Tango-Verkehrsordnung
Auf den Tischen von Milongas sowie den Websites diverser Veranstalter findet man öfters
einen Flyer, welcher sich „Tanzfluss im
Tango“ betitelt. Damit ist allerdings nicht der Rio de la Plata gemeint –
vielmehr erhalten wir auf zwei eng bedruckten Seiten Ratschläge zur korrekten
Benutzung des Parketts.
Obwohl uns der Verfasser
schon in der Präambel treuherzig (sowie stilistisch ein bisschen wacklig)
versichert, „Tanzfluss im Tango wurde
sich nicht nur so zum Spaß ausgedacht“, hatte ich beim Lesen einen heftigen
solchen – leider fand sich im Text kein Hinweis darauf, ob dies gestattet sei…
Was den Autor des Traktätchens umtreibt, ist die Sorge, sich beim Tanzen nicht „auf die Musik und den Partner
konzentrieren“ zu können, „wenn man ständig vor Kollisionen auf der
Hut sein muss und die Konzentration komplett für umherschweifende Paare
verbraten wird“.
Zugegeben – man kann sicher gehaltvollere Dinge in die
Pfanne hauen als die (hier offenbar vermuteten) mentalen Fähigkeiten eines
durchschnittlichen deutschen Tangotänzers! Zudem fasst der Autor sehr schön das
generelle Elend des Paartanzes zusammen: Sich mit einem autistischen Partner
von der Musik überfordert zu fühlen und sich auf dem Parkett nicht nur
umherschweifenden Blicken, sondern der Anwesenheit einer größeren Zahl
Gleichbegabter ausgesetzt zu sehen.
In der Folge erhalten wir
eine Auflistung diverser Do’s und Don’ts (zur Verhütung intellektueller
Überforderung mit Grün und Rot markiert), die durch zwei Pfeildiagramme
illustriert werden. Trotz frappierender Ähnlichkeit stellen diese nicht die
Fahrzeugbewegungen auf einem Aldi-Parkplatz zu Ruhe- und Stoßzeiten dar,
sondern die erlaubten und verbotenen Wege auf der Tanzfläche. Die sicherlich
gut gemeinten und mehrheitlich beinahe zutreffenden Regeln erinnern ein wenig
an die Verhaltensrichtlinien, mit denen gutmenschige Grundschulpädagoginnen
gerne die Wandtafel ihres Klassenzimmers schmücken. („Wir melden uns und rufen nicht dazwischen.“)
Eine kleine Auswahl
der tangomäßigen Sonderpädagogik:
„Spurbreite und Anzahl richtet sich nach Raumgröße
und Paaranzahl.“
Echt? Und ich
dachte immer, das hänge vor allem von Mondphase, Sternbild und Erdkrümmung ab…
„Tanzfläche betreten, wenn Platz ist“
Ach komm, macht doch viel mehr Spaß, wenn ich den
Hintermann zu einem Hechtsprung über meine Tänzerin zwinge!
„Nicht so lange warten oder so langsam tanzen, dass
man einen Stau verursacht.“
Nee, das
find’ ich jetzt übertrieben, dann dürfte man ja keine Encuentros mehr
veranstalten!
„Nicht zwischen den Spuren tanzen
(‚Mittelstreifenfahrer’ sind extrem nervig, fast wie auf der Autobahn)“
Ja, fast! Nur
dachte ich bisher, die fahren auf dem mittleren Streifen und nicht in der Mitte
zwischen zwei Streifen. Immerhin entspricht der Vergleich von Tänzerinnen mit
dem anderen männliche Prestigeobjekt, dem Auto, wohl der hierzulande typischen
Verwechslung von „Führen“ mit „Fahren“…
„Nicht einfach in Lücken hineintanzen, wo gerade
Platz ist. Das erzeugt nur Chaos.“ Genau! Wie bei anderen Menschenansammlungen
gehen wir diesen nicht aus dem Weg, sondern stürzen wir uns mitten ins Gewühl,
weil’s da sicher was Interessantes gibt. Und Chaos im Tango – igitt! Gerade
dieser Tanz lebt von strengen Vorschriften, damit kein unkontrolliertes
Vergnügen aufkommt!
