Nachruf: Milonga "Tango im Fluß"
Heute findet die letzte Milonga statt, die Christiane Solf und Sven Frais in der Regensburger Pustet-Passage organisieren. Offenbar war für das Ende vor allem die Corona-Krise verantwortlich, so dass man die Miete für den großen Tanzsaal im Keller nicht mehr stemmen konnte.
Seit dem Jahr 2000 gab es dort wöchentliche Tangoveranstaltungen – und auch diverse Kurse und Workshops. Karin und ich lernten die Location zirka zwei Jahre später kennen, als wir Unterricht und Sozialverhalten des Regensburger Lehrerpaars Kröniger zunehmend als krisenhaft erlebten. Es gebe aber, so erfuhren wir hinter vorgehaltener Hand, in der Oberpfälzer Metropole auch Milongas eines anderen abtrünnigen Tangopaars, welche sehr zu empfehlen seien.
Den „Fluss“ (den die beiden bis heute nicht mit Doppel-S schreiben) suchten wir allerdings vergeblich. Der Name leitete sich wohl eher von der Vorstellung ab, der Tango sei im Fluss der Musik zu tanzen. Ja, wie denn auch sonst?
Der erste Eindruck des Tanzsaals, zu dem man über eine Treppe mit zunehmend abblätternder Farbe gelangte, war gewinnend – ebenso die Musik und das Verhalten der Gäste. Arroganz oder Statusdenken haben wir dort nur selten erlebt.
So waren wir sicher über hundert Mal bei Christiane und Sven tanzen. Wir haben Abende mit sehr wenig Gästen erlebt, ebenso wie Events, bei denen der Laden proppenvoll war. Auch längst vor Corona gab es ein häufiges Auf und Ab. Ich kann mich aber nicht erinnern, auch nur einmal unzufrieden oder gar frustriert nach Hause gefahren zu sein.
Das galt nicht für die anderen Regensburger Milongas, wo wir oft genervt waren oder sogar nach einigen Versuchen wieder wegblieben. Einmal sagte ich bei der Heimfahrt zu meiner Frau: „Was immer diese Leute hierher treibt – Tango kann es nicht sein!“
Das große Verdienst des „Tango im Fluß“ war es, ziemlich resistent gegen die allfälligen – meist ideologisch gestrickten – Tangomoden zu bleiben. Es gab halt relativ interessante Musik – und eine Menge Leute, die einfach tanzen wollten. Im Lauf der Zeit gestaltete man Tangoabende mit unterschiedlichen Musikrichtungen, auf dass alle Besucher mal „ihre“ Klänge finden konnten. Spezielle Cliquen (auf vielen Milongas die Regel) erlebte man nur selten. Ebenso blieb man von den üblichen Tango-Versatzstücken wie Verlosungen, Verkaufsangeboten oder argentinischen Gastlehrern weitgehend verschont.
Und man musste auch nicht befürchten, sich einen Korb einzufangen, weil man nicht zu den „richtigen Leuten“ gehörte. Es wurde kreuz und quer aufgefordert und mit viel Spaß getanzt.
Schon vor der Corona-Krise hatte ich den Eindruck, dass der „statusbewusste“ Teil der Tangoszene die Tanzabende in der Pustet-Passage eher mied. Ich fürchte aber, die Probleme hatten auch mit den Gastgebern zu tun.
Christiane ist eine sehr freundliche, aber auch total introvertierte Person – sie ist Lichtjahre davon entfernt, Gäste anzusprechen oder gar mit ihnen zu tanzen. Sven ist da aufgeschlossener. Er fordert gerne Besucherinnen auf und hat auch öfters mit mir gesprochen. Mit ihm zu reden ist mir jedoch nie gelungen. Was ich ebenfalls schade finde: Man sah die beiden nur äußerst selten auf anderen Veranstaltungen. Ich hatte immer den Eindruck, die beiden verkröchen sich in „ihrem“ Revier.
