Tango-Talg

Grundsätzlich halte ich Podcasts für eine interessante Entwicklung: Man kann sich abends im Bett eine Folge anhören, ohne Brille und genügend Beleuchtung für einen Schrifttext. Und man vermag eine Sache ausführlich und detailliert vorzustellen. So verfolgte ich lange Zeit das sehr informative „Coronavirus-Update“ mit Professor Drosten und seinen Kolleginnen und Kollegen:

https://www.ndr.de/nachrichten/info/Coronavirus-Update-Der-Podcast-mit-Christian-Drosten-Sandra-Ciesek,podcastcoronavirus100.html

Und ich bin ein Fan von „Aktenzeichen XY… Unvergessene Verbrechen“, welches die verschiedenen Aspekte eines Kriminalfalls sachlich hervorragend und menschlich empathisch darstellt:

https://aktenzeichenxy-podcast.podigee.io/

Warum also diese Form nicht auch auf den Tango anwenden? So habe ich vor einiger Zeit ein solches Format angehört und war wenig begeistert:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/08/verschwurbeltes-aus-der-altherren-liga.html

Wiederholt schon stieß ich auf den „Tango Talk“ von Sabine Holl und Dieter Ringlstetter.

Derzeit erscheint jeden letzten Freitag im Monat eine neue Folge:

„Mit einer ganz persönlichen Tango-Story oder einem interessanten Gespräch, das über den Rand der Tanzfläche hinausführt und euch Menschen vorstellt, die eine euch vielleicht noch nicht so bekannte Facette des Tango Argentino für sich entdeckt haben, leben oder andere dafür begeistern.

https://www.tango-talk.de/podcast/

Na, das klingt doch interessant! Ich habe in verschiedene Ausgaben reingehört und möchte eine davon näher besprechen:

Kann jeder Tango tanzen lernen, Wolfgang Spitzauer?“

Eine spannende Frage, wie ich finde! Der Angesprochene tanzt seit über 15 Jahren Tango:

„Trotz anfänglicher Schwierigkeiten wurde für ihn bald eine Leidenschaft daraus, die er heute als seinen Lebensinhalt bezeichnet. Wie wichtig es ist, sich die Ziele nicht zu hoch zu setzen, gute Lehrer zu haben – und was der Tango ihm persönlich gibt, erzählt der gelernte Musiker und langjährig freischaffende Künstler, der beinahe Franziskanermönch geworden wäre, in dieser Episode.“

Die beiden Moderatoren stellen den Kern des Themas vor: Tangounterricht – wo und in welchem Rahmen soll man lernen? Und wie findet man die richtige Lehrkraft?

Wolfgang Spitzauer leite eine kleine Tangogruppe in Traunstein. „Das Leben wär so schön, wenn es keinen Tango gäbe“ – dieses Zitat von ihm gehe darauf zurück, dass ein Freund und er mit einem schlechten Tangolehrer begonnen hätten, der in Wirklichkeit keiner gewesen sei. Inzwischen sei dieser Tanz, obwohl er einen Beruf habe, sein eigentlicher Lebensinhalt. Für ihn ist Tango „eine Vereinigung von dieser Begegnung zwischen Mann und Frau, zwischen Musik und Zeitlosigkeit, die eine Einheit ist, die es sonst nirgends gibt, nirgends.“ Die Musik in den Armen einer Frau durch den Körper strömen und dies dann in einer gemeinsamen Bewegung, einem gemeinsamen Gefühl verschmelzen zu lassen – das sei ein umwerfender „Höhepunkt des Seins“.

Tango sieht er als eine Kunstform, keinen Tanz – so jedenfalls seine nunmehrige Lehrerin Raffaella Passiatore, die er in den höchsten Tönen lobt. Als Tangotänzer sei man „Interpret und Choreograf zugleich“. Und da die Musik zuerst durch ihn und dann durch seine Partnerin fließe und sie dann interpretiere, werde man zur „bewegten Skulptur“.

Sabine Holl wirft ein, man wolle auch Leute erreichen, die noch keinen Tango tanzten und die vielleicht beim Anblick von Tanzpaaren meinten, dazu müsse man „Jahrzehnte üben“. Nicht jeder habe so viel Freizeit dazu.

Spitzauer meint, das hänge vor allem von der Qualität des Lehrers ab. Er erinnert sich an eine andere Tangolehrerin, die einen Showtanz gezeigt habe, der „nur aus Gehen“ bestand. Schon das beschere Tangoerlebnisse von „großer Größe“. Die alten Tangolehrer in Buenos Aires ließen ihre Schüler ein Jahr lang nur gehen, bevor da mal eine Figur käme. Freilich hätten die Lehrkräfte hierzulande dann keine Kursteilnehmer mehr. Eine Auflösung dieses Widerspruchs versucht er nicht.

