Einfach die Klappe halten!

Wie konnte ich diesen Artikel nur übersehen? Vor fast sechs Jahren veröffentlichte der Münchner Neo-DJ Jochen Lüders eine Philippika über die akustischen Störungen beim Tango: „Shut up and dance – Quatschen auf Milongas“. Spät, aber doch empfehle ich dringend die Lektüre:

https://jochenlueders.de/?p=13650

In zahlreichen Aspekten kann ich die Ansichten des Kollegen nur unterstützen: Ja, viele besuchen Tangotanzabende vor allem, um sich lautstark mit Freunden zu unterhalten – um die Musik geht es ihnen nicht wirklich. Hauptsache, sie klingt alt und schrammelig (für die Traditionalisten) oder möglichst wenig nach Tango (für diejenigen, welche sich „alternativ“ dünken).

Tanzen wird als nette Option betrachtet, falls einem mal die Gesprächsthemen auszugehen drohen – wie man sich dann wozu bewegt, wird frühestens dann entschieden, wenn man paarweise auf dem Parkett steht.

Und selbst da geht das Gesabbel oft noch weiter, bevor man sich zu den ersten Schrittchen entschließt. Lüders verlinkt dazu ein entsetzliches Video, in dem einzelne Paare bis zu anderthalb Minuten – also die Hälfte des Stückes – rumstehen, bis sie endlich in die Gänge kommen (siehe den Herrn im grauen T-Shirt rechts hinten). Und sogar während des Tanzens können manche die Klappe nicht halten  Lüders hat das gut beschrieben.

https://www.youtube.com/watch?v=z6QKeGoYuUg

Völlig zu Recht schreibt der Autor:

Erstaunlich ist, dass gerade glühende EdOisten offenbar kein Problem damit haben, dass man ihre wunderbare Musik vor lauter Lärm oft kaum mehr hört. Herrje, was werden da ständig die ‚feinen Phrasierungen‘ und die ‚unnachahmliche Intonation‘ der alten Original-Aufnahmen gerühmt (‚Moderne Orchester können diese Feinheiten ja gar nicht mehr spielen‘). Oft wird dann auch noch ein erheblicher technischer Aufwand betrieben, damit alles nur ja optimal klingt. (…) Und dieselben Leute schwadronieren von der ‚einzigartigen‘ Musik und dem ‚kreativ künstlerischen Prozess‘ mit dem sie diese Musik ‚interpretieren‘.“

In der Praxis ist gerade in konservativen Kreisen der Umgang mit der Musik acht- und empathielos. Hauptsache, sie klingt angejahrt – und man vertanzt sie ja eh mit dem ewig gleichen halben Dutzend choreografischer Manöver.

Mich erinnert das an die „besseren Kreise“, die in die Oper gehen, um Freunde zu treffen, den neusten Tratsch zu erfahren oder Geschäfte abzuschließen. Was sich auf der Bühne oder im Orchestergraben abspielt, interessiert nicht wirklich. Was einen natürlich hinterher nicht daran hindert, den „großen Kunstgenuss“ zu rühmen. Falls man nicht zu den seltenen Dissidenten gehört:

https://www.youtube.com/watch?v=g1nrXmHvoM4

Und die werden dann von wahren Experten zusammengefaltet:

https://www.youtube.com/watch?v=69Ey5xm5nhk

Ja, wie gut kenne ich solche Erlebnisse

Auch bei Live-Auftritten meiner Musikerinnen Bettina und Karin habe ich gelegentlich die Ignoranz kennengelernt, welche Lüders anspricht:

„Ich habe schon Milongas erlebt, bei denen man am anderen Ende des (kleinen!) Raumes nur noch Fetzen der Musik gehört hat, weil so laut gesabbelt wurde. Mal vom derzeit so angesagten Achtsamkeits-Gedöns abgesehen: Da zahlen Leute extra Eintritt und fahren oft größere Strecken, um Musiker live zu erleben, und dann haben sie nicht mal den Anstand, die Klappe zu halten und die Musik zu würdigen?“

Ich glaube gar nicht, dass solche Menschen eine Schuld trifft – sie sind halt musikalisch und tänzerisch völlig unbegabt und hören statt der Musik nur ein klopfendes Geräusch. Tragischerweise hat man sie mit dem Versprechen angelockt, Tango könne jeder lernen. Obwohl man in der Branche weiß, dass man damit gequirlten Schwachsinn behauptet.

