Wohne ich in der falschen Gegend?
Zu meinen oft kritischen Anmerkungen zur überwiegend angebotenen Tangomusik kriege ich immer wieder Hinweise der Art, ich sei wohl schon jahrelang nicht mehr viel herumgekommen, wohne gar in der falschen Gegend. Woanders sei die Milonga-Welt erheblich bunter und vielgestaltiger.
Gerade erst erhielt ich eine solche Mitteilung wieder von einem Leser: In einer fernen Region lege demnächst ein DJ auf, der „wirklich eine interessante Mischung“ böte. Auf Nachfrage hieß es, man höre vor allem „moderne Orchester“. Und auch Sachen, welche der Schreiber „nicht wirklich zuordnen“ könne. Das seien doch „genau die Herausforderungen“, welche ich so gerne suche.
Nun denn – getreu meinem Motto „Ist das wirklich so?“ begab ich mich auf die Suche nach den Tatsachen. Auf Facebook stellt der international tätige DJ seine Künste so vor (von mir aus dem Englischen übersetzt):
„Tango-Enthusiast, lässt sich von berühmten Komponisten wie Juan D'Arienzo, Carlos Di Sarli, Osvaldo Pugliese, Fresedo und Cálo, aber auch von weniger bekannten Vertretern des Tango-Genres inspirieren.
Er investiert viel Zeit in die Recherche und perfekte Auswahl der Songs, um seinem Publikum ein einzigartiges und mitreißendes Tangoerlebnis zu bieten.
In seiner Rolle als DJ weiß Jonas Maria, dass die Musik, die er spielt, mehr sein sollte als eine bloße Sammlung. Er strebt danach, eine Geschichte zu erzählen, die den Zuhörer auf eine Reise mitnimmt, indem er die Musik nutzt, um eine Geschichte sowohl durch Klang als auch durch Tanz zu erzählen. Für ihn ist die Tangomusik ein Spiegelbild der menschlichen Erfahrung, das die Freuden, Sorgen und Komplexitäten des Menschen umfasst.“
Wow! Da fragt man sich schon mal, wieso der Herr DJ und nicht Lyriker wurde!
Aber was zum Teufel legt er denn nun tatsächlich auf? Meine Recherche war nicht allzu ertragreich. Immerhin gibt es auf YouTube einige Videos:
In einem hört man den Tango „Oigo tu voz“ von Lucio Demare. Sicherlich ein nettes Stück, allerdings pure EdO, da 1943 herausgekommen:
https://www.youtube.com/watch?v=27dXHHGELIQ
Im nächsten Video gibt es einen Vals, den ich leider nicht per Titel nennen kann. Er stammt jedoch bestimmt aus demselben Zeitsegment:
https://www.youtube.com/watch?v=IZCz-dICjT8
Beim dritten Beispiel geht es nun tatsächlich etwas moderner zu: Zu hören ist das auch schon ein wenig angejahrte „Junto a las Piedras“ von Otros Aires, gefolgt von einem Song aus meiner „Tango-Shitparade“: „Mil Pasos“.
https://www.youtube.com/watch?v=tG_wqKHMOD0
Hier erfreut uns der DJ mit Biagi-Aufnahmen: „Alguien“ (1956) sowie „Triste Comedia“ (1949) – ich verzichte auf den sich anbietenden Kalauer…
https://www.youtube.com/watch?v=wHILigGwlDg
Zum Schluss noch eine „Last Vals-Tanda“: Nach einem relativ modern klingenden Stück (siehe Kommentar unten) hören wir tatsächlich einen meiner Lieblingswalzer: „Ansiedad“, gespielt vom Orchester Fulvio Salamanca (1957). Also ebenfalls eine eher historische Aufnahme!
Dieses Stück habe ich schon einmal genauer besprochen und in einem Video sogar dazu getanzt:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2020/08/wir-tanzen-uns-wieder-warm.html
Im dritten Stück kommt mit „Color Tango“ tatsächlich eine moderne Gruppe zum Einsatz. Allerdings wird das eigentlich sehr schöne „Desde el Alma“ auf fast jeder Milonga zu Tode genudelt – hätte also noch in meine „Shitparade“ gepasst!
https://www.youtube.com/watch?v=3HiSYMKWEO8
Im Ergebnis also: Viele historische Aufnahmen plus einige modernere, allerdings nicht wirklich originelle Einsprengsel. Kompliziertere Musik, gar tänzerische Herausforderungen? Tango nuevo? Ach, geh mich wech…
Inspiriert oder gar ambitioniert wirken die tanzenden Paare nicht wirklich. In durchgehend enger Haltung werden fast dieselben 08/15-Schrittchen zelebriert wie auf den meisten traditionellen Milongas. Zu sehen ist Gleichförmigkeit.
Sicher, das Musikprogramm des DJ ist – verglichen mit dem vieler Kollegen – nicht direkt schlecht. Das ist angesichts der ansonsten halt noch öderen Leistungen aber keine große Kunst.
Wohne ich in der falschen Gegend? Nö, morgen Nachmittag werden wir in Pörnbach mal wieder zu der Musik tanzen, die uns wirklich herausfordert – Piazzolla natürlich inklusive.
Mal sehen, vielleicht veröffentliche ich die Playlist. Auch wenn dann nur wenige den Unterschied erkennen sollten…
Der eine Walzer, den ich nicht kannte, hat nun einen Namen: "Gramofon" stammt von dem russischen Komponisten Eugen Doga. Herzlichen Dank an meinen treuen Leser Rainer Lehmann!
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