Des Kaisers neuer Tango
Was mir immer wieder auffällt: Im Tango sollte man vorsichtig damit sein, allzu hohe tänzerische Qualität zu loben – und ebenso, über uninspiriertes Herumgelatsche herumzublödeln.
Gerade muss es ein Tanzvideo büßen, in welchem das Paar – noch dazu bei einem Piazzolla-Stück – zeigt, was es kann. Und das ist ziemlich viel.
„Komplett unmusikalisch“ findet das ein Leser, den vor allem die Hebefiguren stören – und er findet: „OK, wir können uns gerne darauf einigen, dass man auf Piazzolla auch Jive tanzen kann.“
Ach – ich würde das nicht ausschließen, nachdem ich mal gesehen habe, wie wunderbar ein Swing-Tanzpaar Mozarts „Kleine Nachtmusik“ interpretierte. Aber dazu muss man halt tänzerische Fantasie besitzen:
https://www.youtube.com/watch?v=J60ZW6VamPA&t=1s
Daher empfehle ich auch gerne nochmal den Tanz von Mauro Caiazza und Daniela Kizyma. Auch wenn nicht alle die Dynamiken hören, die bei Piazzolla meist unter der Oberfläche toben: „Sehr ruhig“ ist da nichts. Aber was soll man machen, wenn mir ein sehr erfahrener DJ dazu schreibt, er habe das Tempo zu 45 bpm bestimmt. Gefühle mit dem Zollstock auszumessen – das ist es, was den heutigen Tango charakterisiert:
https://www.youtube.com/watch?v=1CifcnZGIoE
Ähnlich erging es mir, als ich mir einmal erlaubte, die Tänzerin Eleonora Kalganova zu loben:
https://www.youtube.com/watch?v=zhTVMqnp64U
Eine Tangobekannte aus früheren Zeiten (inzwischen längst zum traditionellen Schreiten konvertiert) verwickelte mich in eine längere Debatte über den „echten Tango“:
„Aber das i s t dann auch nicht mehr der
geerdete argentinische Tango, das ist dann auch ein russisch eingefärbter Tango
mit Bolshoi-Balletteinlagen und einer Fußbeweglichkeit, die keine normale Frau
ohne Ballettausbildung annähernd hinkriegt. Das ist dann auch ein Tanz auf dem
Ballen und den Zehenendgelenken, der alle Arten von Fußheilern auf den Plan
ruft (Hallux lass grüßen)...
Das Gefuchtel mit den Armen und das affig selbstbewusste Getue ist ja auch ein
Einschlag vom Standardtanz und keine Weiterentwicklung des originären Tango
Argentino.
Muss man mögen! Bis 2017 ungefähr war es wunderschön anzuschaun – heute
erscheint es mir eher wie eine manierierte Masche.“
https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/08/so-ungefahr.html
Wenn es 2017 noch schön anzuschauen war – wer hat sich da geändert: Der Tanz oder die Betrachterin?
Auf der anderen Seite kann der Tango heute offenbar gar nicht zu simpel sein. Erst neulich wurde mir ein kleiner Seitenhieb zum Thema von einem Alterskollegen höchst übelgenommen:
„Sind wirklich nur gute Tänzer auch Tangotänzer? Darf es nicht wie im restlichen Leben auch viele ‚Normalos‘ geben, die einfach ein bisschen Freude am Tanz ohne große Ansprüche und Fähigkeiten haben?
Sie machen oft eine große Menge an Tänzern nieder, nur weil diese vielleicht wirklich nach einfachen Schritten und Regeln tanzen wollen. Warum?“
Näheres dazu:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2024/02/zur-diktatur-der-einfachtanzer.html
Man sollte es ebenfalls unterlassen, Herumsteh-Tänzer, welche als große Maestros gelten, mit Ironie zu behandeln. Als ich das neulich bei einem meiner Lieblingspaare unternahm, erhielt ich heftige Gegenreden:
„Wenn dein Video ein Beweis sein soll, dass sowas einschläfernd sei, dann zeigt es für mich genau das Gegenteil. :-) Eine sehr innige Verbindung in Harmonie mit der Musik (was mir bei vielen Showtanz-Videos fehlt), die im Paar als sehr intensiv und spannend wahrgenommen werden kann. Von außen weniger sichtbar – aber wer das schon erlebt hat, kann das evtl. nachvollziehen (bei mir weckt es Erinnerungen an ein paar der schönsten Tandas / Tango-Nächte, die ich bisher erlebt habe).“
Na gut – so genau wollte ich es gar nicht wissen…
„Ich muss auch sagen, dass die Musik mit sehr einfachen Mitteln sehr gut interpretiert wurde. Schlichtheit ist hier die Kunst. Die beiden unterrichten sehr wahrscheinlich auch das, womit ein Normaltänzer – mit wenig Aufwand – auf der Tanzpiste etwas anfangen kann, um in der Musik zu sein. Obwohl dies hier garantiert komplizierter ist, als es für Sie scheint. Dabei geht es doch auch gar nicht darum, Zuschauer zu befriedigen.“
https://milongafuehrer.blogspot.com/2024/02/das-wort-zum-samstag.html
Na eben – und dass man dann nicht weiß, wofür man Eintritt bezahlt hat, gehört ja heute beim Tango zu den Alltagserfahrungen…
Daher nochmal, weil’s so schön ist:
https://www.youtube.com/watch?v=JlpH_Yzfx1c
Besonders heftig geriet der Widerspruch, als ich eines der schlimmsten Tangovideos verlinkte, das mir je begegnet ist:
https://www.youtube.com/watch?v=kWSLb-fPnHc
Eine Auswahl der rhetorischen Amokläufe:
„Wie wär's mit einer SACHLICHEN Kritik?
