Die alte Garde in Not
In meiner derzeitigen Lieblingsgruppe auf Facebook schildern konservative Tango-DJs häufig ihre Sorgen. Nicht selten versetzen mich diese in höchstes Entzücken.
Vor einiger Zeit schrieb einer der Musikmacher:
„Du kennst dieses Gefühl, wenn du anfängst zu spielen, und du weißt, dass es einfach *nicht* funktioniert. Du spielst deine narrensicheren Canaro / frühe D'Arienzo-Klassiker, trotzdem tanzt niemand. Vielleicht klappt Rodriguez? Nein. Kalter Schweiß beginnt auf deiner Stirn zu erscheinen, du atmest tief ein.
Ich bin wirklich lieber auf dem Parkett.“
Nun, das ließe sich doch machen – selbst wenn man auflegt! Dann wäre wenigstens ein Paar auf der Piste. Und alle merken, dass es Tanzmusik sein soll. Aber auf einen solch naheliegenden Gedanken kommen weder der Schreiber noch seine Kollegen.
Viele Kommentatoren haben Trost parat: Das sei doch nicht so schlimm (zumindest, wenn es nicht ihnen selber passiert) – oft liege es gar nicht am DJ, sondern an anderen Umständen:
„Ja. Schlechtes Gefühl. Manche Tage sollen einfach nicht toll sein. Gib nicht auf.“
„Manchmal machst nicht du etwas falsch, sondern die Tanzenden und vielleicht die Atmosphäre.“
„Manche Tage sind zum Tanzen, manche Tage zum Reden oder was auch immer. Schau dich selbst an – willst du jeden Tag tanzen?“
Als DJ? Na, det wüsst' ick aber!
„Jeder erfahrene DJ weiß, dass wir manchmal erfolgreich sein können und manchmal nicht, aber wir müssen es trotzdem versuchen.“
Na, und erst die Unerfahrenen…
„Unangenehme Momente. Aber manchmal ziehen es die ersten Gäste vor, ein wenig Kontakte zu knüpfen oder sich an die Umgebung zu gewöhnen, bevor sie loslegen und in Fahrt kommen. Das ist nicht deine Schuld. Aber die nächste Tanda nach D'Arienzo und Rodriguez könnte eine der verlockendsten Vals-Tandas sein, die du dir vorstellen kannst ... Wenn auch das nicht hilft, fahre mit Di Sarli fort. Di Sarli ist in der Regel ein guter Eisbrecher.“
Echt jetzt? Ausgerechnet der Lieferant von Tanzkurs-Endlosschleifen? Da frieren mir die Füße ein!
Ein anderer Kollege empfiehlt den Griff zur Flasche:
„Hat schon jemand starken Alkohol erwähnt? Ich würde mich wieder aufladen und versuchen zu beobachten, ob der Grund in der Musik liegt (es ist leicht, in eine dramatische oder lyrische Stimmung zu wechseln), oder in den örtlichen Gepflogenheiten (…), oder vielleicht kamen die meisten von ihnen aus einer langen, anstrengenden Unterrichtsstunde, und sie wollten sich einfach nur entspannen und ein bisschen plaudern (wobei sich ‚das Bisschen‘ in einem Lokal in Buenos Aires als die ganze erste Stunde herausstellte) ... oder vielleicht bestand die Milonga aus zu vielen Cliquen, und jede einzelne von ihnen war noch nicht vollständig, um mit dem Tanzen zu beginnen (die übliche Geschichte in mehr als einer Milonga in mehr als einer europäischen Hauptstadt)...“
Klar, wenn die Cliquen noch nicht vollzählig angetreten sind, sind ja Macht- und Tänzerinnen-Verteilung nicht abgeschlossen! Aber es gibt noch schlimmere Tanzhindernisse:
„Kürzlich legte ich an einem Ort auf, in dem ich nichts und niemanden kannte. Angenehme Nacht, viele Leute, jemand feierte seinen Geburtstag – Glückseligkeit. Milonga-Tanda – volle Tanzfläche, ich bin voll im Flow. ...und dann spiele ich eine süße Di Sarli-Tanda, und 3 Paare kommen raus. PANIK! Was ist das für eine Lokalität? Es stellte sich heraus, dass der Geburtstagskuchen während der Cortina herausgerollt wurde und die Leute damit beschäftigt waren, zu essen. Manchmal hat man die Qual der Wahl. Manchmal hat man es mit dem Kuchen zu tun.“
Ja, gegen die Fresserei auf den Milongas kommt die Musik nicht an. Ich habe kürzlich zu dem Thema geschrieben:
https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/10/mach-mal-pause.html
Ein anderer Kollege empfiehlt, auf die Ohrwürmer zu setzen:
„Hier in New York spielen die besten DJs die ganze Nacht lang nur romantische, lyrische, kraftvolle Musik. Sie sind natürlich sehr dynamisch, aber sie spielen immer Musik, welche die Leute auf die Tanzfläche lockt. Wenn du, der DJ, ‚Recien‘, ‚Vida mia‘, ‚Invierno‘, ‚Buscandote' satthast, glaub mir, die Tänzer haben es nicht.“
Man startet die Musik, und keiner tanzt… Vielleicht liegt es daran?
