Kleine Tango-Stilkunde

 

Mit der Stilistik im Tango habe ich mich bereits vor viereinhalb Jahren in einem Artikel beschäftigt:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2018/02/der-platz-zwischen-den-stilen.html

Nun bin ich – dank der unermüdlichen Suche des Kollegen Thomas Kröter nach Original-Quellen – auf ein Video der Tango-Urgesteine Eduardo und Gloria Arquimbau gestoßen, in dem sie unterschiedliche Tangostile zeigen. Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 2006. Ob so eine Show heute noch Interesse fände? Ich weiß es nicht.

In der Video-Beschreibung (von mir übersetzt) heißt es unter anderem:

„Gloria und Eduardo Arquimbau, die selbst Teil der Tangogeschichte sind, demonstrieren, wie sich der Tango im Laufe der Zeit entwickelt hat. Ausgehend von der Milonga wurde Anfang des 20. Jahrhunderts der Tango zu relativ schneller Musik auf den schmutzigen Böden von Bordellen und auf der Straße getanzt (also keine eleganten, gleitenden Schwünge usw., sondern nur Schritte).

Dann wurden die Musik und der Tanz langsamer und die Schritte eleganter (aber immer noch im Wesentlichen ein Spaziergang, ohne Figuren). Nachdem der Tango in Europa und insbesondere in Frankreich mit einem reglementierteren und ‚raffinierteren‘ Stil sehr populär geworden war, wurde er schließlich auch von der Mittel- und Oberschicht der argentinischen Gesellschaft angenommen, allerdings in Anlehnung an den ‚raffinierteren‘ und modischeren (aber weniger leidenschaftlichen) Stil, der in Europa gelehrt wurde.

Der Tango der 1940er Jahre enthielt mehr Drehungen und Figuren in enger oder offener (elastischer) Umarmung, und der ‚Fantasia‘-Stil (hier demonstriert), der sich daraus entwickelte, enthielt zusätzliche Schritte und Verzierungen für beide Partner, die gelegentlich ein vollständiges Lösen der Umarmung mit Trennung der Partner erforderten.

In den 1950er Jahren entwickelte sich der heute gebräuchliche ‚Salon‘-Tango mit weniger Verzierungen, der in enger Umarmung mit dem Rhythmus der Musik spielt und für überfüllte Tanzflächen geeignet ist. Der Bühnentango entwickelte sich jedoch aus der Tango-Fantasia der 40er Jahre weiter und enthielt Sprünge, Hebungen und Elemente des Balletts und des modernen Tanzes.“

https://www.youtube.com/watch?v=zG7T8fC2UUE

Auf YouTube fand ich schließlich ein weiteres Video, welches die unterschiedlichen Stile noch deutlicher zeigt – weil von mehreren Paaren zu verschiedenen Zeiten vorgetanzt. Zudem enthält er auch Beispiele aus dem Tango nuevo.

Für diejenigen, welche Tango erst in den letzten Jahren gelernt haben, dürfte viel Neues dabei sein:

https://www.youtube.com/watch?v=T7x0pr_pMj4

Ich glaube, wenn man sich dies alles ansieht, ist man weniger anfällig für den Schmus vom „authentischen Tango“. Und für die heute massenhaft betriebene Abrichtung der Novizen auf den reduzierten „Salontango“. Wobei das Lehrpersonal (zumindest das ältere) sich immer noch gerne auf Namen wie Arquimbau, Balmaceda, Todaro oder Gavito bezieht, bei denen man einst gelernt hätte.

Und man sieht manch munteres Gehüpfe, bei dem man heute wohl behaupten würde, das Paar träfe nur zufällig die Schläge der Musik. In diesen Fällen verhindert solche Unterstellungen natürlich die Ehrfurcht vor den alten Meistern. Im folgenden Fall die legendären Tangolehrer Rodolfo und Gloria Dinzel anno 1986:

Die Einsicht könnte weiterhelfen, dass sich der Tangotanz seit mehr als einem Jahrhundert eben stetig weiterentwickelt – abhängig von den äußeren Rahmenbedingungen, dem Zeitgeist, modischen Geschmack und vor allem der Musik. Man sollte dabei mit Wertungen wie „richtig“ oder „falsch“ vorsichtig sein. Selbst die Fachausdrücke für die einzelnen Stile differieren je nach Autor. Und erst recht bringt es nichts, wenn die eine Fraktion der anderen vorwirft, schlechten oder gar keinen Tango zu tanzen.

Auch einen anderen Abwehrreflex sollte man unterlassen: Bei den obigen Videos mal wieder zu behaupten, es handle sich um „Bühnentango“. Mag schon sein, nur: Der zeigt halt die einzelnen Stile in einer besonders ausgefeilten, überhöhten Darstellung. Die grundsätzlichen Unterschiede der Tanzweisen berührt das nicht.

Und in der Praxis ist Bühnentango meist das, was Ihre Tangolehrer nicht können...  

Es geht sogar noch einen Schritt weiter: Im anfangs zitierten Artikel sagt der ungarische Tangolehrer Endre Szeghalmi:

„Persönlich bin nicht damit einverstanden, Menschen nach ‚Stilen‘ zu kategorisieren, ich möchte lieber sagen, dass jeder in seiner einzigartigen und unverwechselbaren Weise tanzt!“

Ein kluger Unterricht fördert die Tanzenden bei der Entwicklung ihres persönlichen Stils, statt sie in die Form des gerade dominierenden Modetrends zu pressen.

P.S. Und wenn wir schon von Stilen reden, müssen wir natürlich noch den „Tango sin fantasía“ erwähnen:

https://www.youtube.com/watch?v=z6QKeGoYuUg

Kommentare

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