In Buenos Aires gewesen?
Immer wieder hört man in Tangokreisen, man könne bei unserem Tanz erst mitreden, wenn man zu den „IBAGs“ gehöre („In Buenos Aires gewesen“).
Nun gehört es zur deutschen Tradition, immer wieder in andere Länder aufzubrechen – und man darf froh sein, dass dies inzwischen nicht mehr in kriegerischer Absicht erfolgt.
Persönlich gehöre ich zur kleinen Fraktion der Reiseskeptiker. Der alljährliche Fernwehkoller kann ja zwei Motive haben: Wohin zu gelangen oder von wo weg zu kommen. Behauptet wird meist das Erste – ich fürchte, in vielen Fällen gilt eher der zweite Antrieb: Menschen, die mit ihren heimischen Lebensumständen unzufrieden sind, treibt es in die Ferne – koste es, was es wolle! Selbst zu Corona-Zeiten waren die Deutschen kaum davon abzuhalten, ihre Viren weltweit zu verbreiten oder Erreger mit nach Hause zu nehmen.
Wenn ich vor allem zur Sommerzeit auf der Terrasse sitze und unseren wunderschönen Garten bewundere, pegelt sich meine Reiselust auf einem Minimum ein. Auch in jüngeren Jahren fand ich oft, der ganze Aufwand des Planens und Packens sowie die lange Fahrerei seien die Erlebnisse in der Ferne nicht wert gewesen. Und in meinem fortgeschrittenen Alter mag ich mir diese Strapazen erst recht nicht mehr antun.
Immerhin habe ich bei meinen Fahrten zu den zirka 1100 Auftritten als Zauberer und Moderator eine Vielzahl von Kilometern abgespult, ebenfalls bei den über 3000 Besuchen von Milongas. Und nicht nur die Buchlesungen führten uns quer durch die Republik, wo wir eine Vielzahl von Tangoszenen kennenlernten.
Inzwischen überlege ich es mir genau, ob ich zu Tangozwecken länger im Auto sitzen soll – und geflogen bin ich in meinem Leben noch nie. Und im Gegensatz zu früheren Zeiten erlebe ich an den meisten Orten sehr ähnliche Musik- und Tanzverhältnisse. Warum also in die Ferne schweifen, wenn das Schlechte liegt auch nah? Meine persönliche CO2-Bilanz dürfte daher modernsten Ansprüchen genügen.
Dennoch: Obwohl es eine Menge Kerosin kosten würde – warum nicht einmal nach Buenos Aires reisen, die „Tangokultur“ sowie den „authentischen Tango“ an der Quelle kennenlernen? In meinem Tangobuch verglich ich das mit der Sehnsucht der Moslems, einmal im Leben die Pilgerfahrt („Hadsch“) nach Mekka zu erleben – kennen wir als Karl May-Leser doch von „Hadschi Halef Omar“!
Bekanntlich ist der deutsche Ocho-Lernende ein „Latino Lover“: Auf Milongas kriegt man die Bude voll, wenn Musikgruppen mit spanisch klingenden Namen auftreten, und Tangolehrer mit lateinamerikanischem Background können höhere Gebühren verlangen – inzwischen sogar, wenn die sich keinen Pferdeschwanz wachsen lassen. Sie haben ja „den Tango im Blut“. Es ist bekannt, dass ich solcherlei Marketing für „Latrino-Parolen“ halte.
Urdeutschen Followern bleibt dann nur, sich fürs DJ-Mischpult ein spanisches Pseudonym zuzulegen, sein Tanzinstitut mit südamerikanischem Flair zu benennen oder zumindest eine Liste von argentinischem Lehrpersonal zu veröffentlichen, bei dem man sich eine Infusion mit dem Tangovirus geholt habe. Sozusagen als „Nicht-Ariernachweis“…
Dagegen habe ich stets ein Dimmen in den Pupillen-Sternchen von Tangueras erlebt, wenn ich ihre Frage, ob ich schon mal am Rio de la Plata war, mit einem Nein beantworten musste. Nun gut – ich bin halt einer der wenigen, welche sich im Tango als „Illusions-Killer“ betätigen!
