Die Mühe der Ebenen

„Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns. Vor uns liegen die Mühen der Ebenen.“
(Bertolt Brecht: „Wahrnehmung“, 1949) 

Kürzlich veröffentlichte Helge Schütt auf seinem neuen Blog einen Text, den ich sehr interessant fand. Unter dem Titel „Eine Frage der Prioritäten“ befasst er sich mit liebgewordenen Tango-Klischees:

Kommt es wirklich in erster Linie auf den Führenden an, der möglichst viele Tanzfiguren beherrschen müsse? Erst an zweiter Stelle stehe dann die Musik – und ganz am Ende stünden die Folgenden, welche die Führung zu verstehen und umzusetzen hätten – dann seien sie „gute Tänzerinnen“. Wenn nicht, dann eben nicht…

Der Autor dreht das Ganze um: In erster Linie gehe es darum, mit der Partnerin Harmonie herzustellen. „Der kreative Prozess des Tanzens wird immer gemeinsam als Paar durchgeführt, niemals von mir alleine! Jeder Schritt entsteht durch Kommunikation zwischen mir und meiner Tanzpartnerin. (…) Meine Tanzpartnerin ist am kreativen Prozess mit gleichem Stimmrecht beteiligt wie ich.“

Der Führende komme erst ganz am Schluss: „Aber komplexe Figuren und Techniken sind kein Selbstzweck, sondern sie ordnen sich meiner Tanzpartnerin und der Musik unter.“

Hier der gesamte Artikel, den ich sehr empfehlen kann:

https://helgestangoblog.blogspot.com/2022/10/eine-frage-der-prioritaten.html

Als Helge Schütt den Text in unserer Facebook-Gruppe verlinkte, artikulierte er Zweifel:

Ich bin immer etwas unsicher, wenn ich so einen Blog-Beitrag schreibe: Ist das überhaupt interessant für andere? Vielleicht ist das allen anderen außer mir sowieso klar, was für mich eine neue Erkenntnis ist. Und wenn es nicht klar ist: Hilft die Einordnung weiter?“

https://www.facebook.com/groups/1820221924868470 (Post vom 11.10.22)

Ich kann solche Bedenken gut verstehen. Auf meinem Blog finden sich derzeit über 1400 Veröffentlichungen – und viele davon befassen sich mit einer überschaubaren Auswahl an Themen. Schon vor Jahren, als es noch nicht mal die Hälfte der Artikel gab, wurde mir von Kritikern immer wieder attestiert, diese Strategie sei „langweilig“. Was könne sich schon ändern, wenn man stets wieder den alten Käse aufwärme? 

Meine Antwort nach fast neun Jahren Bloggen ist da eindeutig: Man erreicht erst dann etwas, wenn man so verfährt! Die Tangoszene zeichnet sich nicht gerade durch gedankliches Tempo aus – eher hängt man an hergebrachten Klischees und Vorurteilen. Und auch nach 12 Jahren kriege ich Anfragen, ob es denn stimme, dass ich ein Tangobuch geschrieben habe…

Ein besonders ergreifendes Beispiel: Fahnden Sie doch einmal in der Suchfunktion meines Blogs nach den Begriffen „Piazzolla untanzbar“! Ich habe einige Dutzend Artikel gebraucht, um Argumentationen wie diese halbwegs erfolgreich zu widerlegen:

„Ein immer präsentes Thema und Trugschluss Nr.1 - das Beispiel Piazzolla. Nach jahrelangem Hin und Her über Ihre Proklamation, dass Piazzollas Musik allgemein als publikumstaugliche Milonga-Tanzmusik tauglich sei, gelingt es Ihnen immer noch nicht, zwischen persönlichen Musikvorlieben und dem Konsens für gut tanzbare Musikstücke für eine Allgemeinheit zu unterscheiden. Sie reden ständig damit an allgemeinen Bedürfnissen des Großteils der Tangoszene vorbei.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2021/05/wir-da-oben-ihr-da-unten.html#comments

„Ich habe den Verdacht, dass das Bekenntnis zu Piazzolla mitunter lediglich als Alleinstellungs- bzw. Distinktionsmerkmal dient, um sich vom musikalisch ungebildeten und anspruchslosen Tango-Plebs abzuheben. Da werden dann schon mal alle diejenigen, die trotz aller Bekehrungsversuche einfach nicht zu Piazzollas Knarzen, Kratzen und Quietschen tanzen möchten, mit bescheuerten ‚Flacherdlern‘ verglichen bzw. gleichgesetzt. Aber auch solche Diffamierungen werden nichts daran ändern, dass auch in Zukunft die meisten Tänzer auf die Frage ‚Zu Piazzolla tanzen?‘ antworten werden: ‚Nein danke – warum?‘“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/12/hier-irrt-luders.html

Inzwischen habe ich das Argument der „Untanzbarkeit“ schon länger nicht mehr gehört. Allenfalls schreibt man, die Musik das Tango nuevo sei „schwer tanzbar“ – und selbst konservative DJs legen nachts um halb Eins schon mal „Oblivion“ auf. Aber es bleibt noch viel zu tun. 

Oder schauen Sie mal nach, wie oft ich zum Thema „Führen und Folgen“ schon geschrieben habe! Vor sechs Jahren las man im Internet noch Blödsinn wie diesen:

„Der Mann hat dabei die Aufgabe einen eigenen guten Führungsstil zu entwickeln, während die Frau Freude daran hat, sich führen zu lassen. Beide akzeptieren diese polaren Vorgaben. Würden sie bei jedem Tanz neu diskutieren, wer die Führung übernimmt, gäbe es ein ziemliches Chaos – und die Freude wäre dahin.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2016/09/was-ihnen-ihr-tangolehrer-nicht-erzahlt_29.html 

Inzwischen ist man doch etwas vorsichtiger geworden und betont, zumindest in der Theorie, eine eher gleichrangige Rollenverteilung. Was viele Tangolehrer nach meiner Erfahrung nicht daran hindert, in ihren Kursen noch rückständigen Schmus zu verzapfen.

