Zurück auf Anfang!
Das Interview mit Manuela Bößel hat – was ich erwartet habe – wohl einige Irritationen ausgelöst. Ein Blogger-Kollege vermisste bei uns „Verständnis für Menschen, die sich ihre tänzerischen Fähigkeiten mühsam erarbeiten müssen“.
Da bin ich ehrlich gesagt ratlos: Dann dürften wir auch kein Verständnis für uns selber haben, da wir unsere eigenen tänzerischen Fähigkeiten ebenfalls hart erarbeiten mussten. Daher liegt uns die Behauptung fern, wir hätten das Improvisieren „einfach so“ beim Tanzen erlernt. Mit der Einstellung lernt man natürlich gar nichts!
Allerdings hatten wir dabei auch jede Menge Inspirationen und Spaß. Und das lag vor allem an den damals viel günstigeren Rahmenbedingungen. Mehrfach haben wir beide schon betont: Wären wir als Anfänger in die heutige Tangoszene geraten, hätten wir mit diesem Tanz gar nicht erst angefangen. Und ich kenne eine Menge „Zeitzeugen“, die sich ganz ähnlich äußern.
Besonders provokativ wirkte Manuelas abschließende Einschätzung, heute würden nur zwei bis drei Prozent der Tangoleute wirklich improvisiert tanzen. Nun gut, über Zahlen kann man streiten. Ich mag nun aber nicht das hundertste Video einer Tradi-Milonga verlinken, auf der praktisch alle wie geklont am siebten Schöpfungstag ihre eingelernten Schrittelein absolvieren. Das Elend ist doch evident! Der oben zitierte Kollege nennt unsere Aussage „abgehoben“. Ja, können Leute wie wir etwas dafür, dass sich die Szene so entwickelt hat? Wir haben uns die Finger wundgeschrieben, um vor dieser Entwicklung zu warnen!
Das Resümee des Kollegen: „Ich finde es schön, dass es bei euch beiden so funktioniert. Aber für den Rest von uns funktioniert dieser Weg leider nicht.“
Auch da wundere ich mich, wie einer so dezidiert für die restlichen 97 Prozent sprechen kann…
Der Blogger hat nun einen eigenen Artikel zum Thema verfasst, in dem er eine Menge technischer Anregungen zur „Kunst der Improvisation“ bietet und schreibt: „Das konkrete Ausprobieren und Einüben dagegen erfordert sehr viel Zeit und sehr viel Übung und kann daher nur auf vielen, vielen Practica und Milongas erfolgen.“ Der Satz könnte auch von Manuela und mir stammen.
Weiter meint er: „Zur Kreativität kann ich dabei wenig sagen. Ich selber versuche beim Tanzen loszulassen, möglichst wenig nachzudenken und ich lasse das, was die Musik mit meinem Körper anstellt, einfach geschehen. Ich weiß allerdings nicht, ob das bei anderen genauso funktioniert, und ich habe keinen blassen Schimmer, wie man diese Geisteshaltung anderen Menschen erklären oder gar ihnen beibringen könnte.“ Genau da liegt das Problem!
Quelle: https://helgestangoblog.blogspot.com/2023/09/die-kunst-der-improvisation.html
Wie ich schon oft betonte, haben die heute ganz anderen Rahmenbedingungen für einen Austausch der Kundschaft gesorgt: Die Rezepte-Erfinder gingen, die Rezepte-Anwender kamen. Will man die einstigen, viel besseren Lernerfolge zurückhaben, müssten sich die Verhältnisse auf den Practicas und Milongas ändern. Folgende Punkte halte ich dabei für wichtig:
1. Voraussetzung für eine tänzerische Weiterentwicklung sind musikalische Herausforderungen. Die „Förderschul-Aufnahmen“, die heute dominieren, sind oft monoton, öde und langweilig. Und das gilt für die „traditionelle“ Sparte ebenso wie für viele Neolongas. Natürlich muss es Musik auch für die Gäste geben, welche es gerne simpel haben. Aber das Angebot darf sich nicht darin erschöpfen. In den letzten Jahrzehnten gibt es jede Menge musikalischer Neuerungen, die man berücksichtigen könnte.
