Stravaganza

 

Ich bin Thomas Kröter sehr dankbar, dass er gestern auf Facebook ein Video verlinkte, das mich an ein ganz besonderes Tangopaar erinnerte:

Ich kann mich noch entsinnen, dass mir schon in meiner Tango-Frühzeit das „Duo Stravaganza“ aufgefallen war: Sie zeigten einen ziemlich gegen den Strich gebürsteten Tango unter maximaler Ausschöpfung von Bewegungsoptionen. Weit entfernt von den einschlägigen Klischees. „Extravaganz“ eben.

https://www.stravaganza.de/

In den letzten Jahren habe ich Ulrike Schladebach und Stephan Wiesner (so die bürgerlichen Namen) völlig aus dem Blick verloren. Ich vermutete, die beiden hätten aufgehört: Erstens dürften sie inzwischen Mitte Sechzig sein, und zweitens liegt ihre eigenwillige Interpretation sperriger Musik heute nicht gerade im Trend.

Aber nein, so erfuhr ich gestern: Es gibt sie noch! Auf dem besagten Video tanzen sie 2021 zu Piazzollas „Tristeza de un Doble A“ – live gespielt vom „Modern Tango Quintet“:

Robert Schmidt, Piano

Christian Gerber, Bandoneon

Wolfram Korr, Violine

Gabriel Battaglia, Gitarre

Winfried Holzenkamp, Kontrabass

Astor Piazzollas „Traurigkeit des Doble A“ bezieht sich auf das Instrument Nummer eins des Tango – das Bandoneon. Bekanntlich gelten die Instrumente der einstigen Carlsfelder Manufaktur von Alfred Arnold (daher das doppelte A) nach wie vor als die besten ihrer Art. Die Größen dieser Zunft, natürlich auch Astor Piazzolla, haben auf solchen Instrumenten gespielt. Die „Doble As“ aus der sächsischen Bandoneónfabrik, die von 1911 bis 1948 existierte, werden als die „Stradivaris“ dieser Handzuginstrumente angesehen. Bis heute gelang kein Nachbau, der zu einer vergleichbaren Klangqualität führte.

https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Arnold_(Unternehmen)

Das 1984 entstandene Stück gehört zu den Piazzolla-Titeln, welche den Ruf der „Untanzbarkeit“ seiner Musik gefestigt haben. Sicherlich eines seiner komplizierten Werke. Immerhin beweist das „Duo Stravaganza“: Klar kann man dazu tanzen – wenn man’s kann! Und eine Mega-Leistung für jeden Bandoneon-Spieler. Kompliment!

Doch bilden Sie sich Ihr eigenes Urteil! Hier das Video:

https://www.youtube.com/watch?v=KWGwTXoOSr0

Worüber ich mich gestern unfassbar geärgert habe, ist der Kommentar einer Leserin:

Was ist das denn, bitte?“

Sollte die Frage ernst gemeint sein, finde ich sie ausgesprochen dämlich: Was es ist, kann man in der Video-Beschreibung auf YouTube nachlesen. Auf Nachfrage liefert die Dame Näheres:

„Ich verstehe, dass es eine Performance ist, für mich ist das aber das Gegenteil vom Tango, null Ästhetik, keine Geschmeidigkeit oder Leichtigkeit, einfach nur schrecklich anzusehen.“

Halten wir also fest: Tango hat ästhetisch, geschmeidig und leicht zu sein – sonst ist es keiner. Aber wie soll man aus Piazzollas Musik „Leichtigkeit" heraushören?

Ein anderer Leser stimmt zu:

„Zu wenig Geschmeidigkeit, ihr Stil seit 20 Jahren unverändert...“

Irrtum: Es sind 37 Jahre.

Weiterer Kommentar:

„Die Musik mag ich, aber die Tanzshow gefällt mir nicht, zu viel Turnerei. Weniger ist mehr...

Tja, bei den heutigen Tangoverhältnissen sollte man hinzufügen: Nichts ist dann wohl alles…

Die ursprüngliche Fragerin relativiert in der Folge ihre Aussagen: Sie bestreite gar nichts, es gefalle ihr halt nicht. Und das wird man doch noch sagen dürfen!

Quelle: https://www.facebook.com/thomas.kroter.5 (Post vom 25.1.23)

Aber sicher ist das erlaubt! Meinungsfreiheit bedeutet, dass man – bis auf Strafbares – jeden Blödsinn behaupten kann. Nur ist man dann ebenfalls nicht vor Kritik geschützt. Und die kommt jetzt:

Ich habe in all den Jahren unzählige Male erlebt, dass man in der konservativen Tangoszene bei Auftauchen ungewöhnlicher Ausdrucksformen sofort die Reißleine zieht: Das sei gar kein Tango (oder sogar dessen Gegenteil). „Rassenkundler“ erklären uns also, was der „reine Tango“ sei – und nicht der durch Fremdeinflüsse verfälschte. Damit verdient man sich stets die Eintrittskarte auf mein Blog.

Sollte es die geistige Kapazität dieser Herrschaften nicht überfordern, könnten sie sich einmal anhand der Tango-Geschichte informieren, welche musikalischen und tänzerischen Ausdrucksformen es im Tango seit über 100 Jahren gibt. Auf meinem Blog stünden hierzu 35 Artikel zur Verfügung:

https://milongafuehrer.blogspot.com/search/label/Tango-Geschichte

Dankenswerterweise hat gestern die Tangolehrerin und Veranstalterin Stefanie Stenzel ein Video verlinkt, das Anfang der 1930er Jahre den legendären Tänzer El Cachafaz zeigt. Sein Tangostil würde wohl heute im restaurativen Tangosegment für helle Empörung sorgen:

https://www.youtube.com/watch?v=pTfwzCBNKAY

Natürlich ist Kritik an Tango-Vorführungen erlaubt, oft sogar dringend nötig. Nachdem ich das selber betreibe, bin ich der Letzte, welcher Derartiges für unstatthaft hielte. Und wer sich öffentlich präsentiert, muss damit leben.