Auf meinem Blog gibt es derzeit 20 Artikel zum Thema „Auffordern / Cabeceo“:

https://milongafuehrer.blogspot.com/search/label/Auffordern%20%2F%20Cabeceo

Auch da hat sich inzwischen einiges getan. Während es eine Zeitlang als „sexuelle Nötigung“ galt, eine Tanguera in freundlichen Worten um einen Tanz zu bitten, wird man auf vielen Milongas heute zumindest nicht geteert und gefedert, wenn man ein solches Wagnis eingeht. Und nach meiner Erfahrung ist es den meisten Frauen ziemlich wumpe, ob man sie nun per Verbeugung oder Anglotzen auffordert. Hauptsache, sie kommen überhaupt zum Tanzen!

Apropos: Eine Zeitlang war es zumindest auf kasernierten Tangowochenenden üblich, per „Gender-Balance“ überzählige Frauen nicht zum Event zuzulassen. Und weibliche Führende galten als hoch verdächtig. Auch gegen diese sexuelle Diskriminierung habe ich erbittert angeschrieben. Selbst auf Encuentros scheint es nun eher üblich zu sein, eine „Role Balance“ anzustreben, überzählige Tänzerinnen also zu akzeptieren, wenn sie auch führen können. Und auch ein etwas rückständiger Tangoverein im Allgäu wird, so hoffe ich, zu dieser Praxis umschwenken.

Was die Live-Musik angeht, hat sich geradezu Revolutionäres getan. Früher hat man solche Gruppen kaum zu konservativen Milongas eingeladen, da sie angeblich wesentlich schlechter spielten als die „großen Orchester“ von einst. 2013 durfte Christian Tobler, Cassiels Mann fürs Grobe, noch fast unwidersprochen schreiben:

„Es gibt kein einziges hervorragendes modernes Tango-Orchester und noch viel weniger irgendeine grandiose moderne Tango-Entwicklung – leider. Die nachäffen alle lediglich oder verwursten – und das auch noch auf tiefem Niveau. Im Gegensatz zu Tänzern, bei denen eine erfreuliche Entwicklung stattfindet, ist bei Musikern betreffend tanzbarer Musik seit vielen Jahren Hopfen und Malz verloren. (…)

Alles, was heutige Tango-Musiker drauf haben, ist entweder ein übler Piazzolla-Verschnitt oder eine noch schlechtere Epoca-de-Oro-Kopie. Daher fehlt jegliche Weiterentwicklung. Bei Piazzolla-Karaoke mit Instrumenten fällt vielleicht weniger auf, wenn Musiker ihr Handwerk nicht beherrschen, weil sie kaum einen Ton sauber treffen und dem Zusammenspiel im Ensemble in keiner Weise gewachsen sind. Hauptsache es klingt progressiv-depressiv-invasiv. Beim Nachspielen von Arrangements der Epoca de Oro sind diese eklatanten handwerklichen Mängel nicht mehr zu überhören. Da wird es zappenduster. Die Formationen von heute spielen möglichst expressiv, wollen sich selbst verwirklichen und im Vordergrund stehen, was mit tanzbarem Tango Argentino nicht vereinbar ist.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2019/06/zweitgenossische-orchester.html

Seit einiger Zeit schon finden selbst finstere Tango-Reaktionäre nichts mehr dabei, ihre glamourösen Bälle mit Ensembles aus lebenden Musikern zu schmücken. Und auch entsprechende DJs legen heimlich gegen Mitternacht schon mal deren Produktionen auf.

Ich glaube daher, dass wir im Tango einige steile Berge bereits überwunden haben. Das sollte aber nicht dazu führen, nun leichtsinnig oder nachlässig zu werden. Die „Mühen der Ebene“ sind nicht zu unterschätzen.

Wer sich im Tango (oder anderswo) dem Mainstream nicht anpassen will, muss sehr fleißig und widerspenstig sein und bleiben. Daher freut es mich sehr, wenn nun auch Jüngere wie Helge Schütt und andere sich dieser Aufgabe widmen.

Ich wiederhole nur einen Satz, den ich auf Facebook schon hinterlassen habe: 

„Bloggen ist ein mühsames Geschäft.“

P.S. Und gelegentlich muss man auch mal auf den Tisch hauen wie der legendäre Willy Brandt:

https://www.youtube.com/watch?v=EdPvEdtPiEI

Kommentare

  1. Viele der hier getätigten Aussagen treffen auf mich, auf mein Umfeld, nicht zu. Mir hat nie jemand versucht die Reihenfolge "Figuren-Musik-Folgende" nahezubringen. Für mich spielt es keine Rolle, ob andere Piazzolla für "untanzbar" oder "schwer tanzbar" halten. Ich lege Tangos "lebender Musiker" deutlich vor Mitternacht auf.
    Und auch wenn die Bewegung in der Ebene schon Mühe bereitet, wirst Du auf andere Dinge ja noch mal spezifischer zurück kommen.
    In dem Sinne wünsche ich Dir ein frohes Schaffen!

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    1. Besten Dank!
      Ich nehme gerne zur Kenntnis, dass vieles an meinem Text für dich irrelevant ist.
      Umso mehr freut es mich, dass du meine Publikationen so aufmerksam verfolgst und auch kommentierst!

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