Generell waren Christiane und Sven Neuerungen abhold: Auf ihrer Website, die einen geradezu antiken Eindruck macht, prangen Fotos aus der Gründerzeit. Live-Musik war eine Rarität (aber immerhin hatte Karin das Glück, dort zweimal auftreten zu dürfen). Erst viel zu spät verpflichtete man fallweise andere DJs – meist legten die Hausherren auf: nicht gerade ihre Stärke. Das Musikprogramm war nett und gefällig, in Verzückung geriet ich allerdings nur, wenn Andreas Groll gelegentlich mal DJ sein durfte.
Irgendwie vermisste ich die Initiative, mal etwas Neues, vielleicht sogar Unkonventionelles zu probieren, neue Besuchergruppen anzusprechen. Auch, sich mehr in den Vordergrund zu spielen. Man muss ja nicht gleich den Beyreuther geben – aber sich hinter dem Status Quo zu verstecken ist keine gute Idee.
Insgesamt glaube ich, man hätte mit mehr Mut und Aktivität die Corona-Krise überstehen können. Aber 22 Jahre sind auch eine verdammt lange Zeit, die man erstmal hinbekommen muss.
Daher mein Fazit: Christiane und Sven haben sich – allen Unzulänglichkeiten zum Trotz – um die Tangokultur mehr Verdienste erworben als viele, welche diesen Begriff lediglich im Munde führen. Mir bleibt nur, ihnen für die vielen schönen Tangoabende herzlich zu danken. Und ihre Kurse und Practicas werden ja weitergehen.
Dass im Oktober 2022 nun auch unsere Wohnzimmer-Milonga
zum letzten Mal stattfand, war sicherlich alles andere als geplant. Eine
gewisse Parallele ist allerdings nicht zu übersehen: Es ist nicht gut, sich gegen den Mainstream zu sperren.
In ihrer Abschieds-Mail schreiben die Gastgeber:
„Für die Zukunft wünschen wir uns, dass der Tango lebendig bleibt und sich weiterentwickelt.
Dass er tänzerisch, musikalisch und auch sozial wieder mehr zu einem Freiraum wird, wo Vielfalt, Improvisations- und Experimentierfreude sich jenseits allzu starrer Regeln, Vorschriften und Hierarchien munter entfalten können.“
Dem kann ich nur aus vollen Herzen zustimmen. Ich meine aber auch: Wäre das in ihrer praktischen Arbeit noch deutlicher geworden, könnte der Tango weiterhin im Fluß bleiben.
P.S. Ich habe nur zwei Videos der beiden gefunden (aus dem Jahr 2008!). Immerhin sieht man auf diesem das Lehrerpaar und den schönen Tanzsaal:
vielleicht spielen bei der miete auch schon die gestiegen preise für heizung und strom ein rolle. etwas, was noch auf viele milongas zukommen wird.
AntwortenLöschenmit bedauern
andreas lange
Mag alles sein.
LöschenIch kann nur immer wieder raten, es sich genau zu überlegen, ob man den Tango kommerziell nutzen möchte. Meiner Ansicht nach ist die Branche dafür zu klein.
ist es für dich auch kommerziell, wenn ein tangoverein einen raum anmietet, eine veranstaltungsversicherung abschließt und technik kauft oder mietet um eine milonga zu veranstalten?
Löschenguten morgen
andreas lange
Wenn es ein gemeinnütziger Verein ist: nein. Dann genießt man ja auch steuerliche und andere finanzielle Vorteile. Und Mitgliedsbeiträge.
LöschenBei der Technik ist zusätzlich die Frage, ob es den vielen Schnickschnack wirklich braucht. Vor allem, wenn man lediglich 80 Jahre alte Musik spielt. Und flackernde Lichtorgien gehen mir eher auf den Geist als dass sie mich zum Tanzen animieren.
du meinst mit kommerziell also alles was nicht rein ehrenamtlich/unentgeltlich erledigt wird?
Löschenandreas lange
Kommerz ist ein auf Gewinn bedachtes wirtschaftliches Handeln - siehe Wikipedia.