Beste Voraussetzungen hätten Leute, die vorher noch nichts anderes getanzt hätten, denn Tango sei ganz etwas anderes als Tanzen.

Reisen sei überhaupt sehr wichtig, da man überall Szenen finde, in denen man sich sofort beheimatet fühle.

Sabine Holl stellt abschließend „fünf Standardfragen“:

„Wo schlägt dein Herz: Gardel oder Gotan?“ „Di Sarli“.

„Verbindung oder Technik?“ „Tango – das zu trennen ist nicht möglich“.

„Coolere Milongas: Berlin oder Buenos Aires?“ „Berlin“.

„DJ oder Livemusik?“ „DJ“. Man könne dann alles hören, von Di Sarli, D’Arienzo und Pugliese bis zu Gotan.

Und die Kleidung? „Hemd oder T-Shirt?“ Auf jeden Fall kein T-Shirt.

Man hätte abschließend auch versuchen können, die Titelfrage zu beantworten...

Wie könne man mehr junge Menschen für den Tango gewinnen? Spitzauer verliert sich schnell ins Anekdotische und berichtet von einer jungen Profitänzerin, die Studierende unterrichte. Ansonsten werde das schon so laufen, wie es laufen solle.

Hier die gesamte Folge zum Anhören:

https://open.spotify.com/episode/1zEfJyBBDytwkR9uaxQCQK

Nicht nur bei diesem Podcast bin ich hinterher nicht schlauer als zuvor. Klar, man lernt interessante Menschen kennen, welche auf die eine oder andere Weise zum Tango gefunden haben – allerdings meist die altbekannten Mainstream-Ansichten verbreiten.

In Zeitschriften wie „Brigitte“ oder „Frau im Spiegel“ liefe das Ganze wohl unter der Rubrik „Starportrait“. Auch da sind unbequeme Annäherungen tabu.

Man lässt die Leute auf vorbereitete, artige Fragen antworten, ohne wirklich einmal nachzuhaken, Probleme oder gar Widersprüche auf den Punkt zu bringen, auch einmal lästig bis unbequem zu werden. Stattdessen spult man die Themen nach dem Motto „Aha. Nächste Frage“ ab.

Und wenn man schon behauptet, den Tangounterricht ins Zentrum zu stellen, sollte man sich schon an das Thema halten: Was macht denn nun konkret eine gute oder schlechte Lehrkraft aus? Sicher nicht, dass sie den Kurs mit einem Schwurbel von „Tango als Kunstform“ versorgt. Stattdessen eiert man um die Gretchenfrage herum, gerne auf kalorienarmem Niveau.

Sicherlich soll sich der Gesprächspartner wohlfühlen und seine Ansichten vertreten. Aber da, wo es schwammig oder widersprüchlich wird, muss man nachfragen.   

Es gäbe im Tango genügend Themen, die relevant wären und zu einer Gegenrede geradezu herausfordern. Bei diesem Interview beispielsweise hätte ich dem Gast einiges nicht durchgehen lassen:

Wie sehen denn in der Milonga-Realität die „bewegten Skulpturen aus? Und was könnte man tun, um das zu ändern? Und lernt man wirklich Tango, indem man ein Jahr im Kreis läuft? Ob man tatsächlich einen Vorteil hat, wenn man vorher nichts anderes getanzt hat, wäre eine Nachfrage wert. Ebenso die Behauptung, Tango sei etwas ganz anderes als ein Tanz. Was denn dann? Kunst? Ernsthaft? Und wie beurteilt der Gast den nicht zu übersehenden Trend, dass unser Tanz immer mehr überaltert?

Holl und Ringlstetter betonen, ihr Podcast sei eine private, nicht kommerzielle Initiative. Ich finde das sehr lobenswert. Dann könnte man doch mutiger sein! Stattdessen habe ich den Eindruck, man eiere ängstlich um Konflikte herum. Nur nicht anecken – Talg statt Talk!

Na gut, dann bleibt es halt Blogs wie meinem vorbehalten, die strittigen Themen und eklatanten Widersprüche des täglichen Tango-Geschäfts zu bearbeiten! Sollte ich nun ebenfalls einen Podcast probieren?

Lieber nicht – ich fände wohl nicht genug Interviewgäste. Sich in ein Gespräch mit mir zu begeben, könnte ernste Folgen haben: Eventuell würde man dann aus hehren Kreisen ausgeschlossen und bekäme nicht mehr genug Tanzpartnerinnen – und vor allem Tanzpartner.

Und da kennt die Evolution keine Gnade: Das Aussterben wäre programmiert!

Foto: www.tangofish.de

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