Was Ihnen Ihr Tangolehrer nicht erzählt… 28

 Wie lernt man im Tango Improvisation?

Zu meinem letzten Artikel fragt mich nun ein Blogger-Kollege auf Facebook:

OK, das Problem habe ich verstanden. Aber was genau ist jetzt dein Vorschlag für die Lösung dieses Problems? Wie bringt man den Leuten bei, zu improvisieren? Die Lösung kann ja wohl kaum darin liegen, dass man erstmal alle 10 Standard- und Latein-Tänze beherrschen sollte, bevor man mit Tango Argentino anfangen kann.

Ich meine, die Männer, die vor 120 Jahren in Buenos Aires Tango getanzt haben, hatten im Allgemeinen ja auch keine klassische Tanzausbildung, oder? Dann muss man die Improvisation doch offenbar auch ohne solch eine umfassende Vorbildung lernen können.“

Nicht mal die Damen.

Nun, ich war damals noch nicht dabei, vermute aber, viele werden ähnlich herumgehampelt sein wie heute. Waren sicherlich fast alles Laien, denn Tanzunterricht war zu der Zeit den besseren Kreisen vorbehalten. Für Proleten also schlicht zu teuer. Wobei es wahrscheinlich ist, dass die Typen vor 120 Jahren öfter und intensiver getanzt haben – beim dort herrschenden Frauenmangel war das wohl für die Männer ein wichtiger Selektionsfaktor. Dann wird man fast automatisch besser.

Und für manche Mädels war die Bewegung auf dem Parkett eine wichtige Einnahmequelle, da sie als „Taxitänzerinnen“ arbeiteten. Auch das fördert die Tanzkünste.

Als der Tango dann von den Rotlichtkneipen in die großen Ballsäle geriet (also in der berühmten „Goldenen Epoche“), gab es halt viele Verrückte, die fast jeden Abend tanzen gingen. Es existierten ja damals auch noch nicht die heutigen unzähligen Möglichkeiten, seine Freizeit zu verbringen. Schon gar nicht, wenn man wenig Geld hatte.

Damit wären wir schon bei einem wichtigen Faktor, wie man Improvisieren lernt: Zeit. Unter einigen tausend Stunden auf der Piste wird das nichts. Garantiert!

Weiterhin muss man wissen, dass es vor 70 oder 80 Jahren kaum Veranstaltungen gab, auf denen nur Tango gespielt wurde – weder in Deutschland noch in Buenos Aires. Dort traten bei größeren Events mindestens zwei Orchester auf: eins für Tango, das andere mit „Otros Ritmos“ – je nach Dekade Latino-Rhythmen, Swing, Rock’n’Roll – oder was halt grade angesagt war. Zwischen den Auftritten ging der Vorhang zu – das war die berühmte „Cortina“! Und hierzulande hatte ein Orchester eine Vielzahl von Tänzen im Repertoire. Das heißt, man musste einigermaßen tanzen können – worauf auch immer. Das „One Trick Pony“, das lediglich Tango kann, ist eine Entwicklung der letzten 20 Jahre.

Was natürlich nicht heißt, dass man das gesamte „Welttanzprogramm“ draufhaben muss – aber halt immerhin so viel, dass die „anderen Rhythmen“ einen nicht in die Flucht schlagen! Und ich kann mich nur wiederholen: Tanzen ist Tanzen – egal in welcher Sparte. Letztlich bringt einen alles weiter als das heutige Spartendenken, wonach es nur Tango, Vals und Milonga gibt!

Und wer mehr Tanzarten draufhat, kann sich zwecks „Improvisation“ bei diesen bedienen. Ist man beispielsweise im Quickstep geübt, kann man Grundelemente in die Milonga übernehmen. Vielfalt ist eben auch hierbei hilfreicher als Einfalt.

Ich empfehle, sich einmal mit den Biografien berühmter Tangotänzerinnen und Tänzer zu befassen: Die meisten von ihnen haben nicht nur Tango gelernt, sondern auch andere Tänze – ob nun Folklore, Ballett, Boogie oder Standardtanz. Ebenso kenne ich in meinem persönlichen Umfeld kaum sehr gut Tanzende, welche sich in ihrem Leben auf dem Parkett ausschließlich mit Tango beschäftigt haben.

