Man muss mich nicht lieben
Gestern habe ich mir endlich noch einmal einen Film angesehen, der mich vor über 15 Jahren ebenso fasziniert hat wie „Tango Lesson“ von Sally Potter aus dem Jahr 1997. Freilich aus ganz anderen Gründen.
„Man muss mich nicht lieben“ („Je ne suis pas là pour être aimé“) heißt das Meisterwerk von Stéphane Brizé aus dem Jahr 2005. Es hat mich gestern wieder genauso gepackt wie beim ersten Mal, als ich es im Fernsehen sah. Glücklicherweise erwarb ich damals die DVD.
Zur Handlung:
Der geschiedene Gerichtsvollzieher Jean-Claude führt
ein wahrhaft graues Leben: Im verknittterten Trenchcoat und mit Aktentasche
zieht er durch Arme-Leute-Viertel, um dort Pfändungen durchzuführen oder Mieter
sogar aus der Wohnung zu werfen. Patrick Chesnais erledigt diese Rolle
mit konstant eingefrorener Mimik – Gefühle, so scheint es, sind bei ihm sicher im Panzerschrank verwahrt. Wahrlich: Man muss ihn nicht lieben.
Das gilt wohl für seine ganze Familie: Seiner Ex-Frau geht er aus dem Weg. An den Wochenenden besucht Jean-Claude seinen Vater im Altenheim – einen verschlossenen Despoten, der ihn und das Heimpersonal ständig schikaniert. Die Geschwister haben den Kontakt zum Vater (Georges Wilson) längst aufgegeben. Besonders wurmt es den Sohn, dass der alte Herr seine ganzen Tennis-Pokale weggeworfen hat, die der junge Jean-Claude einst gewann – vom ehrgeizigen Vater zum Erfolg getrieben.
Ähnlich steril gestaltet sich das Verhältnis Jean-Claudes zu seinem eigenen Sohn Jean-Yves (Cyril Couton): Der wäre lieber Gärtner geworden, ist aber dann doch – ebenfalls als Gerichtsvollzieher – in die Kanzlei seines Vaters eingetreten. Er wagt es aber nicht, mit diesem über seine beruflichen Sehnsüchte zu sprechen. Ob er einige Pflanzen in sein Büro stellen dürfe? Jean-Claude erlaubt es zunächst – in einem Wutanfall fordert er später aber, den „botanischen Garten“ wieder zu entfernen.
Kein Wunder, dass bei dem über Fünfzigjährigen zunehmend der Körper rebelliert: Wegen Kreislaufproblemen sucht er einen Arzt auf, der ihm zu mehr Bewegung rät. Vom Tennis (seiner früheren Sportart) hält der Mediziner aber nichts.
Schon öfters hat Jean Claude seinen Blick auf eine Tangoschule geworfen, welche gegenüber seiner Kanzlei liegt. Er entschließt sich, dort einen Kurs zu buchen. Auf diese Weise lernt er die fast 20 Jahre jüngere Françoise kennen, welche von Anne Consigny mit unglaublich zartem Einfühlungsvermögen gespielt wird. Bereits bei ihrem ersten Tango erleben die beiden das Wunder, welches nur Aficionados erfühlen können, wenn zwei Seelenverwandte einander entdecken.
Im weiteren Verlauf nähern sich die beiden millimeterweise an – wie die beiden Schauspieler dieses aufkeimende Hoffen darstellen, hat höchsten Gänsehaut-Faktor. Auf dem Heimweg von einer Tangoshow (mit Géraldine Rojas & Javier Rodriguez) küssen sie sich zum ersten Mal.
https://www.youtube.com/watch?v=n1pQoeiB9L0&t=4s
Was Jean-Claude aber nicht weiß: Françoise lebt mit dem ziemlich verspulten und sich selbst bedauernden Lehrer Thierry (Lionel Abelanski) zusammen, der sich ein Sabbatjahr genommen hat, um einen Roman zu schreiben. Mit dem kommt er nur mühsam vorwärts – sieht sich daher aber außer Stande, seine Freundin zum Tangokurs zu begleiten. Dennoch ist die baldige Heirat geplant.