„Dann merkst du, dass es nur über deine Kopfhörer zu vernehmen ist.“
Ich sehe mich selber sicher nicht als Profi-DJ, aber immerhin habe ich in den vielen Jahren an die 200 Mal aufgelegt. Was sind meine Erfahrungen?
Dass anfänglich keiner tanzt, habe ich noch nie erlebt. Eher kommt in der Mitte einer Veranstaltung eine Flaute, wenn alle sich schon einigermaßen ausgetobt haben und etwas Erholung brauchen. Warum sie ihnen nicht gönnen? Ich gerate nicht in Panik, wenn es auf dem Parkett mal eine Zeitlang ruhiger zugeht.
Was ich allerdings nicht verstehe: Warum etliche DJs diese Phase noch ausdehnen, indem sie ein Klagelied nach dem anderen spielen. Man sollte im Gegenteil das Parkett mit Energie fluten. Dazu eignen sich besonders schwungvolle Walzer.
Und sicherlich gibt es eine Reihe von Umständen, welche die Gäste vom Parkett fernhalten – nur:
Da legt man seit Jahren immer dieselben „bewährten“ Stücke auf – und, o Wunder – dem Publikum hängen sie eines Nachts zu den Ohren raus! Ja, was soll man da sagen?
Dann lassen wir doch den frühen Canaro trillern:
https://www.youtube.com/watch?v=J-S2IVtGen0
Auf die Idee, es könne am Verwesungsgrad der Musik liegen, kommt man nur ganz vereinzelt:
„Warum immer mit dem gleichen Canaro/D'Arienzo/Rodriguez-Zeug anfangen? Du hast deine Frage bereits selbst beantwortet!“
„Der einzige Weg, wie wir versuchen können, die Stimmung zu ändern, ist unsere Musikauswahl.“
„Im Allgemeinen sollten wir also von einem bestimmten Musikstil abweichen und einen anderen Stil ausprobieren.“
„Leg einfach die Musik auf, zu der du selbst gerne tanzen würdest!“
Selber tanzen? Bei traditionellen DJs eine abwegige Idee!
Was mir beim Studium solchen Foren immer wieder auffällt: In diesen Kreisen lebt man in einer ziemlich geschlossenen Blase, in die Erkenntnisse von außen kaum noch vordringen.
So wie in einem meiner Lieblingswitze:
Frühere UdSSR, fünfziger Jahre, Sitzung des Politbüros. Thema: Wirtschaftskrise. Der Parteisekretär für Volksunterhaltung berichtet vom Wegbleiben der Gäste: „Auch in den Moskauer Nachtlokalen gehen die Umsätze zurück.“ Darauf der Genosse Vorsitzende: „Ich verstehe überhaupt nicht, warum. Schließlich ist unsere Stripperin Parteimitglied seit 1917.“
Guardia vieja halt…
Quelle: https://www.facebook.com/groups/TangoDJForum (Post vom 19.9.22 - von mir aus dem Englischen übersetzt)
Es gibt so viele Situationen - ich bin nicht sicher ob man daraus etwas lernen kann. Aber der DJ schrieb ja in den Kommentaren, dass es mit DiSarli/Duran und Pugliese/Chanel dann voran ging.
AntwortenLöschenIch bin jedenfalls ziemlich sicher, dass man in diesen Kreisen daraus nichts lernen wird.
LöschenNebenbei: Ich finde auf FB den Kommentar des DJ nicht, mit dem du ihn zitierst. Vielleicht schaust du nochmal nach?
Aber gerne, chronologisch der 4. Kommentar, Y.S. in Antwort auf A.L.:
Löschen"I saved the night with 1945 DiSarli - Duran , Pugliese -Chanel and a Ronda de Ases with Sassone, Calo, D'Arienzo and Salamanca , then it was fine."
Vielen Dank!
LöschenIch find es allerdings immer noch nicht. Vielleicht wurde der Leserkreis für diesen Bereich begrenzt.
Egal, passt schon!