Gestohlene Tandas
In der Facebook-Gruppe „Tango DJ Forum“ (TDJF) wurde jüngst ein interessantes Thema besprochen. Ein dortiges Mitglied schrieb:
„Ich selbst habe gemischte Gefühle dazu und würde gerne die Meinung vor allem von professionellen musicalizadores erfahren, d.h. von Leuten, die sehr aktiv sind, reisen und spielen und die auf diese Art von Einkommen angewiesen sind, um ihre Rechnungen zu bezahlen.
Was haltet ihr davon, wenn man euch nach Songtiteln, Tandas, Playlists fragt?
Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass Musik niemandem gehört (naja, hauptsächlich den Plattenfirmen und so), und es ist nicht so, dass ein TDJ sie entdeckt (…) oder sogar komponiert.
Abgesehen davon, haben wir nicht Stunden und Stunden damit verbracht, auf Milongas zu gehen, zu Hause Musik zu hören, Bücher und Datenbanken zu lesen? So habe ich zumindest meine Datenbank erstellt, mehr oder weniger. Wenn wir das getan haben, war das dann nicht auch Arbeit? Warum sollte jemand seine Arbeit umsonst zur Verfügung stellen?
Ich habe absolut nichts dagegen, Musik weiterzugeben (ja, ja, das ist illegal), wenn mir jemand sagt: ‚Hast du eine gute Version von diesem Lied?‘. Aber wenn jemand z.B. darum bittet, ein Foto von den letzten Tandas zu machen, die ich gespielt habe – obwohl ich das bisher noch nie abgelehnt habe – dann sagt etwas in mir, dass da etwas nicht stimmt. Einmal hat man mir sogar gesagt: ‚Ich würde gerne selbst mit dem Auflegen anfangen, es wäre also interessant zu sehen, was du heute Abend gemacht hast‘. Das ist ein Job für mich. Lustigerweise passiert mir das auch beim Tanzen: Leute kommen und fragen, wie ich dies und das mache, oder ob ich ein paar Übungen vorschlagen könnte, um dies und das zu verbessern. Wenn Sie verstehen wollen, wie ich etwas mache, besuchen Sie einen Kurs! Das ist mein Job, und ich bezahle damit meine Rechnungen. Wenn ich anfange, es umsonst zu machen, dann weiß ich nicht, wie das enden wird.
Haben Sie auch ähnliche Erfahrungen gemacht? Wie denken Sie darüber?“
Die Tendenz in den 114 Kommentaren war eindeutig: Auskunft über das gerade laufende Stück – gerne. Eine ganze Tanda oder gar die gesamte Playlist herausrücken? Eher nicht! Schließlich habe man viel Zeit und Geld investiert, um als DJ hohe Qualität zu bieten – da könne man sein Material nicht für lau abgeben.
Der obige Fragesteller fühlt sich teilweise missverstanden und schiebt mehrfach Klarstellungen (?) dieser Art nach:
„Ich habe keine Angst davor, dass mir meine Tandas gestohlen werden, die auch nicht meine sind, denn ich wette, dass viele das Gleiche getan haben, tun und tun werden. Was ich damit sagen will, ist vielleicht, dass dies wenig Respekt vor der Arbeit anderer Menschen zeigt. Sie haben Zeit und Energie in diese Arbeit investiert.“
Eine Minderheit gibt an, Playlists in der Regel herauszugeben oder sogar zu veröffentlichen. Insbesondere, wenn es sich um ernsthafte Interessenten handle, welche sich zum DJ fortbilden wollen.
Andere weisen darauf hin, man könne sich vor dem Kopieren kaum schützen, da es ja beispielsweise Musikerkennungs-Programme wie „Shazam“ gebe, welche das Klauen ermöglichten.
Gelegentlich wird auch der Vergleich mit dem Kochen angestellt: Auch wenn man seine Zutaten-Liste und vielleicht sogar das Rezept veröffentliche, bliebe es eine Frage der Kochkunst des Anwenders, ob das Gericht dann wirklich schmecke.