Ich halte es aber für schlechten Stil, die Betroffenen in sozialen Medien mit ein, zwei Sätzen abzuwatschen. Auch als schlecht angesehene Musiker, Autoren oder Tänzer haben meist jahrelang geübt, sich bemüht und auf vieles verzichtet. Da gebietet es der Anstand, eine differenzierte und detaillierte Besprechung zu liefern und sein negatives Urteil fundiert zu begründen. Beispielsweise habe ich auf Amazon“ zwar zahlreiche Bücher rezensiert, kam aber noch nie auf die schlechteste Wertung (ein Stern). Der Grund: Ich weiß, welche Mühe es kostet, ein Buch auf den Markt zu bringen – da scheint mir ein Minimum an Respekt nicht verkehrt.

Und gerade im Tango können wir doch vor lauter „Achtsamkeit“ kaum laufen, geschweige denn tanzen, oder? Die scheint jedoch vergessen, wenn wir der Kollegin oder dem Kollegen vom anderen Tangoufer“ eins überbraten können…

Im vorliegenden Fall kommt erschwerend hinzu: Ich mag den künstlerischen Stil des „Duo Stravaganza“. Tango mal nicht in Gestalt des dekorativen Weibchens, welches den hehren Macho pflichtschuldigst umkreiselt – sondern ein „Kampf der Geschlechter“ auf Augenhöhe: mit Kraft, Dynamik und manchmal sogar Aggression. Ein wenig erinnert mich das an ein anderes, nicht weniger exzentrisches Tangopaar: Cappussi und Flores.

Klar, die beiden sind nun älter geworden und haben ihre artistischen Einlagen reduziert. Das muss kein Fehler sein. Wofür ich sie aber bewundere: Sie haben in der ganzen Zeit ihren persönlichen Stil bewahrt. Dies ist beim heutigen Trend im Tango hin zu plüschig-verlogenem Geschleiche nicht hoch genug einzuschätzen. Vor sieben Jahren haben sie in einem Video Höhepunkte ihres künstlerischen Schaffens zusammengestellt. Mich jedenfalls macht das atemlos: 

https://www.youtube.com/watch?v=6EHy3XycHDU

Und nachdem ich gestern wieder eine „traditionelle“ Milonga erlebt habe, kann ich nur sagen: Der Tango braucht heute jede Menge „Stravaganza“!

Kommentare

  1. Auch Tango lebt von Entwicklung, niemand tanzt heute wie vor 90 Jahre oder wie Copes seinerzeit, auch nicht mehr wie vor 37 Jahren...

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    1. Klar, und weil der Tango von der Entwicklung lebt, tanzt man heute weitgehend zu 80 Jahre alten Aufnahmen...

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  2. DANKE für diesen wirklich treffenden Text über die wundertoll exzentrischen Stravaganzas! Ich mag für alle die, die die beiden nur über ihre kämpferisch angehauchten, artistischen Bühnenauftritte kennen ergänzen: Ulrike und Stephan sind auf Milongas ausgesprochen zahme und sehr umsichtige Tänzer und unterrichten in ihren leider seltenen Kursen einen sehr auf achtsam innigen Tango gerichteten Stil, der auch mit kleinen Bewegungen große Gefühle ermöglicht. Bei den beiden ist sehr deutlich, dass es einen himmelweiten Unterschied gibt zwischen effekthaschendem Bühnentango und dem nach innen gerichteten Tangoerleben auf Milongas.

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    1. Lieber Tom Opitz,

      vielen Dank für Deinen Kommentar! Es tut mir leid, dass Du Probleme mit dem Einstellen hattest. Ich empfehle stets, die Anmerkungen unter "anonym" zu verfassen und dann mit vollem Namen zu unterzeichnen.

      Tatsächlich habe ich nicht vermutet, dass Stephan und Ulrike auf den Milongas so tanzen wie auf der Bühne. Wie das mit dem "nach innen gerichteten Tangoerleben auf Milongas" ist - na ja, da haben wir beide wohl etwas unterschiedliche Ansichten.

      Beste Grüße nach Berlin
      Gerhard

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  3. Gestern hat Thomas Kröter – nach langer Zeit, wieder einmal einen Artikel von mir auf Facebook verlinkt: diesen hier.

    Einerseits bin ich dafür dankbar, denn das steigert natürlich die Zahl der Zugriffe. Andererseits ahnte ich schon: Das wird nicht gutgehen!

    Ich sollte (sorry) mal wieder Recht behalten. Solche Foren werden dann gerne von meinen Gegnern benutzt, um kräftig über mich herzuziehen.

    So schrieb gerade die Berliner Veranstalterin und Tangolehrerin Ines Moussavi:
    „Ich finde diesen oberlehrerhaften, besserwisserischen Riedl einfach grauenvoll, sorry!“

    Meine Antwort:
    „Mir geht es da umgekehrt: Ich mag zickige Tanzlehrerinnen. Ohne die hätte ich weit weniger Satire-Stoff.“

    Schauen wir mal, wie es weitergeht. Thomas Kröter lässt zwar auf seiner Seite Beschimpfungen gegen mich manchmal stehen, mag es aber nicht, wenn ich mich wehre.

    Ich werde weiter berichten!
    Gerhard Riedl

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