Weiterhin hängt es sicher auch von der Begabung ab, ob man mit dem Improvisieren weiterkommt. Zwanghafte Naturen, die überall eine „Ordnung“ benötigen und alles in Schubladen stecken müssen, haben da weniger Chancen. Wer nur einen Hammer hat, für den ist halt jedes tänzerische Problem ein Nagel.

„Wie bringt man den Leuten bei, zu improvisieren?“ In dieser Frage schwingt ein wenig die urdeutsche Vorstellung mit, wer etwas lernen wolle, solle halt einen Kurs buchen. Ich fürchte, das ist bei dem Thema ungefähr ebenso erfolgreich wie ein „Workshop: Sei spontan!“ Oder die Veranstaltungen, in denen man dem gemeinen Volk in 90 Minuten beibringen will, „musikalisch zu tanzen“.

Ich meine, Improvisation klappt nicht ohne eine gehörige Portion Eigeninitiative. Man muss sich trauen, aus dem gelernten Figurenrepertoire auszubrechen und etwas Eigenes zu versuchen. Auch auf die Gefahr hin, dass es schiefgeht – und ich verspreche: Das wird öfters passieren. Und man darf sich nicht um die scheelen Blicke scheren, die einen dann treffen. Ich kenne das nur zu gut: Wenn ich mit Karin (oder einer anderen, sehr guten Tänzerin) das treibe, was wir gerne „Unfug“ nennen, fallen wir in gewissen Kreisen automatisch durchs Raster. Meine Partnerin muss sich damit abfinden, von gewissen Herren nicht mehr aufgefordert zu werden. Und auch ich muss mir dann sehr gut überlegen, wen ich zu einem Tanz bitte – sonst läge ein Korb im Bereich des Wahrscheinlichen!

Man muss also Mut zum eigenen Stil haben, selbst wenn man dann, wie ich, immer wieder im Internet lesen darf, gar nicht tanzen zu können.

Weiterhin führt kein Weg daran vorbei, es mit sehr vielen verschiedenen Partnerinnen (oder auch Partnern) zu probieren. Je weniger man einander kennt, desto öfters kommt es zu unvorhergesehenen Situationen, die man hinbekommen muss. Dabei lernt man Krisenbewältigung – und die funktioniert ohne Improvisation kaum. Das Wort leitet sich ja vom italienischen „improvviso“ ab, also dem „Unerwarteten“.

Das gilt vor allem auch für die Musik: Im Tango tanzt man heute am liebsten zu den altbekannten Hits, möglichst in historischen Aufnahmen. Ein Tangolehrer hat mal von „Voraushörbarkeit“ gesprochen – man müsse also wissen, was kommt. Das beruhigt zwar die Nerven, verhindert Improvisationen jedoch zuverlässig. Moderner Tangomusik – vor allem natürlich der von Piazzolla – wird eine solche Zuverlässigkeit abgesprochen. Sie sei „untanzbar“ oder jedenfalls schwierig zu tanzen. Aber nur so lernt man, aus dem Stegreif, also im Moment zu reagieren. Sorry, einfacher ist das nicht!

Und man braucht – auch weil ja etwas schiefgehen kann – genügend Platz. Auf vollgestopften Tanzflächen kann man höchstens das blitzschnelle Ausweichen vor anderen Paaren lernen. Das ist aber in erster Linie nervig und nicht lustig.

Vieles an der heutigen Tangorealität führt eindeutig weg von der Improvisation: Fantasievollere Bewegungen (wie Boleos oder Ganchos) sind verpönt. Raumgreifende Aktionen sowieso. In den Kursen werden genormte Schrittmuster verkauft. Ständiges Aneinanderkleben im Paar verhindert viele Bewegungsoptionen. Man hat vor dem Auffordern erst einmal zu hören, was kommt – und soll es dann mit seiner Lieblingspartnerin für das jeweilige Orchester umsetzen. Das Auffordern unbekannter Tänzerinnen wird als hohes Risiko betrachtet. Die Frauen sollen ausschließlich das tanzen, was der Mann führt. Schwierigere Musik wird nicht aufgelegt.

Ja, um alles auf der Welt: Wie soll man dann improvisieren lernen?

Daher kann ich auf die Ausgangsfrage nur zusammenfassend antworten: Man muss dem heutigen Mainstream so weit wie möglich aus dem Weg gehen!

P.S. Ob man so die Kunst der Improvisation" lernt? Und ob die zu reden aufhört, wenn man ihr hinten die Batterie rausnimmt?

Kommentare

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