Von Magie, Maggi, Neotango und Tango nuevo
Soeben hat der Münchner DJ Olli Eyding auf Facebook meinem vorigen Artikel eine längere
Abhandlung zum „Tango nuevo“
gewidmet. Er ist Verfasser verschiedener Artikel über Tangomusik (z.B. in der „Tangodanza“).
Ich möchte seinen Text detailliert kommentieren. Erstes Zitat:
"Tango Nuevo" bedeutet zweierlei:
1. Musikalisch (seit den Fünfzigern bis in die Achtziger)
Piazzollas musikalische Fusion zwischen Tango, Rock und Jazz mit feinen Melodien, aufbauend auf kontinuierlichen, spannenden, aber monotonen Rhythmen, sodass all das Verspielte, sich ständig Ändernde des traditionellen Tango auf der Strecke blieb. Viele Menschen kennen Tango nur so. So existierte Tango bis Mitte der Achtziger in den Köpfen der meisten Musikinteressierten.“
Ich nehme als Grundlage den Wikipedia-Eintrag zum Tango nuevo, den ich auch schon in meinem vorigen Artikel verlinkt hatte.
Danach sind Piazzollas musikalische Quellen vielfältiger als von Eyding dargestellt:
„Anstelle der immer gleichen Wiederholung der vorhersehbaren rhythmischen Muster, dem Rückgriff auf das vertraute harmonische Vokabular und den einfachen Formen des traditionellen Tango modernisierte Piazzolla den Tango, indem er durch Rückgriff auf die europäische Kunstmusik, die argentinische Folklore und den Jazz seine Form veränderte und seine Rhythmen modifizierte. Er verwendete den Kontrapunkt und die Fugenform. Zudem griff er auf harmonische Neuerungen und die Tonsprache von Béla Bartók, Sergei Prokofjew, Igor Strawinsky und Heitor Villa-Lobos zurück, womit ihm Dissonanzen, kantige Melodien und fortschrittliche formelle Konzepte zur Verfügung standen.“
Vor allem aber wird richtigerweise festgestellt: Das „vertraute harmonische Vokabular“ und die „einfachen Formen“ sind dem traditionellen Tango zuzuordnen. Und nein: Mit Rockmusik würde ich Piazzolla eher nicht in Verbindung bringen.
Weiter heißt es bei Wikipedia:
„Dennoch verlor Piazzollas Tango Nuevo nie das Romantische und die Leidenschaft, Dramatik, Erotik und Heftigkeit des traditionellen Tango, so dass stets der Tango spürbar bleibt. Dies wird zwar verstärkt durch den Rückgriff auf die charakteristischen Klangfarben der Violine und des Bandoneons (dessen Spieltechnik Piazzolla perfektionierte), ist aber auch in Interpretationen ohne Bandoneon zu erfahren.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Tango_Nuevo
Ich finde, genau das macht die Faszination der Kompositionen Piazzollas und seiner Zeitgenossen aus: Sie sind hör- und erfahrbar stets Tango – nur halt mit elaborierteren musikalischen Mitteln.
Und, mit Verlaub: Bis Mitte der 1980-er Jahre war Tango „in den Köpfen der meisten Musikinteressierten“ nicht von Piazzolla geprägt, sondern durch die Tanzschultangos von Hugo Strasser, Max Greger und ähnlicher Orchester. Und durch die Schlager-Tangoschnulzen, welche in Musikfilmen von Künstlern wie Peter Alexander oder Fred Bertelmann dargeboten wurden. Selbst die E-Musik-Fans entdeckten Piazzollas Musik erst in den letzten drei oder vier Jahrzehnten. Und die traditionelle argentinische Tangomusik kennt auch heute außerhalb der Tangoszene kaum jemand.
Weiter schreibt Olli Eyding zum Tango nuevo:
„2. Tänzerisch und musikalisch um 2000
Eine Erweiterung und tiefere Durchdringung der tänzerischen Ausdrucksformen (Federführend waren Oscar Salas, Chicho und Gustavo Naveira), was sich in einer organischeren, natürlicheren Art des Tanzens sowie einer Erweiterung (Colgada, Volcada) und Befreiung (extrem weite Umarmung) niederschlug und von neuer Musik wie Gotan, Tanghetto usw. begleitet wurde, die ebenfalls kontinuierliche Beats statt filigrane Phrasierungen bietet.
Die Rückwendung zum Traditionellen hat die neuen Figuren gezähmt und integriert, oder - angetrieben von der Encuentro-Bewegung - verbannt.
Beide „Tango Nuevos" erzeugen durch ihre weniger filigrane Phrasierung keine so innige Verbindung der Tanzenden mit der Musik, wie es die vielschichtige traditionelle Tangomusik mit ständig sich verändernder Textur, Instrumentierung usw. anbietet.
