Ampel-Tanz für Achtsamkeits-Aktivisten

 

Ein Leser wies mich neulich auf eine Veranstaltung hin, für die auch auf Facebook geworben wurde. Bereits die ersten Zeilen sagten mir: Man hat sich damit die Eintrittskarte auf mein Blog erworben!

„Liebe tanzen“ nennt sich ein Event, zu dem Silvana Del Rosso und Christopher Gottwald in Berlin einladen. Für uns Tangomenschen ja nicht uninteressant, sondern eher eine optimistische Beschreibung dessen, was wir auf dem Parkett zu treiben meinen.

Um aber gleich den ersten Tropfen Wasser in den aphrodisierenden Cocktail zu träufeln: Um Tango geht es dabei nicht direkt – getanzt wird eher irgendwas in Richtung Freestyle, Contact Improvisation und Bollywood-Gehuppse.

Die Veranstalter, so wird versichert, seien bei ihrer Mischung von „Workshop und Tanzabend“ bei der Suche nach „Freiheit und Verbundenheit“ behilflich – ein Abend, „bei dem du sein darfst, wie du bist“. Eine Drohung, die mich auch beim Tango immer wieder verschreckt!

Die inhaltliche Beschreibung beginnt mit einem Konjunktiv:

Wie würde es sich anfühlen, wenn wir zusammen kommen, uns in die Augen sehen, uns begegnen und berühren, ohne Angst zu haben, dass etwas passiert, was wir nicht wollen? Wir sind da mit allem, was in uns ist: wild, sanft, frech, neugierig, zurückhaltend, spielerisch! Und damit zeigen wir uns!

Angesagt ist also – und wen würde das im Tango nicht interessieren – Ringelpiez mit Anfassen. Damit das Ganze aber nicht ausufert, seien zwei Vereinbarungen nötig:

Zum Setzen von Grenzen gibt es einen „Ampelcode“:

„GRÜN: Mache gerne mit dem weiter, was du tust! Du kannst es auch noch intensivieren!
GELB: Das was du tust, ist okay, aber bitte intensiviere es nicht! Mach eher etwas
langsamer oder halte inne!
ROT: Höre mit dem auf, was du gerade tust und gehe für einen Moment ganz aus der Berührung! Danach können wir neu in die Begegnung starten!

Leider habe ich nicht herausbekommen, in welcher Form die drei Farben signalisiert werden: LED-Blinklichter oder doch nur irgendwelche Pappscheiben?

Egal – solche codierten Informationen würden sich auch in unserem Tanz viele Frauen wünschen! Wobei wohl eine vierte Farbe nötig wäre:

„Hau ab und mach mich nie wieder an, du Saukerl!“

Weiterhin ist natürlich eine klare Rückversicherung nötig:

Nichts von dem, was wir an diesem Abend tun, hat bindende Konsequenzen für die Zukunft, d.h. wenn wir miteinander tanzen, heißt das nicht, dass wir uns küssen. Und wenn wir uns küssen, heißt das nicht, dass wir Telefonnummern tauschen oder miteinander nach Hause gehen oder heiraten oder Kinder bekommen – es bedeutet nur, dass wir beide gerade Lust haben, uns zu küssen – nichts anderes!

So können wir Gier und Angst loslassen und gemeinsam ins Hier und Jetzt eintauchen!

Ein löblicher Vorsatz! Aber es gibt halt nicht nur ein „Hier und Jetzt“, sondern auch ein Gestern und Morgen. Dass Ampel-Koalitionen Zerwürfnisse nicht ausschließen, erleben wir gerade auf öffentlicher Bühne. Und Knutschereien sowie Ähnliches bringen halt eventuell eine Eigendynamik mit sich. Im Privatleben sind hinterher oft Haus, Boot, Auto und Stimmung weg…

Bei den beiden Veranstaltern scheint eine Arbeitsteilung vorzuliegen: Christopher Gottwald ist wohl fürs Beziehungsmäßige zuständig, Silvana Del Rosso macht als Conscious Dance DJ die Musik dazu:

„Ich liebe es, den Kopf auszuschalten und der Musik die Führung meines Körpers zu überlassen. Das bringt mich an meine Quelle, in meine Kraft, und ich fühle pure Freude, Liebe und Verbundenheit."
Um Dich auf diese Reise zu Dir selbst zu bringen, von wo aus die Verbindung zu anderen natürlich entsteht, folgt Silvanas DJ-Set meist einer Welle, führt Dich durch alle Arten von Musik, die Dein Herz berühren, die Energie durch Deinen Körper strömen und Dich vor Freude springen lassen.

