Was Ihnen ihr Tangolehrer nicht erzählt… 31

 

Neulich stolperte ich über diesen Satz eines Kommentators zu einem Tanzvideo:

Ich habe nicht grundsätzlich etwas gegen akrobatische Einlagen. Aber sie müssen zur Musik passen. Auch nachdem ich mir das Video mehrere Male angesehen habe: Ich höre speziell beim ‚Tango Apasionado‘ immer noch keine Dynamik, die einen Wurf über die Schulter rechtfertigen würde.“

Darüber musste ich länger nachdenken: Gibt es beim Tango überhaupt ein Motiv, seine Partnerin über die Schulter zu „werfen“? Oder überhaupt für „akrobatische Einlagen“?

Klar, solche Aktionen sind „Hingucker“, auf die Showtanzpaare oft nicht verzichten wollen. Als Hobbytänzer sollte man es sich gut überlegen, derartige Stunts zu unternehmen.

Selber habe ich kleinere Sprünge oder „Aufsitzer“ („Asentadas“) durchaus im Repertoire. Dazu sollte aber vieles passen: Man muss einander vor allem sehr gut kennen und vertrauen. Nichts ist schlimmer, als wenn die Tänzerin in einer Schreckreaktion die Schultern einzieht und sich nach unten durchrutschen lässt. Sie muss sich im Gegenteil nach oben wegdrücken! Sonst sieht es im besten Fall nur bescheuert aus – in der schlimmeren Version stürzt sie oder nimmt den Mann noch mit.

Weiterhin muss man sicher sein, dass ein „Landeplatz“ zur Verfügung steht.

Sprünge kann man beim improvisierten Tanz nicht planen. Wenn bei einer dynamischen Musik die Impulse immer heftiger werden, kann es zu einer Situation kommen, in der sich die Partnerin immer leichter anfühlt. Kurz vor der „Schwerelosigkeit“ gehe ich tiefer und gebe einen leichten Druck nach oben, den sie mit einem kleinen Sprung umsetzt. Merke: Nicht ich „werfe“ sie, sondern sie springt! Die Tänzerin hat ihre Aktionen also ständig unter eigener Kontrolle und wird nicht von mir bewegt!

Auf einem der viel geschmähten Tanzvideos von mir sieht man übrigens drei kleine Lupfer (bei 6:40, 7:20 und 8:00):

https://www.youtube.com/watch?v=fX4SXOPa4cY

Es muss also vieles passen – und beide müssen sich absolut sicher sein. In der Mehrzahl der Fälle breche ich eine solche Aktion lieber im letzten Moment ab.

Vor allem darf es nicht „gewollt“ wirken. Bei Showtanzpaaren habe ich öfters den Eindruck, dass die Musik nur als Vorwand dient, um „Akrobatik“ einzusetzen.

Der folgende Tanz von Jose Fernandez und Martina Waldman rangiert sicherlich auf hohem technischem Niveau. Dennoch ist mir manches zu „mechanisch“ – eine emotionale Verbindung zwischen den beiden sehe ich nicht. Eher wird die Partnerin als „Sportgerät“ behandelt, und man lässt kaum eine Sekunde verstreichen, ohne sie mit Höchstschwierigkeiten zuzupflastern. Der Musiktitel „Patético“ passt irgendwie dazu…   


https://www.youtube.com/watch?v=NwSYS0CX9vQ

Wie Nick Jones und Diana Cruz den Zitarrosa-Titel „Canto de Nadie“ umsetzen, gefällt mir schon wesentlich besser. Die Hebungen und anderen technischen Höchstleistungen ergeben sich aus der Musik und ihrem Flow. Und vor allem in den langsamen Passagen sehe ich Emotionen. Hätte Frau Cruz ein anderes Kleid gewählt, wäre meine Begeisterung noch größer!


https://www.youtube.com/watch?v=tAXtd2-wltA

Ich glaube, man kann dieses Thema noch verallgemeinern: Auch bei vielen Laien-Tänzen habe ich den Eindruck, der Führende wolle mit seiner Partnerin ständig etwas „machen“: In meist enger Haltung wird da geschubst, gezogen, rumgekickt und gehakelt, dass mir beim Zusehen die Augen tränen. Wenn ich nahe an der Tanzfläche sitze, habe ich öfters Angst, ein heftiger Kung Fu-Tritt könnte mich treffen – oder das nicht immer ätherische Weibchen zur Gänze bei mir aufschlagen. Das wäre nicht schön.