Stattdessen inspirieren beide durch Melodiöses, sie eröffnen eher Bewegungsräume, was man an den teilweise etwas unmotivierter erscheinenden, enthemmt und wild durch den Raum fliegenden Tanzpaaren auf Neolongas manchmal gut beobachten kann.“
Zunächst muten die anfangs genannten Vertreter des getanzten Tango nuevo etwas seltsam an. Einen „Oscar Salas“ beispielsweise kenne ich nicht. Wikipedia nennt hier unter anderem Gustavo Naveira, Mariano Frúmboli, Fabián Salas, Sebastián Arce, Pablo Verón und Homer Ladas.
In dieser Quelle wird richtigerweise festgestellt, dass man Tango nuevo-Bewegungen beispielsweise auch zu Stücken des Neo- oder Elektrotango tanzt. Diese wieder relativ simple Musik hat aber mit Tango nuevo wenig zu tun. Es ist also falsch, wenn Eyding von den „beiden Tango nuevos“ schreibt.
Interessant ist auch ein Zitat Gustavo Naveiras: „Man kann als Tango nuevo die Phase nach 1980 erachten, in der der getanzte Tango technisch und künstlerisch seine höchste Entwicklung erreichte.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Tango_Nuevo
Schwer atmend lese ich Eydings Behauptung, die „Tango nuevos“ erzeugten keine so „innige Verbindung der Tanzenden mit der Musik“, wie es die „vielschichtige traditionelle Tangomusik“ anbiete. In meinem letzten Artikel habe ich ein Tanzvideo zu „Libertango“ veröffentlicht, das genau diese Verbindung zeigt. Und ich glaube, Gänsehaut sollte nicht nur Wasservögeln vorbehalten sein…
Am Schluss kriegen wir noch ein Viertelpfündchen Ideologie mit, wenn Olli Eyding die Kamellen von den „enthemmt und wild durch den Raum fliegenden Tanzpaaren auf Neolongas“ vom Faschingswagen wirft. Abgesehen davon tanzt man auf Neolongas höchst selten zur Musik Piazzollas, sondern zu Lounge-Klängen, welche bei natürlichen Geburten auch die Wehentätigkeit fördern sollen.
Quelle: https://www.facebook.com/groups/1820221924868470
Ich halte Olli Eyding für einen sehr erfahrenen DJ, dessen Auflegen ich vor Jahren einen Abend lang persönlich erleben und bewundern durfte:
http://milongafuehrer.blogspot.com/2018/06/soziologie-einer-grostadtmilonga.html
Er schafft es, den Bogen von weitgehend alten Aufnahmen zu modernen Cover-Ensembles zu spannen - vielleicht auch in der Hoffnung, dass es das orthodoxe Münchner Tangopublikum nicht merkt. Waghalsigere Experimente, gar Tango nuevo, kann er sich wohl nicht leisten. Ich finde, das merkt man an seinen Aussagen, welche er übrigens nirgends durch Quellenangaben belegt. Sein Spezialgebiet sind Piazzollas Werke sicherlich nicht.
Vielleicht zur Weiterbildung:
http://milongafuehrer.blogspot.com/2018/12/jede-menge-piazzolla.html
Dennoch bedanke ich mich bei Olli Eyding ausdrücklich für die lange Stellungnahme, welche eine interessante intellektuelle Auseinandersetzung ermöglicht. Dieses Vergnügen wird mir nicht oft zuteil.
Mir geht es als Tänzer mit dem Tango nuevo ähnlich wie als Zauberkünstler mit dem Begriff „Magie“. Längst ist damit nicht nur der Bereich der Muse Maja gemeint – nein, der schillernde und attraktive Begriff muss für alles Mögliche herhalten – egal ob für iPads, Schnaps, Kaffee, Bier oder Schönheitsprodukte.
https://www.slogans.de/slogans.php?GInput=magische&SCheck=1
Daher fleddere ich abschließend einen in der Zauberszene bekannten Spruch:
„Man sollte Magie nicht mit Maggi verwechseln.“
Und so konnte man 1956 das feine Geschmacksempfinden zum
Drüberstreuen bewerben. Erinnert mich irgendwie an Tango-Argumentationen:
Olli Eyding hat seinen Text auf meine Kritik hin leicht verändert, steht aber nach wie vor zu seinen Kernaussagen. Einigen werden wir uns nicht - jeder Lesende darf entscheiden, welche Argumente er für überzeugender hält.
AntwortenLöschenJedenfalls bedanke ich mich bei Olli für den fairen Meinungsaustausch!