2. Neulinge müssen in der Szene offen und herzlich aufgenommen werden. Es ist ein Unding, wenn man Anfängerinnen oder sonst wie unbekannte Gäste stundenlang herumsitzen lässt. Gerade sehr gute Tänzerinnen und Tänzer müssen sich ihrer annehmen. Nirgends lernt man so schnell wie beim Üben mit einem erfahrenen Partner!
3. Statt vom „sozialen Tango“ zu faseln, müssen gerade die Veranstalter dafür sorgen, dass sich alle wohlfühlen. Man könnte zum Beispiel einen Neuling den Routiniers vorstellen und bitten, mal mit diesem zu tanzen. Oder es – halten zu Gnaden – selber tun! Asozial dagegen ist es, nur hinter der Kasse, dem Mischpult oder am „VIP-Tisch“ zu sitzen.
4. Belehrungen auf oder neben dem Parkett sind zu unterlassen. Nicht der Anfänger muss sich dem Könner anpassen, sondern umgekehrt. Sonst ist es mit dessen tänzerischen Fähigkeiten nicht weit her.
5. Weiterhin brauchen die Gäste keinerlei Instruktionen, wie das Parkett zu benutzen sei. Die Grundlagen wurden diesen nämlich schon von Mutti und der Lehrkraft des Schultanzkurses beigebracht. Und wie auf der Skipiste haben die „Stars“ auf die Ungeübten aufzupassen, nicht andersherum.
6. Das Beharren auf dem „einen, authentischen Tango“ zeugt von Starrsinn und Egozentrik. Alle Tanzstile sind zu tolerieren, auch wenn sie mal exzentrisch und raumgreifend daherkommen. Rücksichtnahme und Respekt sind Schlüsselkompetenzen jeder Milonga.
7. Jede höfliche und freundliche Art des Aufforderns ist völlig in Ordnung und daher zu akzeptieren. Geschäftsgrundlage ist, dass jeder und jede eine Milonga besucht, um zu tanzen. Daher sollte man Körbe nur in krassen Ausnahmefällen verteilen. Und selbstverständlich dürfen und sollen beide Geschlechter Tanzeinladungen aussprechen.
8. Frauen (oder „Folgende“) via Anmeldpflicht von den Veranstaltungen auszuschließen, ist ein grober Anachronismus und daher fehl am Platz. Ebenso männliches Dominanzgebaren oder übergriffiges Verhalten.
9. Anregungen und Kritik dürfen nicht davon abhängen, wie viele Jahre sich jemand im Tango schon „hochgedient“ hat. Die Meinungen und Wünsche von Neulingen sind ebenso zu beachten wie die aller anderen. Und der Veranstalter sollte sich um solches Feedback bemühen.
10. Abweichende Ansichten sollten als Ausweis der Meinungsvielfalt begrüßt werden und nicht dazu führen, dass man Leute ignoriert und aus der Szene ausschließt.
Sicher war „früher nicht alles besser“ – weder 1940 noch im Jahr 2000. Aber wer heute nach Veranstaltungen sucht, welche den obigen Kriterien entsprechen, wird sich schwertun. Wir hatten vor über 20 Jahren das Glück, bessere Lernbedingungen vorzufinden – und eine Umgebung, die wirklich sehr oft Spaß machte. Daher meine ich schon, man müsste beim Tango vieles um gut 20 Jahre zurückspulen.
Das ist jedoch nicht unmöglich. Leider aber sitzen viele in der jetzigen Tangopopulation lieber auf ihrem Hintern und erwarten die Angebote der Tangoindustrie, anstatt selber aktiv zu werden. Es kann doch nicht so schwer sein, mal eine Tango-Übungsgruppe oder eine kleine, private Milonga zu organisieren, statt stets auf die Segnungen von oben zu warten! Oder den Veranstaltern mal ein Feedback zu geben, was sie anders machen könnten.
Seltsam, dass „Tangogrößen“ in ihrer Werbung unwidersprochen ein ums andere Mal behaupten können, sie seien die absoluten Superstars – während „Niemande“ wie Manuela und ich sofort der „Abgehobenheit“ geziehen werden, wenn sie berichten, auch was hingekriegt zu haben…
Als ich dieses Phänomen heute Morgen mit Manuela besprach, meinte sie:
„Der Vorteil am ‚Niemand Sein’ ist, dass einen der Zyklop nicht erwischt!“
P.S. Wer den Gag nicht verstehen sollte:
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