Irgendwann müssen auch SIE lernen, dass der Tange viele Gesichter hat und nicht
jede(r) nach Ihrer Pfeife tanzt. Wenn's Ihnen nicht passt, dann sehen Sie sich
halt so ein Video nicht an. Genau das verlangen Sie ja auch von jenen Lesenden,
die nicht Ihrer Meinung sind und Ihre Texte nicht mögen.“
„Was will man da noch sagen – das ist das Niveau dieses Blogs. Seien wir froh, dass wir Gerhard nicht als Lehrer erleben mussten.“
„Ist doch schön musikalisch und genussvoll getanzt! Sicher findet da nicht jeder Zugang dazu, an der der suboptimalen Kameraperspektive wird es vermutlich nicht liegen.“
„Sie hadern mit den Regeln im Tango, mit der
Art, wie der Tango in vielen Milongas getanzt wird, mit der Musik, die gespielt
wird. Sie verweigern das alles, weil Sie es nicht können.
Kurzum: Sie hadern mit der Tango-Realität und mit sich selbst!
Wenn Sie doch so unzufrieden sind, wie sich der Tango in Deutschland entwickelt
hat, dann belassen Sie’s doch dabei, wie sie Ihren Tango zu Ihrer Zufriedenheit
in Ihrer Wohnzimmer-Milonga praktizieren. Es interessiert doch eh niemanden.“
https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/04/geronto-stehschmusen.html
So viel zur „Willkommenskultur“ im Tango: Wem es nicht passt, der soll aus der Öffentlichkeit verschwinden!
Fazit
Wie bei vielen Themen lande ich auch hier wieder bei der Erkenntnis: Der Tango hat sich von einer Subkultur zur Branche entwickelt. Tangolehrende, DJs und Veranstalter wollen aus ökonomischen Gründen die Bude vollkriegen. Voraussetzung ist die Botschaft, diesen Tanz könne jeder Depp lernen. Schlimmer noch: Die tänzerische Interpretation stehe ja gar nicht im Mittelpunkt. Daher betont man – von Tangoreisen bis zum Schuhverkauf – die Randthemen. Tango wird zum sozialen Event mit Tanzgelegenheit. Und das ganze Drumherum generiert natürlich nochmal Kohle.
Deshalb reagiert man auf tänzerische Qualität geradezu feindselig. Der Kunde könnte ja sonst aufgrund des Gesehenen zum Schluss kommen, Tango sei nun doch nichts für ihn. Und jedes noch so simple Geschreite wird mit Feuer und Schwert verteidigt: „Schaut mal, so einfach ist es – das könnt ihr doch auch!“
Und Renegaten versucht man, mit Blinzelpflicht, Beinhebeverboten, Rondaregeln sowie Aneinanderpapp-Order ruhigzustellen.
Merke: Wenn es Kunst ist, kann es kein Tango sein!
Man müsste heute das Andersen-Märchen für den Tango umschreiben: Nicht die nur behaupteten neuen Kleider machen den Kaiser nackich – vielmehr entblößt er sich zu langweiliger Musik mit ein paar Trippelschrittchen und wird als großer Tänzer bejubelt.
Wahrlich: Man tanzt des Kaisers neuen Tango!
Hallo, also Apasionado heisst ja enthusiastisch, begeistert. Ich finde dass beide Tanzpaare in den Videos das gut einfangen. Wie kommt man bitte auf 45 bpm bei dem Stück?Metronomisch liegt die Originalaufnahme bei 88. Die meisten Arrangements die ich kenne gehen sogar bis 100. Ich vermute er hat versucht die Melodie Metronomisch einzufangen. Da würde aber kein Musiker drauf spielen wollen.
AntwortenLöschenIch bin noch nie auf die Idee gekommen, das Tempo eines Stücks mit dem Metronom zu bestimmen. Nach höchstens 30 Sekunden weiß ich, ob ich (und auch meine Gäste) gern drauf tanzen würden oder nicht. Dann lege ich es auf oder lasse es bleiben.
LöschenVielen Dank, dass du mir wieder einen eigenen Blog Beitrag widmest!
AntwortenLöschenAllerdings möchte ich einen Punkt klarstellen: Ich habe nicht grundsätzlich etwas gegen akrobatische Einlagen. Aber sie müssen zur Musik passen. Auch nachdem ich mir das Video mehrere Male angesehen habe: Ich höre speziell beim Tango Apasionado immer noch keine Dynamik, die einen Wurf über die Schulter rechtfertigen würde.
Weil ich dieses Stück sehr interessant finde, habe ich mir inzwischen das ganze Album gekauft und angehört. Dynamik höre ich im "Knife Fight" oder im "Bailongo". Da würde der Wurf über die Schulter reinpassen. Aber nicht beim Tango Apasionado.
Tatsächlich hast du mich auf das Thema gebracht. Ich hoffe aber, es umfassender dargestellt zu haben.
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