Ein Tangolehrer schrieb mir kürzlich, warum er nur wenige Frauen auffordert:

Auch bin ich sehr wählerisch, was deren tänzerische Qualität angeht, aber sie müssen nicht sehr gut sein, aber wenigstens aktiver als ein schlummerndes Anhängsel, das man beim Tanzen nicht wecken darf, wie man es bei 90 Prozent der Damen auf Encuentros in dieser Einheitsumarmung beobachten kann. Ich habe dafür meistens auch nicht das nötige Schlabberlätzchen dabei.
Im Übrigen bin ich der Meinung, dass ein Großteil der Damen nicht zum Tanzen, sondern zum Schmusen auf die Piste geht. Sie sind deshalb auch beim Tanzen überfordert und kommen bei der kleinsten Drehung oder Ochos aus dem Gleichgewicht, weil sie wie Kletten auf der rechten Schulter kleben, weil sie genussvortäuschend die Mini-Bewegungen des Mannes als Tango mit Gefühl erleben möchten.
Das alles ist nicht meine Tangowelt. Ihre offensichtlich auch nicht. Eigentlich habe ich mich immer für Tango als Tanz interessiert und nicht als Schmusezone oder Weiberfanggelegenheit.“

Tja – öffentlich behaupten würde er solche Sachen nicht – wäre schlecht fürs Geschäft

Dennoch muss man auch von solchem Personal die soziale Intelligenz erwarten, dass es wenigen anderen um Musik sowie Tanz geht und sie sich daher von lautem Gerede, Gegacker und Gekreische gestört fühlen. Doch das scheint Traditionalisten nicht zu kümmern, während man bei den „Ronda-Regeln“ und dem Aufforderungs-Verhalten extrem zieselig reagiert.

Natürlich darf man auf Milongas auch mal Gespräche führen – und es gibt Locations, in denen man sich dazu in Bereiche zurückziehen kann, die weiter vom Parkett entfernt sind. Und es ist auch zu respektieren, dass manche die Milongas – wie angeblich in Buenos Aires üblich – eher als soziale Kontaktbörse ansehen. Gerne auch mit viel Essen und Trinken sowie spielenden Kindern auf der Tanzfläche. Solche Events meide ich nach Kräften.

Nur verbitte ich mir dann – in schönster Allianz mit Jochen Lüders – aus solchen Kreisen Belehrungen über die „Feinheiten“ der traditionellen Aufnahmen sowie der einzig seligmachenden Art des Tanzens. Schuster, bleibt bei euren Leisten!

Was tun bei solchen Beeinträchtigungen? Der Autor macht dafür den Veranstalter haftbar:

Mindestens ebenso deprimierend ist es, wenn dann niemand den Mumm hat, eine entsprechende deutliche Ansage zu machen (was natürlich Aufgabe des Veranstalters ist) und ggf. mit Platz- bzw. Pistenverweis zu drohen.“

Das Theoretische an dieser Forderung ist ihm wohl selber bewusst. Kommerzielle Organisatoren fürchten sich lediglich davor, dass Gäste in Zukunft nicht mehr erscheinen und daher Lücken in der Kasse hinterlassen. Der Rest ist ihnen wumpe.

Dann müsse er, so Lüders, halt als DJ selber ran, notfalls mit persönlicher Ansprache. Bei seinem bekanntermaßen diplomatischen Geschick kann ich mir die Auswirkungen vorstellen!

Wie gehe ich selber mit solchen Beeinträchtigungen um? Die Musik lauter zu drehen hilft nichts: Ein Weiber-Stammtisch hat dezibel- und frequenzmäßig einfach mehr drauf! Und auch drohende Ansprachen sind nicht mein Ding, weil sie zuverlässig die Stimmung killen.

Persönlich habe ich solche Krisen als DJ kaum einmal erlebt. Das liegt sicher vor allem daran, dass ich nie auf riesigen Events auflege. Vielleicht hilft mir auch, dass ich sehr vielgestaltige und auch „schwierigere“ Musik spiele, welche nicht den üblichen „Hörgewohnheiten“ entspricht. Man muss dann schon genauer lauschen, wenn man dazu tanzen will. Gut finde ich auch die Idee, „Ratschkathl-Duos“ zu trennen, indem man eine der beiden auffordert.

Im schlimmsten Fall würde ich einfach die Musik (auch während eines laufenden Stücks) unterbrechen, warten und sie erst wieder fortsetzen, wenn Ruhe eingekehrt ist. Wenn man das nötigenfalls ein paarmal macht, kommen wahrscheinlich die meisten drauf, dass es sich nicht um technische Pannen handelt. Nichts wirkt beim Tango so vernichtend wie Stille.

Und ich lasse, wenn ich zum Tango gehe, meine Hörgeräte zuhause. Und halte selber weitgehend die Klappe. Was ich dann an musikalischen und sonstigen „Feinheiten“ überhöre, steigert meine Lebensqualität!

Zum Weiterlesen:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/09/gerausch-wird-storend-oft-empfunden.html

Kommentare

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