LöschenIn gemeinnützigen Vereinen gibt es durchaus die Möglichkeit einer Spesenerstattung oder Aufwandsentschädigung. Gehälter oder Honorare dagegen nicht.
was wäre der tango heute, wenn er all die zeit nur nach der arbeit oder von rentnern und pensionären als hobby betrieben worden wäre? nichts.
Löschenandreas lange
Aha: nichts...
LöschenIch weiß nicht, ob du vor 20 und mehr Jahren schon Tango getanzt hast. Da war Tango noch ein wunderschönes Hobby - mit Tanz und Musik im Mittelpunkt. Und ohne das ganze Gedöns von Festivals mit Büfetts, Ausstattungsartikeln, Tango-Kreuzfahrten, einer Unterrichtsbranche, die wenig bewirkt und dem ganzen VIP-Getue.
Es ist eine aktuelle Wahnvorstellung, dass man viel Geld braucht, um Tango zu tanzen. So ist dieser Tanz aber nicht entstanden - und es macht auch nicht seine Faszination aus.
welche musik denn bitte, wenn es keinerlei professionelle tango musiker und orchester gegeben hätte und geben würde? und welchen tanz denn bitte wenn es nie professionelle tänzer oder lehrer gegeben hätte odr geben würde?
Löschenguten morgen
andreas
deine mißgunst gegenüber menschen, die ihren lebensunterhalt mit tango verdient haben und verdienen bleibt mir unverständlich. du bist doch kein mensch der sein leben lang vom sozialamt gelebt hat. du hast von deiner arbeit gelebt. hast du deine arbeit so sehr gehasst oder war sie so unerfreulich, dass du neidisch auf menschen bist die freude an ihrer arbeit haben?
Löschenguten morgen
andreas
Von mir aus darf jeder und jede sein (oder ihr) Geld verdienen womit er (oder sie) es will - wenn es denn legal ist. Da hege ich keinerlei Missgunst.
LöschenIch bitte nur zu bedenken, dass es Branchen gibt, die sehr klein oder überlaufen sind und daher nicht unbedingt ein materiell ausreichendes Leben ermöglichen.
Es wollen halt viel mehr Leute Sänger, Musiker, Schauspieler oder Tangoveranstalter werden als die Umsätze es hergeben.
Selber habe ich mich dafür entschieden, einen Beruf zu lernen, den viele nicht ausüben wollen und wo daher ein größerer Bedarf besteht. Das heißt ja nicht, dass man es ungern macht.
Meine Träume habe ich mir in meiner Freizeit erfüllt - Zaubern, Tanzen, Schreiben. Dann lernt man auch die Schattenseiten weniger kennen, welche auch "Traumberufe" aufweisen, wenn man sie professionell ausübt.
Und was die Musiker betrifft: Durch meine Konzert-Moderationen (und auch familiär) kenne ich eine Menge hervorragender Amateurmusiker, die unzählige Stunden für ihr Hobby aufwenden und dennoch vernünftig genug waren, einen weniger krisenhaften Hauptberuf zu erlernen. Und ebenso habe ich grottenschlechte Profis erlebt.
Ich habe sehr oft zur Musik von Amateuren und auch Profis getanzt - beide können mich zum Tanzen animieren, wenn sie denn mit Gefühl spielen.Und es ist ja keinem verwehrt, Berufsmusiker werden zu wollen. Ich kenne aber eine Reihe von ihnen, die mir oft erzählen, wie gnadenlos es in der Branche zugeht.
Ich tue mich schwer damit, Veranstaltern offenkundige Tipps zu geben, auf die sie selber kommen und mit wenig Aufwand ausprobieren können. Etwa die Musik variieren und DJs zu engagieren.
AntwortenLöschenAbgesehen davon wird es weiterhin schwieriger, Aufhören kann eine vernünftige Option sein.
Ich habe Christiane und Sven in den 20 Jahren unserer Besuche keinen Tipp oder Ratschlag gegeben. Mache ich bei Tangoveranstaltern generell nicht. Bei meinem "Nachruf" habe ich es mir erlaubt.
