Gerhard Riedls garantiert unanonymes Blog zum Tango argentino
Zweitgenössische Orchester
„Die guten alten Versionen sind rhythmisch viel
sublimer und abwechslungsreicher, das regt auf Dauer mehr zum Tanzen an, ich
höre mich nicht satt daran, auch seit 25 Jahren nicht. Ich spiele die Neuen
nicht aus Ignoranz nur zwischendurch mal, sondern weil ich die meisten alten
Sachen besser finde.“ (Olli Eyding, Tango DJ, 5.11.22)
Diese Zuschrift erreichte mich
erst gestern auf Facebook von einem DJ, der es zumindest nicht generell
ablehnt, auch einmal moderne Versionen klassischer Tangotitel aufzulegen
- und somit in der Gruppe seiner Kolleginnen und Kollegen eher eine Minderheit
darstellt.
Seine Ansichten blieben nicht
unwidersprochen. Das erinnerte mich an einen Artikel, den ich bereits
vor über drei Jahren verfasste:
Seit
vielen Jahren werbe ich dafür, vom reinen Abspielen toter Musiker wegzukommen und auch zeitgenössischen Tango-Interpreten eine Chance zu geben. Als ich es
wagte, in meinem ersten Tangobuch
2010 im Kapitel „Aus meiner Schatztruhe“
CDs mit Künstlern und Ensembles wie Milva,
Varela, Cáceres, Melingo, El Arranque, Tango Amoratado oder Otros Aires zu
empfehlen, traf mich umgehend das Verdikt der damals in Geschmackfragen bestimmenden „Tangoplauderei“. Blogger Cassiel schrieb dazu:
„Richtig ärgerlich
wird es im unmittelbar folgenden Abschnitt mit CD-Empfehlungen: ‚Aus meiner
Schatzkiste‘. Da gibt es nicht eine Empfehlung (abgesehen von irgendwelchen
Samplern) mit Aufnahmen aus der Blütezeit des Tangos in Buenos Aires.
Stattdessen der ewige Piazzolla,
Sampler und Non-Tangos.“
Der
damals gefeierte Star-DJ Christian
Tobler gab dem VerdiktBrief und
Siegel:
„Was Riedl zum Thema
gute CDs zusammenfabuliert ist grotesk: ab Seite 222. (…) Ich habe schon viel
Inkompetentes zur Musik des Tango Argentino lesen müssen. Aber Riedls Erguss
dazu toppt alles. So eine verquere Selektion von weitgehend Untanzbarem bis
musikalisch Mediokrem ist mir noch nie untergekommen.“
Für
die Jüngeren: So ein Verdikt war
damals vernichtend! Was die Tango-RassenkundlerCassiel,
Tobler, Sedó und Faus als „entartet“
klassifizierten, wurde auf den sich immer mehr ausbreitenden „traditionellen“
Milongas zum No-Go.
Und
die ideologische Linie war
unmissverständlich: Moderne Ensembles reichten in ihrer Qualität nicht an die alten Formationen heran und lieferten im
Zweifel Untanzbares– auch so ein Kampfbegriff,
der heute kaum noch eine Rolle spielt, damals aber unermesslichen Schaden
angerichtet hat).
So
schrieb der musikalische Bußprediger Christian
Tobler noch vor 6 Jahren:
„Es gibt kein
einziges hervorragendes modernes Tango-Orchester und noch viel weniger irgendeine
grandiose moderne Tango-Entwicklung – leider. Die nachäffen alle lediglich oder
verwursten – und das auch noch auf tiefem Niveau. Im Gegensatz zu Tänzern, bei
denen eine erfreuliche Entwicklung stattfindet, ist bei Musikern betreffend
tanzbarer Musik seit vielen Jahren Hopfen und Malz verloren.
(…)
Alles was heutige
Tango-Musiker drauf haben, ist entweder ein übler Piazzolla-Verschnitt oder
eine noch schlechtere Epoca-de-Oro-Kopie. Daher fehlt jegliche
Weiterentwicklung. Bei Piazzolla-Karaoke mit Instrumenten fällt vielleicht
weniger auf, wenn Musiker ihr Handwerk nicht beherrschen, weil sie kaum einen
Ton sauber treffen und dem Zusammenspiel im Ensemble in keiner Weise gewachsen
sind. Hauptsache es klingt progressiv-depressiv-invasiv. Beim Nachspielen von
Arrangements der Epoca de Oro sind diese eklatanten handwerklichen Mängel nicht
mehr zu überhören. Da wird es zappenduster. Die Formationen von heute spielen
möglichst expressiv, wollen sich selbst verwirklichen und im Vordergrund
stehen, was mit tanzbarem Tango Argentino nicht vereinbar ist.“
Und heute? Von Cassiel
und Tobler hört man so gut wie nichts
mehr, Melina Sedó beginnt zu
zweifeln, ob man die modernen Musiker so hätte missachten sollen, und Theresa Faus hat neulich auf einem
Festival (wohl erstmals in ihrem Leben) zwei zeitgenössische Ensembles
entdeckt, die ihr gefielen:
„Die eingeladenen Orchester – Quinteto Ensueños und
OrquestaSocial DelTango – waren ausgezeichnet. Sie spielten ernsthaften,
tiefgründigen Tango in verschiedenen Stilen, kein Geltungsdrang, keine
verstimmten Geigen, kein Overkill der Energie.“
(Quelle: ihre
FB-Seite, von mir übersetzt)
Wenn mir noch kurz
vorher einer erzählt hätte, sowas gefiele der Theresa, hätte ich ihn ausgelacht:
Und der in konservativen Kreisen gerne herumgereichte DJOlli Eyding schreibt auf seiner Website:
„Auf die Frage ‚Warum
spielt ihr DJs immer nur die alten Sachen‘ antwortete ich wie viele andere DJs
noch vor wenigen Jahren mit Überzeugung: ‚Die Klasse der großen Orchester
erreicht heute keiner.‘ Doch mittlerweile gibt es zahlreiche Orchester, die
dieses Urteil zumindest abschwächen.“
Zum
Beleg liefert er eine Liste von über 20
modernen Tangoorchestern:
Auch in meiner lokalen
Tangoszene beobachte ich ähnlich Frappierendes: Während man auf den „normalen“
Milongas weiterhin nach den strengen „EdO-Langweiler-Regeln“ auflegt, lädt man
immer mehr moderne Live-Formationen ein, die es teilweise derartig krachen
lassen, dass man sich gezwungen sieht, das anspruchsvollere Repertoire nur im
Sitzen anzubieten und die Musiker hernach zum Tanz den Schaum erheblich bremsen
zu lassen.
