„Androgyne“ zwischen den Schubladen

Ich staune immer wieder, welch seltsame Wege die Themen meiner Artikel nehmen. In einem Text habe ich neulich das Video eines renommierten Tangolehrerpaars besprochen, das eine Grundfolge im Vals ohne Drehungen und bemerkenswert lasch vortanzte – natürlich zu einer 86 Jahre alten traditionellen Aufnahme.

Als Kontrast suchte ich nach einer Tanzvorführung eines modernen Walzers und geriet eher zufällig an das Stück „Androgyne“ von Mario LeBlanc aus dem Jahr 1997.

Hier mein ursprünglicher Text:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2023/09/und-es-dreht-sich-doch.html

Lustigerweise entwickelte sich nun eine Debatte um diese Komposition. Ein Leser schrieb auf Facebook, er halte das zwar für gute Tangomusik, höre da aber keinen Vals-Rhythmus.

Klar, das ist bei den teilweise gebundenen Noten, die über Taktgrenzen gehen, nicht ganz einfach. Ich empfahl die Zuhilfenahme eines Metronoms und verlinkte eine Partitur, die eindeutig im ¾-Takt gesetzt ist:

https://www.scoreexchange.com/scores/androgyne-167933.html

Das schien aber nicht zu reichen. Mein Leser eröffnete nun auf einem anderen Forum eine größere Fragerunde (alle folgenden Zitate aus dem Englischen übersetzt):

„Ich lese gelegentlich den Blog von Gerhard Riedl (auf Deutsch, satirisch und oft ziemlich scharf). Vor ein paar Tagen veröffentlichte Gerhard einen Beitrag, in dem er unter anderem vorschlug, dass Lehrer mehr zeitgenössische Tango-Musik in ihrem Unterricht verwenden sollten. Gerhard nahm das Beispiel von 'Androgyne' von Soledad Orquestra als Beispiel für zeitgenössische Tango-Vals-Musik.“

Na gut – „Orquesta“… Weiter schreibt er:

„Ich finde, das ist ein schönes Beispiel für zeitgenössische Tangomusik. Aber für mich klingt das nicht wie Tango-Vals-Musik. Ich kann den typischen 123-Vals-Rhythmus hören, aber das Tempo ist zu langsam, um es als Tango-Vals-Musik zu bezeichnen. Meine Frage ist ganz einfach: Klingt es für Sie wie Tango-Vals-Musik?“

Prima, immerhin hört er den Dreivierteltakt. Allerdings habe ich nie behauptet, es handle sich um einen „Tangovals“ – im Artikel sprach ich lediglich von einem „modernen Vals“.

Nun waren die Schleusen für musikalisch-tänzerische Gehirnkribbler-Artistik offen. Eine kleine Auswahl der bislang 20 Kommentare:

„An diesem Punkt bin ich auch im Blog hängen geblieben. Der Autor wendet im Allgemeinen das Konzept einer ‚Tango-DNA‘ an, die alles umfasst, was im weitesten Sinne mit Tango zu tun hat, also nicht direkt ‚NON Tango‘ ist.“

Das ist fein beobachtet!

„Erstens: ‚Androgyne‘ ist stilistisch gesehen Vaudeville. (Manche würden es auch als Weltmusik bezeichnen.)

Zweitens: Gerhards (und deine Frage) unterscheiden nicht zwischen Tanzstil und Musikstil.

Drittens: Das Wort Tango-Vals ist eine falsche Bezeichnung und sollte verboten werden. Der fragliche Tanzstil ist Neo oder Walzer (nicht spezifiziert). Die traditionelle Musik im 3/4-Takt aus den späten 30er Jahren in BsAs, gespielt von einem orquesta típica, heißt Vals porteño.“

Äh, „Vaudeville“? Diese Musikkomödien und Shows würde ich eher im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert verorten…

https://de.wikipedia.org/wiki/Vaudeville

Und ich dachte, Musik- und Tanzstile seien voneinander abhängig! Aber klar: Hauptsache verbieten, daran ist man im Tango ja gewöhnt!

„Ich würde den Autor dieses Beitrags sehr gerne an einem abgelegenen Ort treffen, in einer abgelegenen Gegend ohne jegliche Überwachung, mit vierzehn Alibis, die besagen, dass ich mich in Wirklichkeit auf einem anderen Kontinent befand, als er plötzlich und auf mysteriöse Weise verschwand.“

Huch, jetzt wird es mystisch-mörderisch!

„Nein, ich würde ihn nicht als [gesellschaftlich tanzbaren] Walzer in irgendeiner Form betrachten. Die Walzermusik ist breit gefächert und reicht vom Ländler bis zum Walzer, Wiener Walzer, verschiedenen Ballroom-Interpretationen und -Entwicklungen, Vals Criolla bis zum Tango Vals.

