ob die erotische Attraktion wirklich so viel mit Alter und Schönheit zu tun hat. Persönlich kann ich mit jungen Frauen tänzerisch nicht so viel anfangen, weil sie oft an einem dranhängen wie ein Eichkatzl auf Dope.

      Und ich kenne Frauen, die von irgendeiner Ranghöhe eines Tänzers nicht wirklich beeindruckt sind. Auch da ist das Leben bunter als man meint.

      Danke und herzliche Grüße
      Gerhard

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  2. Sofern das heimische Nest verlassen wird, wird auch jemand unerquickliche Erfahrungen machen ... und darüber berichten. Nur wird es auch auf mittlere Sicht eher nicht gelingen, "die polnischen Tänzer" umzuerziehen. Da stellt man/frau sich besser die Frage, warum man/frau dort eigentlich hin wollte. Meines Erachtens zutreffend kommt die Beschwerdeführerin in einem Kommentar zu der Einsicht, dass sie auf Encuentros besser aufgehoben sein könnte.

    Die Art des Aufforderns schien mir hier nicht das Problem zu sein. So ein "Festival-Cabeceo" besteht maximal darin, sich nicht frontal sondern vielleicht drei Meter entfernt aufzubauen - und dann abzuwarten wie er/sie reagiert. Wenn auf Deiner Wohnzimmermilonga ... also rein theoretisch ... würde das was substantiell ändern?

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    1. In Pörnbach tanzen wir nicht theoretisch, sondern praktisch. Daher wäre es egal, aus welcher Entfernung eine Aufforderung erfolgt. Weite Distanzen gibt es bei uns eh nicht.

      Darüber nachzudenken, wieso man weite Strecken zu teuren Events fährt, wo man dann vorwiegend herumsitzt, könnte nicht schaden. Allerdings gibt es den Kommentar einer Veranstalterin, dass auf Encuentros trotz zahlenmäßiger Geschlechterparität auch etliche Frauen unaufgefordert bleiben. Auch hier entscheidet also nicht die Quantität, sondern die Qualität - sprich: die Einstellung der Männer.

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    2. Auch auf Encuentros sind bisweilen "herausfordernde Situationen" möglich, allerdings symetrisch für Männer und Frauen. (Das weiß ich, weil ich bewusst Encuentros mit getrennter Sitzordnung besucht habe, solo und der Landesspache unkundig.)
      Aber erstens gibt es auch sehr familiäre Encentros, quasi internationale große Wohnzimmermilongas, und einen Partner wird eine Dame für die Anmeldung auch brauchen. Und zweitens pflegt die Beschwerdeführerin ja ein Reputations- und Kontakt-Management mit solidem argentinischen Fundament, das bisher nur dort in Polen versagt hat. Sie wird das schon meistern.

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    3. Das glaube ich auch - vor allem, weil sie das Wichtigste tut: Sie frisst den Ärger nicht in sich rein, sondern meldet sich öffentlich zu Wort. Auf diese Weise hat sie die Problematik nun schon in drei Internet-Foren angesprochen.

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