„Nicht mit einem Rückwärtsschritt anfangen.“
Ja, schon, aber wieso sehe ich immer wieder Anfänger,
welche die berüchtigte „Basse“ heruntertanzen? Gibt’s diesen Flyer eigentlich
auch in Spanisch?
Insgesamt gehe ich mit dem
Verfasser aber durchaus konform, wenn er feststellt: „Das Spuren-Konzept mag ominös erscheinen. Ist aber so.“ Jawohl!
Auf der Rückseite des Flyers
erhalten wir weitere nützliche Tipps mit den zugehörigen Illustrationen, die von den Zeugen der Ronda in
einem leichten „Wachturm-Stil“ gehalten sind. Wer beispielsweise noch nie ein
sich drehendes Tanzpaar gesehen hat oder nicht weiß, dass man die
Positionen benachbarter Paare mit den Augen wahrnehmen kann, ist hier bestens
bedient.
Ein Ratschlag allerdings hat
mich irritiert:
„Damen: Ganchos und
Boleos nur wenn ihr wisst, dass Platz ist oder ihr eurem Partner vertraut.“
Und
ich dachte immer, beim richtigen Tango sei solche Akrobatik eh verboten! Aber
vielleicht soll uns diese Sentenz ja nur an die Lebensweisheit erinnern, dass
man einem Partner umso mehr vertrauen kann, je weniger Platz er hat…
Schön, weil rätselvoll,
finde ich das abschließende Mantra:
„Ein
Rückwärtsschritt und eine Drehung können zusammen so viel Platz verbrauchen wie
zwei Rückwärtsschritte.“
Nach
stundenlanger Meditation drängt es mich noch, hinzuzufügen:
„Und je öfter man den linken Fuß belastet,
desto länger bleibt der rechte frei.“
Ommm…
Immerhin finden sich im
Internet viele positive Äußerungen zu dem „Flyer“ (hier ein seltsamer Begriff)
– ein Kommentator spricht gar von einer längst überfälligen „Tangoverkehrsordnung“.
Kein Zweifel, in Deutschland muss jede Art von Verkehr geordnet verlaufen, ob
nun auf der Straße, dem Parkett oder sonst wo. Und so ein Zettelchen passt ja
noch auf den kleinsten Nachttisch…
Also, Uff erstmal!
Es wird ja
immer wieder überzeugend dargetan, dass diverse EU-Richtlinien (wie etwa zur
Länge von Gurken oder der zulässigen Bananenkrümmung) ein Vielfaches der Wörter
benötigen, welche sintemalen für die Zehn Gebote ausreichten. Wie wäre es in
unserem Fall mit:
„Treib auf der
Tanzfläche, was du willst, solange du anderen Paaren nicht zu nahe kommst. Und
remple nur diejenigen, welche es verdient haben!“
Howgh, ich habe
gesprochen!
Schleichwerbung: Meine
weiteren Gedanken zur „Nutzung des Raums“ finden sich im „Milonga-Führer“ auf
den Seiten 183-187. Und wer das Blättchen (sprich „Feuilleton“) nochmal in
ganzer Schönheit bewundern will: Einfach nach „flyer tanzfluss im tango“
googeln!
Edit (30.6.22): Das schöne Blättchen habe ich nun leider nicht mehr gefunden (schade aber auch...). Ersatzweise hier eine ähnliche Regelaufstellung:
Anekdoten
(politisch völlig unkorrekt):
Meine Überzeugung, dass die
Gefahren auf Milongas eher außerhalb des Parketts lauern, bewies sich in
jüngster Vergangenheit gleich zweimal.
Zunächst stürzte ich
ziemlich spektakulär von einer finsteren, nur grablichtbeschienenen Treppe im Hausflur einer
Tangolocation. Dank der notfallmäßigen Erstversorgung durch eine begleitende
Krankenschwester konnte einer drohenden längerfristigen Tanzunfähigkeit
erfolgreich begegnet werden.
Im anderen Fall (!) erschien
auf einer ziemlich vollen Milonga eine Tänzerin doch tatsächlich mit einem
Rehpinscher, welchen sie samt Körbchen auf einem der raren freien Couchplätze neben
uns platzierte und uns sodann mit dem hundeartigen Raubtier allein ließ, um als
Herrchen auf der Piste eine Dame zu betanzen. (Grrr… Cassiel, fass!)