AntwortenLöschenHallo Gerhard,
Löschenwarum ein Nachruf?
Hallo Gerhard
Tango im Fluß ... ist nicht tot!
Wir haben nur am vergangenen Samstag
mit einer „Milonga-Final“ nach 25 Jahren unseren „Milongabetrieb“ beendet.
Und das war keine Beerdigung, sondern ein schönes, würdiges und gleichzeitig fröhliches Fest mit vielen Gästen, viel Tanz und viel guter Laune.
Wir danken allen, die uns mit Blumen, leckerem Fingerfood und guten Wünschen beschenkt - und mit uns bis tief in die Nacht gefeiert haben.
Schade, dass du nicht da warst.
Also: Wir leben noch und haben uns zum richtigen Zeitpunkt von einem finanziell nicht mehr tragbaren Teil unseres Unternehmens verabschiedet.
„Wenn das Pferd tot ist, soll man absteigen“.
Wir steigen lieber schon ab, wenn das Tier lahmt und konzentrieren uns in Zukunft verstärkt auf guten, fundierten Unterricht und auf spannende Projekte.
Im Mai haben wir mit Cuarteto Rotterdam und dem Regensburger Kammerchor in der Regensburger Dreieinigkeitskirche ein Stück aus Martin Palmieris „Misa Tango“ choreographiert und getanzt.
Ein Mammutprojekt und eine tänzerische Gratwanderung, die vom (Tango)Publikum begeistert aufgenommen wurde.
Nur so ein Beispiel für unsere Experimentierfreude in der Praxis.
Aber du hast Recht, von diesem Event gehören dann dringend ein paar schöne Fotos auf die homepage und aktuellere Videos sind auch eine gute Idee.
Unseren Unterricht hast du leider nie kennengelernt, aber das lässt sich ja nachholen.
Herzliche Grüsse,
Christiane und Sven
P.S.
Unsere ersten Milongas fanden 1997 tatsächlich im Fluss statt:.
In einer Gaststätte auf einer Donau-Insel mit Blick aufs Wasser.
Und das scharfe „ß“ hat sich als Bestandteil unseres Firmenlogos tapfer gegen die Rechtschreibreform gestemmt ;-)
Liebe Christiane, lieber Sven,
LöschenTangoveranstalter, die auf meine Artikel (offiziell) reagieren, sind ein seltenes Phänomen. Herzlichen Dank dafür!
Ihr habt natürlich recht - und ich habe es ja im Text auch erwähnt - ihr führt euren Unterricht weiter. Insofern wird "Tango im Fluß" fortbestehen. Dennoch, wenn eine Serie von zirka 1300 Milongas zu Ende geht, ist das schon einen Nachruf wert. Das Wort war ja nicht despektierlich gemeint.
In wie weit sich Unterricht ohne parallel laufende Milongas bewährt, mag ich nicht beurteilen. Natürlich halte ich euch die Daumen. Dass ich selber nach 23 Jahren Tango keine Kurse mehr nehme, habt ihr sicher schon befürchtet...
Das Problem ist nur: Man sollte halt für die tollen Ziele, welche man anstrebt, auch öffentlich Werbung machen und dafür einstehen. Da sehe ich leider ein Vermittlungsproblem - nicht nur hinsichtlich eurer Website. Vielleicht sollte man statt eines Pferdes ein technisch aktuelleres Fortbewegungsmittel wählen.
Meine guten Ratschläge darf man natürlich stets unter dem Aspekt sehen, dass wir mit unserer Wohnzimmer-Milonga auch Schluss gemacht haben. Ich weiß nur: Hätte ich im Netz nicht so viel informiert und dafür geworben, hätten wir es nicht mal ein Jahr durchgehalten.
Auf jeden Fall wünsche ich für zukünftige Projekte viel Erfolg - und ich werde mir die Ergebnisse gerne einmal in Regensburg ansehen!
In alter Verbundenheit
Gerhard