Klar, die Angebote sind schon verlockend: Schon lange gibt es in der argentinischen Hauptstadt spezielle Hotels oder Pensionen für Tango-Touristen – inklusive einem Übungsraum für Lernvorgänge. Und der Tangolehrer kommt auf Wunsch (und wohl gegen Extra-Gebühr) ins Haus. Nachts wird man dann von kundigen Reiseführern durch die „Geheimtipp-Milongas“ geschleift. Dort stehen auf Extra-Anforderung auch garantiert landeseigene Taxi-Tänzer/innen bereit, welche die Gäste aus Castrop-Rauxel übers Parkett schwenken. Und sollte es gar nicht anders gehen, tanzt man halt mit anderen ausländischen Gästen.
Eng umschlungen mit einer japanischen Touristin die originäre Tangokultur erkunden? Ach geh…
Irgendwie erinnert mich das an so genannte „Heimatabende“, in denen man im Alpenraum depperte Preiss’n mit krachledern einstudierter Tanzfolklore oder pseudoauthentischem Gejodel abkocht. Oder sie beim „Urlaub auf dem Bauernhof“ mit „Original-Landleben“ verarscht. Das Kabarett-Talent Martin Frank bietet dazu eine tränentreibende Nummer:
https://www.youtube.com/watch?v=kMYVYVZwvqo
Daher habe ich in meinem Tangobuch schon vor über zehn Jahren geschrieben:
„Ich werde mir das mit der Reise ernsthaft überlegen, falls ich beobachten sollte, dass Menschen nach ihrem Aufenthalt dort wesentlich besser tanzen als vorher. Bislang liegen mir hierzu jedoch keinerlei Anhaltspunkte vor…"
Inzwischen habe ich mit einer größeren Zahl von Frauen getanzt, welche in Buenos Aires waren (und sogar mit echten Argentinierinnen). Signifikante Unterschiede konnte ich nie feststellen. Entweder die konnten schon vorher tanzen, oder sie haben es auch hinterher nicht hinbekommen.
Und für den Besuch „traditioneller Milongas“ mit getrennter Sitzordnung, Cabeceo-Zwang, blechernen Tradi-Geschepper und vollgestopfter Tanzfläche könnte man mir gar nicht so viel Geld bezahlen, als dass ich mich dazu hinreißen ließe!
Was ich auch bei sonstigen Reisen immer wieder feststellte: Zwei Wochen sind viel zu kurz, um Land und Leute wirklich kennenzulernen – dazu braucht es Monate. Sowie eine zumindest ansatzweise Beherrschung der Landessprache. Dann kann ein solcher Aufenthalt tatsächlich gewinnbringend sein. Auch in Buenos Aires – und für den Tango. Schnellbleichen aber bringen wenig bis nichts.
Was mir neulich ein Blogger-Kollege unterstellte, stimmt aber nicht: Dass ich solche Besuche als „rausgeschmissenes Geld“ betrachten würde. Schon deshalb nicht, weil viele Argentinier (und deutsche Reisveranstalter) vom Tangotourismus leben. Und die haben es wirklich nicht leicht!
Natürlich will ich niemandem vorschreiben, wie er seinen Urlaub zu verbringen hat. Erwartungen können sich auch erfüllen – und wenn es nur der Placebo-Effekt sein sollte.
Klar, wer gerne reist, findet in der argentinischen Metropole sicherlich genug Interessantes. Ob er dadurch aber seinen Tango verbessert oder gar der „Seele“ unseres Tanzes näherkommt, bezweifle ich.
Ich glaube, die findet man überall auf der Welt, wenn man nur danach sucht. Man braucht dazu die richtige Musik, eine tolle Tänzerin und offene Ohren und Herzen. Letzten Sonntag fand ich sie auf einer Milonga in einem Dorf nahe Freising, als der DJ Piazzollas „Chiquilín de Bachín“ auflegte – und ich zu diesem Traumstück mit der besten Ehefrau von allen tanzen durfte:
https://www.youtube.com/watch?v=yyg1Lwwo1VA
Eine Übersetzung des Textes findet man hier:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2016/12/tangotexte-mussen-nicht-sein.html
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