Unser unvergleichlicher Improvisationstanz

Gestern durfte ich wieder einmal lesen, was Tangoleute von den guten deutschen Standardtänzernhalten:

„Es scheint unheimlich schwer, sich von den dortigen Konventionen (oder Angewohnheiten) zu lösen. Die Art zu gehen – wenn dort überhaupt gegangen wurde – die Art der Verbindung und die Freizügigkeit in der Auswahl der Schrittfolgen scheint viele zu überfordern.

Ja, Schrittfolgen – das Wort ‚Figuren‘ als feste, einstudierte Abfolge verbunden mit einem ‚das gehört so‘ oder ‚nur so ist das richtig‘ ist so viel anders als die mögliche Leichtigkeit einer Interpretation außerhalb von vorgegeben Zwängen – zumindest, wenn man den Tango Argentino so begreift.“

Nun kenne ich – von fast 40 Jahren Standardtanz und über 20 Jahren Tango argentino – das Elend auf beiden Sorten von Tanzflächen ziemlich genau: Was viele Gelegenheitstanzende dort aufführen, geht eher als Parodie auf die jeweiligen Sparten durch: Ob man sich nun hölzern durch eine Samba hampelt, bei einem Wiener Walzer kaum vom Fleck kommt, bockbeinig an einem Jive scheitert oder sich mit Zeitlupenschritten durch eine Milonga quält, dass nicht nur der Schwan stirbt.

Kein Problem: Wer nur gelegentlich mal zum Schwofen geht, soll seinen Spaß haben – so wie ich beim Zuschauen. Aber nun gerade dem Tango die „Leichtigkeit der Improvisation“ zuzuordnen, halte ich für höchst verwegen. Im Gegenteil kenne ich Laientänzer, die zwar höchstens Foxtrott oder Walzer können, ihre Bewegungen aber derart genial der Musik anpassen, dass daraus, wenn man nicht genau hinsieht, durchaus etwas dem Cha Cha Cha oder Tango Ähnliches entsteht.

Und wenn ich mal freundlich fragen dürfte: Wie oft sieht man auf den Milonga-Pisten Paare, die wirklich improvisieren, also zu einem Musikstück Bewegungen erfinden oder zumindest Grundelemente fantasievoll kombinieren? Oder versteht man im Tangobereich bereits als Improvisation, wenn man mal vier statt zwei Ochos hintereinander tanzt? Natürlich reizt die auf den normalen Veranstaltungen gebotene „Förderschul-Musik“ nicht gerade dazu, etwas Neues zu entwickeln, wenn man nur den ewig gleichen Klängen ausgesetzt ist. Also spult man – ähnlich wie die Laien im Standard – eingelernte Grundbewegungen ab.

Und selbst dieses Figuren-Repertoire" verarmt zusehends: Etwas schwierigere Sachen wie Sacadas oder Boleos sieht man immer seltener eine Folge der Negativ-Kampagnen zum Thema ja kein Showtanz".

Die Mär vom „unvergleichlichen Improvisationstanz“ kommt mir vor wie der Yeti im Tango: Mehr als ein paar schemenhafte Figuren oder einzelne Fußtapperer hat man bislang nicht gefunden – wobei die Yetis wenigstens an die Bergsteiger glauben.

Wer sich allerdings ein wenig ernsthafter mit den Standard- und Lateinamerikanischen Tänzen befasst, muss sich immerhin in jeder Sektion mit fünf Tänzen beschäftigen, welche ganz unterschiedliche musikalische Interpretationen und andere Tanztechniken erfordern:

Langsamer Walzer, Tango, Wiener Walzer, Quickstep, Slowfox, Samba, Cha Cha Cha, Rumba, Paso Doble und Jive. Ich darf aus Erfahrung hinzufügen: Das ist eine Menge Holz! Im Tango dagegen wird man schon nervös, wenn man in einer Tanzrunde verschiedene Orchester hört. Es ist zum Kaputtlachen!

Zudem darf ich fragen: Was glaubt man eigentlich im Tango, was ein Standardpaar macht, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert – einem beispielsweise ein anderes Paar reintanzt? Richtig: improvisieren!

Bei den Profi-Wettbewerben werden inzwischen auch Kür-Darbietungen verlangt, bei denen die einzelnen Paare zu Musik der jeweiligen Sparte ein frei gestaltetes Programm bieten können.

Hier die Standard-Kür von Simone Segatori und Annette Sudol:

https://www.youtube.com/watch?v=EijqYyOvUpc&t=142s

Und das zu einer Musik, welche im Tango als „untanzbar“ abgetan würde! Aber immerhin haben sie ja die berühmte „Verbindung“ ganz schön dargestellt, oder?

Im folgenden Video gibt es die Latein-Kür von Denis Tagintsev und Ekaterina Krysanova:

https://www.youtube.com/watch?v=sAsMZSc2CG0

Ja, auch so kann man Rumba tanzen…

Zum Vergleich hier das Tango-Profipaar Eleonora Kalganova und Tarek Marroushi:

https://www.youtube.com/watch?v=v5HHcZ8L1J8

Natürlich muss es – im Gegensatz zu den anderen Beispielen – wieder mal olle Musik sein: „Duerme, mí Amor“ von Di Sarli (1958). Na gut – heißt übersetzt: „Schlafe, mein Liebes“. Passt.

Um nicht missverstanden zu werden: Klar können die beiden sehr gut tanzen – in ihrem Rahmen. Der Abstand zu den vorigen Paaren ist jedoch – musikalisch und vor allem technisch – riesig.

Daher rate ich den Tangoleuten bei der Befassung mit anderen Sparten zu größter Demut. Sie wäre dringend nötig!

Hier noch ein anderer Standard-Showtanz. Falls Sie den Tänzer nicht erkennen sollten: Es ist der „Let’s dance“-Juror Joachim Llambi mit seiner Frau Sylvia:

https://www.youtbeu.com/watch?v=7uOc0NeBz0s

P.S. Zum Weiterlesen:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/05/tango-ist-improvisation.html

Kommentare

Hinweis zum Kommentieren:

Bitte geben Sie im Kommentar Ihren vollen (und wahren) Namen an und beziehen Sie sich ausschließlich auf den Inhalt des jeweiligen Artikels. Unterlassen Sie herabsetzende persönliche Angriffe, gegen wen auch immer. Beiträge, welche diesen Vorgaben nicht entsprechen, werden – ohne Löschungsvermerk – nicht hochgeladen.
Sie können mir Ihre Anmerkungen gerne auch per Mail schicken: mamuta-kg(at)web.de – ich stelle sie dann für Sie ein.