Doch die größte Gefahr auf der Piste wird in diesen Tangoführern gar nicht erwähnt: der Geistertänzer. Er tanzt unbesehen rückwärts, nicht etwa nur beim ersten Schritt, nein, in dauerhafter Stetigkeit. Der (vermutete) Grund für den die Allgemeinheit gefährdenden Schwenk: Nach einer ihm ungewohnten Drehung hat der Herr die Orientierung verloren und meint nun, im Besitz der korrekten Koordinaten zu sein. Würde man ihn ansprechen, würde er wohl entgegnen: Ich, ein Geistertänzer? Nee, aber schaut euch mal die anderen an ... Merke: In einem solchen Fall nicht überholen, am äußersten rechten Rand bleiben und am besten die Tanzpartnerin vorsichtig zur Bar lotsen und beiden eine Auszeit gönnen. Meldungen über Geistertänzer nimmt der selbsternannte lokale Tangofunk gern entgegen.
AntwortenLöschenLieber Peter,
Löschenvielleicht hat dies etwas mit der Corioliskraft zu tun, wonach die Rotationsrichtungen auf der Nord- und Südhalbkugel entgegengesetzt sind? Das würde dann auch die tangomäßigen Unterschiede zwischen Argentinien und Europa erklären! Aber davon verstehst du als Physiker sicherlich mehr.
Geisterfahrerdurchsagen auf Milongas fände ich spannender als das übliche Cortinagedudel.
Eine Frage aber bleibt für mich ungelöst: Wie reagiere ich korrekt auf die Mirada eines Rehpinschers?
Nicken, wenn du mit ihm tanzen willst, ansonsten ignorieren!
LöschenDer Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.
AntwortenLöschenLeider musste ich den obigen Kommentar löschen, da die Identität des Verfassers nicht kenntlich war. Wenn Sie Ihre Anmerkung mit wahrem Namen eingeben, lade ich sie gerne hoch.
LöschenAber lieber Gerhard, wegen Quertreibern wie dir wurde ja die Tanzordnung erst eingeführt ! Übrigens klappt das international überall auch ohne Tanzordnung...
LöschenWer eine Tanguera nur deshalb eines Blickes bzw. eines Wortes würdigt, um mit einer anderen tanzen zu können, die – wiewohl gerade auf der Tanzfläche – aber sich demnächst an ihren Platz an just diesem Tisch setzen wird, soll nicht über Benimmregeln und Quertreiberei räsonnieren!
LöschenAlso, da wär' ich jetzt nicht so streng wie meine Frau - man muss eben jeden im Bereich von dessen Möglichkeiten annehmen.
LöschenLieber Gunnar, ist doch schön, dass Du international schon überall warst und uns an Deinem reichen Erfahrungsschatz teilhaben lässt.
Sollte der gelöschte Text auch von Dir stammen, kannst Du ihn gerne nochmals mit dem neuen Mut zur Unanonymität reinstellen, ich würde dazu auch noch gerne etwas sagen.
Allerdings: Selbst wenn es meiner Eitelkeit erheblich schmeicheln würde, wenn ich so einen Einfluss auf "Tanzordnungen" hätte - "eingeführt" wurde da gar nichts (den proktologischen Gag verkneife ich mir tapfer, wir wollen ja seriös bleiben). Vielmehr kursiert in der Szene so ein Blattl, das ich kommentieren wollte. Tanzen allerdings werd' ich weiter, wie es mir beliebt, längs oder quer!
warum denn nur mit "Identität", wenn anonymes Antworten technisch hier möglich ist ?!
LöschenIch lasse die anonyme Frage hier ausnahmsweise einmal stehen, weil sie vielleicht auch für andere interessant ist.
LöschenWas hier technisch möglich ist, kann ich nicht in jeder Hinsicht beeinflussen.
Allerdings ist nicht alles technisch Mögliche für mich auch wünschenswert, z.B. Kernkraftwerke, Landminen oder anonyme Kommentare.
Nach sehr schlimmen Erfahrungen auf anderen Blogs erwarte ich auf meinem Forum, dass sich jeder zu seinen Äußerungen bekennt - Schluss und Ende der Durchsage!