Wieder eine Parallele zum Tango, wo die Plattenreiter viel Blumiges, aber wenig Konkretes von sich geben! Immerhin vermittelt dieses Video einen gewissen Eindruck:

https://www.youtube.com/watch?v=ybuZPR9SdQs

Christopher Gottwald ist gelernter Schauspieler, hat aber dann über die Contact Improvisation neue Formen der Beschäftigung gefunden, welche sich beispielsweise „Somatic Sex Educator“ oder „Sexological Bodyworker“ nennen. Er bietet Seminare, Vorträge und Workshops zur Beziehungs- und Sexualberatung an.

„Nach vielen theoretischen Überlegungen und Gesprächen lebe ich nun seit 12 Jahren polyamor, d.h. es gibt in meinem Leben mehrere Menschen, mit denen ich mich liebevoll verbunden fühle und die alle voneinander wissen. 9 Jahre habe ich mit einer Frau und ihren Kindern zusammengelebt und diese Lebensform erforscht - sicher nicht nur eine einfache Zeit, und doch habe ich noch nie so viel über mich und das Leben gelernt.“

Natürlich lebt Gottwald vegan, fährt kein Auto, hält nichts von persönlichem Besitz und hat klare Vorstellungen, wie die Welt zu retten ist:

„Ich habe Freude am Leben, ich erforsche gerne mich selbst und meine Gefühle, ich liebe es, mir Neues auszudenken (z.B. Workshopformate) und ich eigentlich will ich einfach nur die Welt retten und dabei Spaß haben. Die Welt rette ich am besten, indem ich mich selbst rette, d.h. in einen Zustand komme, bei dem ich glücklich mit mir selbst und meiner Umwelt bin.“

Na klar: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht!

Christopher Gottwald Polyamorie Berlin - über mich (christopher-gottwald.de)

Wer sich näher für die beiden interessiert, findet hier alles, was er benötigt (vielleicht sogar mehr):

Liebe Tanzen - ein Interview mit Silvana Del Rosso und Christopher Gottwald - YouTube

Tja, welches Fazit soll ich als alter weißer, wahrscheinlich ziemlich verklemmter Mann ziehen?

Nun soll und darf ja jeder und jede die passende Lebensform suchen sowie finden, ehrlich! Mir wäre es nur ganz recht, wenn es vielleicht ohne diesen gnadenlosen Erleuchtungs-Schmus ginge, den ich nur mit einer Sonnenbrille ertrage. Und vielleicht ohne die Attitüde, mit der man simple (und oft recht durchschaubare) Ideen als höhere Eingebung verkauft.

Daher bin ich den beiden Protagonisten sehr dankbar, dass sie mit ihren Ideen wenigstens den Tango in Ruhe lassen – dort treiben sich bereits genügend „Achtsamkeits-Aktivisten“ herum, welche sich realiter oft als ziemliche Stinktiere entpuppen.

Wer dennoch seine Neugier nicht zügeln kann: An 18 Uhr ist Einlass und Warmup (auch mit Tee). Um 18.30 Uhr startet dann die Ampel-Einweisung, ab 19 Uhr sollten alle da sein – daher danach kein Zugang mehr. Ob man ab dem Zeitpunkt noch jemanden rauslässt, wird nicht gesagt. Ich wäre jedoch vorsichtig!

Tanz-Ampel (vegan) * www.tangofish.de

Quellen: https://www.facebook.com/events/1334387866969252/

https://www.christopher-gottwald.de/tanzabende/liebe-tanzen/

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