Ich bin wahrlich kein Freund von langweilig und lasch getanzten Tangos. Gerade deshalb sage ich aber: Tango ist vor allem sanft und sensibel. Und der Führende muss der Partnerin Raum geben, in dem sie sich entfalten kann. Für die choreografischen Einfälle sind beide gleichermaßen verantwortlich. Wenn sich beide nicht „leicht“ fühlen, kann man weder schnelle Aktionen noch heftigere Bewegungen oder gar Sprünge umsetzen. Krampfigkeit verhindert all das.

Und man sollte Kontraste einsetzen, welche die bessere Tangomusik ja auch anbietet. Eine Bewegung wirkt umso schneller, je langsamer die vorherige Passage war. Heftige Aktionen sind stets nur punktuell, der Krafteinsatz kommt plötzlich und wird auch ebenso schnell wieder beendet. Nichts wirkt schlimmer als ein andauerndes Muskeltraining.

Ich habe es vor langer Zeit aufgegeben, verbissen an „Figuren“ zu üben, weil ich merkte, dass ich dadurch nur verkrampfter wurde. Lieber legte ich einen meiner Lieblingstangos auf, und wir improvisierten drauflos. Und siehe da: Plötzlich gelangen Kombinationen, an die ich nie gedacht hatte!

Die Balance zwischen Krafteinsatz und Entspannung ist das Schwierigste am Tango – man muss sie stets von der lockeren Seite her angehen.

P.S. Und wie man es nicht machen sollte:

https://www.youtube.com/watch?v=jjQmBGGJquc

Kommentare

  1. Zu diesem Thema „Sprünge", "Asentadas" und Landplätze usw. bekommt der Titel Ihres Beitrags einen wahrhaftigen Sinn: "was Ihnen Ihr Tanzlehrer (garantiert) nicht erzählt" ( - und das ist wahrscheinlich auch gut so!)
    Ich kann es mir bildlich vorstellen, wie eine ätere Dame mit hochgezogenen Schultern bei Ihnen "durchrutscht" …aber mir geht jetzt die Fantasie durch, lassen wir das.
    Mit freundlichen Grüßen
    Klaus Wendel

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    1. Lieber Herr Wendel,

      ist doch schön, wenn Sie Fantasie haben! Ist mir bislang noch gar nicht aufgefallen.

      Sie werden es natürlich nicht glauben: Diese kleinen Extravaganzen hat mir kein Tangolehrer beigebracht - die sind einfach beim Tanzen entstanden. Unfälle haben sich noch nie ereignet. Vielleicht, weil ich mein Können - und das meiner Partnerinnen - realistisch einschätze. Kann auch nicht jeder.

      Daher rutschen bei mir auch keine älteren Damen unten durch. Aber danke für die Erinnerung: Auf einem meiner viel geschmähten Tanzvideos sieht man drei kleine Lupfer - sanft und sicher. Ich habe den Hinweis nun in den Text eingefügt.

      Danke und beste Grüße
      Gerhard Riedl

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  2. Lieber Herr Riedl,
    …vielleicht, weil' Sie Ihr Können - und das Ihrer Partnerinnen - realistisch einschätzen?
    Etwa so?: "Allerdings würde ich einen solchen Tanzstil auch noch nachts um Drei und stockbesoffen hinbekommen – auch inklusive der kleinen Verständigungsprobleme." (Ihr Zitat in einem Kommentar auf ein Video von Detlef & Melina)
    Na dann…!
    Mit freundlichen Grüßen
    Klaus Wendel

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    1. Tatsächlich kriege ich das auch unter schlechten Bedingungen hin - aber das ist ja nichts Besonderes. Das sollte jeder und jede nach ein paar Jahren Tango schaffen. Wenn nicht, würde ich raten, ernsthaft über ein anderes Hobby nachzudenken.

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  3. Lieber Herr Riedl,
    dass Sie Ihr Können - und das Ihrer Partnerinnen - realistisch einschätzen können, wird sicherlich viele Leser erfreuen und mit einem erfrischenden Lächeln zur Kenntnis nehmen.
    Mit freundlichen Grüßen
    Klaus Wendel

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