Ein intriganter Tangoschüler, der selber Françoise ständig anbalzt, versorgt Jean-Claude schließlich mit diesen Informationen. Für den bricht eine Welt zusammen – er flüchtet geradezu vor der jungen Frau. Diese taucht dann in seiner Kanzlei auf und versucht eine Entschuldigung: Es täte ihr leid, bei ihm falsche Hoffnungen geweckt zu haben. Aber sie habe gehört, Frauen seien vor der Hochzeit eh ein wenig verwirrt. Sie könnten doch Freunde bleiben und auch weiterhin miteinander Tango tanzen.
Jean-Claude reagiert maximal holzig und wirft sie hinaus: Er wünsche sich lediglich, dass sie aus seinem Leben verschwinde.
Dennoch bröckelt sein Gefühlspanzer zunehmend: Er fühlt sich mehr und mehr unwohl bei seinen Zwangsvollstreckungen und rät schließlich seinem Sohn, nicht ebenso in einer Gerichtsvollzieher-Kanzlei zu versauern wie er. Mit seinem Vater im Altenheim bricht er schließlich den Kontakt ab.
Der Wendepunkt ist erreicht, als der kurz darauf verstirbt und Jean-Claude in seinem Schrank die ganzen Tennispokale und Presseberichte aus seiner Jugendzeit findet:
https://www.youtube.com/watch?v=mPdZee-jRrM
Die entscheidende Botschaft kommt schließlich von der langjährigen Sekretärin seiner Kanzlei. Ja, sie habe an der Türe gelauscht, als die junge Dame ihn neulich besucht habe. Die habe zwar viel geredet, aber nicht ein Wort davon selber geglaubt. Und sie selbst habe vor vielen Jahren eine ähnliche Situation erlebt. Hätte damals auch jemand mitgehört und ihr dies gesagt, müsst sie heute ihre Wohnung nicht nur mit einem Hund teilen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Man_muss_mich_nicht_lieben
Wie der Film ausgeht, sei hier nicht verraten. Ich kann meinen Leserinnen (!) und Lesern nur ans Herz legen, ihn sich anzusehen. Hier der Trailer:
https://www.youtube.com/watch?v=nIjw0e_1QPA
Derzeit kann man die DVD (neu oder gebraucht) z.B. noch bei „Amazon“ erwerben. Auch verschiedene Streaming-Dienste bieten den Film an:
https://www.werstreamt.es/film/details/14591/man-muss-mich-nicht-lieben/
Und hier noch einige Schlüsselszenen:
https://www.youtube.com/watch?v=Kx_GRIP20MA&t=34s
Fazit
Ich habe schon eine Menge Tangofilme gesehen (und zum Teil auch besprochen), die unseren Tanz in Klischees ersäufen: Tradition, Exotik, Erotik, Leidenschaft, tralala… Stéphane Brizé ist es dagegen gelungen, den Tango als Mittel darzustellen, das verbale Sprachlosigkeit überwindet, indem es sie durch die Körpersprache ersetzt. Man müsste das Werk an Filmhochschulen verwenden. Vielleicht stiege dann die Zahl deutscher Regisseure, welche Gefühle nicht mit Schwitzen, Stöhnen, Augenrollen und Nüsternblähen darstellen lassen, sondern die sensible Reduktion bevorzugen.
Übrigens zeigt sich dieser erweitere Blick auch in der Musik, für die Christoph H. Müller und Eduardo Makaroff (Gotan Project) verantwortlich zeichnen – eine wunderbare Melange aus Tradition und Moderne.
Von der Kritik wurde der Film – zu recht – mit Lob überhäuft:
„Stephane Brizé gelingt mit seinem Spielfilmdebut ein kleines Wunder und große Kinokunst. Er zelebriert den Reiz des Schweigens, die Symbolik von Gesten, die Bedeutung von Blicken und serviert kein plattes Hollywood-Ending, sondern ein fantasievolles und offenes Ende. Man muss diesen sperrigen Menschen nicht lieben. Aber man tut es. Aus ganzem Herzen!" (Blickpunkt: Film)
https://www.koolfilm.de/NotHereToBeLoved/notloved.php4
Daher mein Tipp: Für ein paar Euro lernen Sie durch diesen Film mehr über Tango als in einem Workshop oder Kurs zum mehrfachen Preis!
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