Wie Gerhard an anderer Stelle geschrieben hat: Alle Musik ist tanzbar. Die Frage ist, wie stark sie einen zum Tanzen motiviert. Dieses Beispiel hat mich nicht zum Tanzen motiviert, obwohl es eine schöne Darbietung ist. (…)

Wir brauchen einige zeitgenössische, tanzbare argentinische Tango-Kompositionen (Tango, Vals und Milonga), aber dieses Beispiel war für mich nicht geeignet.“

Übrigens heißt es „Vals criollo“

https://de.wikipedia.org/wiki/Vals_(Tango)

„Wenn ich mich recht erinnere, sind die meisten neuen (originellen und in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten entstandenen) Kompositionen, die ich von zeitgenössischen Orquestas gehört habe, nicht tanzbar genug, übernehmen oft zu viel von Piazzolla, beinhalten selbstverliebte Anfälle von scheinbarer Virtuosität (…) und haben im Allgemeinen die Tendenz, den Bedürfnissen und Wünschen der Musiker Vorrang vor denen der Tänzer zu geben.“

O je, nun ist das böse Wort „Piazzolla“ gefallen – das kann nicht gutgehen:

„Stimme voll und ganz zu. Ich bin über ein ‚Ensemble‘ gestolpert, das ‚argentinische Tangomusik‘ anbot - aber es war ‚hörbarer Piazzolla‘ und keineswegs zum Tanzen anregend (tatsächlich wollten sie jemanden dafür bezahlen, zu ihrer Musik zu tanzen, aber keiner hatte Interesse). Piazzolla war nicht ohne Grund als ‚Tango-Killer' bekannt.“

Ich dachte bislang, er hätte sich mit seiner Tangomusik Weltruhm erworben…

„Natürlich verbot Piazzolla den Leuten, zu seiner Musik zu tanzen.“

Das ist natürlich blühender Unsinn. Piazzolla wollte lediglich nicht auf Tanzveranstaltungen spielen, nachdem er von konservativer Seite heftig kritisiert und boykottiert wurde. Ein solches „Verbot“ hat er nie ausgesprochen – und es wäre auch nicht realisierbar.

„Zuerst habe ich zugehört. Ich höre keinen Walzerrhythmus und würde meine Tango-Schritte nicht mit einem ‚Walzergefühl‘ zu diesem Lied tanzen.“

Vereinzelt gibt es auch positive Stimmen:

„Ich sage ganz offen, dass mich dieses Stück zum Tanzen anregt, und ich erinnere mich, vor ein paar Wochen dazu getanzt zu haben, aber ich glaube, es war eine andere Version.

Es ist definitiv ein Walzer, aber es verwirrt einen, da es sich gelegentlich mit zwei schnellen 3/4-Takten innerhalb der Zeitspanne eines einzigen 3/4-Taktes verdoppelt. Musikalisch gesehen hat er ein abwechselndes Gefühl zwischen 6/8 und 3/4, was selbst bei ganz traditionellen Tangowalzern gar nicht so ungewöhnlich ist, nur dass in diesem Fall mehr Leute davon verwirrt werden könnten, wenn sie nicht richtig aufpassen. Ich finde es fabelhaft.“

In der Summe aber ist das Urteil negativ, wobei ich eine interessante Definition von „Tanzbarkeit“ fand:

„Aber in diesem Zusammenhang bedeutet ‚tanzbar‘: ‚Kann getanzt werden, wie der argentinische Tango getanzt wird, wenn er zu den Orchestern des Goldenen Zeitalters getanzt wird‘. Es hat eine viel eingeschränktere Bedeutung.“

Halten wir also fest: Tanzbar sind Aufnahmen, die in der EdO-Ära entstanden. Aus die Maus!

Hier die gesamte Diskussion:

https://www.dance-forums.com/threads/is-this-tango-vals-music.51754/

Liebe Leute, eigentlich kann es mir ja wurscht sein – dann tanzt halt nicht zu „Androgyne“. Muss ja keiner, der es nicht kann oder möchte! Und ich habe ja nie behauptet, bei diesem Stück handle es sich um einen typischen Tangovals – aber es bietet eine schöne Abwechslung im stilistischen Einerlei der Milongas. Die ist aber heute offenbar kaum noch gewünscht.

Die ganze Chose zeigt mir halt wieder einmal, dass die heutige Tangopopulation auf das typische Hörerlebnis eines Walzers aus der Knisterepoche konditioniert ist wie der Hund des Herrn Pawlow: Nur bei D’Arienzo & Co tropft der Sabber. Und die Schubladen werden sauber beschriftet und verwaltet.

Dabei gibt es sogar deutsche Lehrerpaare, welche einen solchen entarteten Vals mit Tangoschritten hinkriegen (jedenfalls nach einer Denkminute). Das sollte doch Mut machen!

https://www.youtube.com/watch?v=871M2So5GXc

Kommentare

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