Und als Höhepunkt erfuhr ich gestern von einem Kommentator auf meiner Facebook-Seite,
die erzkonservative Wiener Tango-Firma „SaTho“
habe ein tolles Live-Orchester mit Sänger engagiert:
Den Schreiber drängte es sogar, das Kind mit dem Bade
auszuschütten:
„Dieses Gesudere über
DJs ist doch sinnlos! (…) Wer braucht noch DJs?Live-Musik ist angesagt!“
Auch mein Einwand, DJs
müssten doch zumindest die Pausen
zwischen den Sets ausfüllen, verfing nicht: Ballorchester könnten ja auch 6
Stunden durchspielen. Live-Musik könne nicht ersetzt werden!
Bei aller Freude
über die momentane Entwicklung komme ich da doch ins Grübeln: Klar motiviert es tänzerisch ungleich mehr, wenn man die
Musiker direkt erlebt – und man sagt ja, diese schauten beim Spielen den
Tänzern auf die Füße und kämen so auf den richtigen Drive (wovon ich jedoch in
durchschnittlichen Milongas abraten würde).
Dennoch sollte man sie durchaus per Konserven ersetzen, wenn sie schlecht spielen. Ich erlebte vor
einiger Zeit eines der weltweit führenden Ensembles live, deren Aufnahmen ich
schon oft aufgelegt habe – und wäre froh gewesen, wenn es auch an diesem Tag
dabei geblieben wäre: Der Trend geht nicht selten dahin, technische Schlamperei durch auf den Putz hauende Dynamik zu ersetzen. Das Filter „Tonstudio“ wirkt dann öfters sehr
wohltuend.
Vor allem aber: Wieso drängt es gerade die konservative Seite im Tango nun derart
zu lebenden Musikern? Mein schrecklicher Verdacht: Außerhalb der geschlossenen
Encuentro-Gemeinde beginnt das Publikum momentan doch zu zweifeln, ob die
Tanzabende mit den meist ähnlichen historischen
Programm einiger weniger Orchester aus den 1940-er Jahren den Gipfel an
Tanzeslust bescheren. Also sucht man nach einem Weg, sich einen „modernen“ Anstrich zu geben, ohne das Ideologiegebäude um Einsturz zu bringen.
Ein Ausweg sind offenbar die derzeit aus dem Boden
schießenden Formationen, welche die alten
Arrangements brav nachspielen – sozusagen „EdO rauschfrei“. Und das Publikum hat – da es der
Tangofummel und -schuhe allmählich überdrüssig ist – wieder was Neues zum
Gucken. Und nachdem man jahrelang behauptete, Live-Auftritte größerer Gruppen
seien schlicht nicht finanzierbar, ist dies nun anscheinend überhaupt kein Problem
mehr…
Das Allerschönste dabei: An so richtig moderner, gar schwieriger Musik kommt man damit vorbei – ein Trost für viele
Tangolehrer, deren Schüler dank ihres Unterrichts echte Probleme bekämen, diese
kreativ und inspiriert zu vertanzen. So ist doch allen geholfen!
Ich möchte jedoch nicht zu viel Wasser in den Wein
gießen: Ein erster Schritt ist ja
getan, die weitere Entwicklung wird spannend. Und ich gönne es den
Veranstaltern ja, ein neues, ertragreiches
Format entdeckt zu haben.
Dennoch warne ich vor
allzu großer Besoffenheit beim momentanen „Live-Hype“:
Wenn die Damen und Herren auf der Bühne treuherzig vorgeben, ganz im Stile D’Arienzos oder Di Sarlis zu musizieren, ist man von neuen Ufern noch ein gutes
Stück entfernt. Und – oh Schreck – nicht selten ist mir das Original lieber!
Zeitgenössisch? Ich würde eher sagen: „zweitgenössisch“…
P.S. Ein Standardargument traditioneller DJs ist ja, das Publikum wolle es so.Ich habe Olli Eyding gestern unter anderem
das geantwortet:
„Die
Hörgewohnheiten üblicher Gäste entstanden mittels klassischer Konditionierung.
Durch Dauerbeschallung mit historischen Aufnahmen hat man – wie beim
Pawlowschen Hund – erreicht, dass beim Erklingen solcher Musik der Sabber
tropft. Klar, dass man verstört reagiert, wenn mal etwas Ungewohntes kommt.
Man könnte das ändern, wenn man wollte. Dann würden
wieder mehr tänzerisch Begabte die Milongas besuchen – und andere wegbleiben.“
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