Als Beispiel dieser Kommentar:
„Nach dem Auflegen habe ich meine Wiedergabelisten im Internet geteilt. Wie in anderen Berufen auch, ist das wahre Zeichen der Meisterschaft, andere sehen zu lassen, wie man es macht.
Nichts kann Erfahrung ersetzen. Und wenn ein DJ deine Tandas in einer anderen Milonga mit einem anderen Publikum spielt, dann hat er nichts davon verstanden, wie eine Milonga funktioniert.
Gute Tänzer werden es spüren und gehen weg.“
Getreue Leser wird es kaum überraschen, dass ich mich hier der Minderheiten-Ansicht anschließe: Von den derzeit 76 Playlists und 12 Einzeldarstellungen von Tandas auf meinem Blog stammt die Mehrzahl von mir. Öfters habe ich auch befreundete DJs gefragt, ob ich ihr Material veröffentlichen dürfe – eine Abfuhr habe ich nie erhalten.
Um eines der obigen Argumente in meiner gewohnt freundlichen Art aufzugreifen: Wer eines der gebotenen Musikprogramme eins zu eins kopiert, ist eh ein Depp. Er hat nämlich genau nichts von gutem Auflegen kapiert: Es kommt doch immer darauf an, für welches Publikum ich spiele, wie lange eine Milonga dauert, wie sich die Situation auf dem Parkett ausnimmt – vielleicht ist es elend voll, drückend schwül, oder die Gäste sind aus anderen Gründen genervt, müde oder aufgekratzt. All das und einiges mehr würde mich bewegen, das laufende Programm entsprechend anzupassen. Und es muss meine Lieblingsmusik sein – auch das springt in magischer Weise auf das Publikum über!
Daher sind meine Playlists stets nur Anregungen, welche Art von Musik, welche Titel man sich einmal anhören sollte. Gerade bei modernerer Tangomusik gibt es nicht die vielen Playlists, die man sich aus dem Netz herunterladen kann, und die doch nur Variationen der vielleicht 800 Titel sind, welche nach konservativer Ideologie als „gut tanzbar“ gelten. Und ja – viele Tandas dieser Art können mir gestohlen bleiben…
Ein Argument lasse ich jedenfalls nicht gelten: Man habe doch so viel Zeit und Geld investiert, also sei man zur Forderung einer angemessenen Gage berechtigt. Es gibt auf vielen Gebieten Enthusiasten, die einen ähnlichen Aufwand beim Modelleisenbahn-Bau, der Wellensittich-Zucht oder dem Sammeln von Bierdeckeln betreiben, ohne das jemals für einen Brotberuf gehalten zu haben.
Und um eine Spur ernster zu werden: Wie viele Menschen in unserem Land bekleiden ein Ehrenamt – sei es als Rettungssanitäter, Feuerwehr-Mitglied oder Helfer bei den Tafeln. Sie tun das oft genug für reinen „Gotteslohn“, bestenfalls für eine kleine Spesen-Erstattung. Unsere Gesellschaft wäre weit ärmer ohne all diese Idealisten. Im Tango meinen hingegen viele Aktive, dass man sie für jeden Dreck bezahlen müsse.
Bei vielen Themen unseres Tanzes komme ich immer wieder zum selben Schluss: Die jeweiligen Standpunkte sind durchaus berechtigt, wenn man davon ausgeht, am Tango lasse sich Geld verdienen, man müsse sie also ökonomisch betrachten.
Tatsächlich aber gelingt es in den seltensten Fällen, mit dem Tango seinen Lebensunterhalt (oder wenigstens einen erheblichen Teil) zu finanzieren. Klar, man darf es gerne versuchen – aber wenn es (wie meistens) schiefgeht, möge man mich mit dem Gejammer verschonen!
Diese Branchen-Sicht im Tango führt überdies zu einer Reihe von Fehlentwicklungen: Dann macht man halt einen Bogen um „schwierigere“ Musik, weil sonst eventuell weniger Gäste kommen, verkauft komische Schritte statt Technikübungen, weil sonst zahlreiche Schüler davonlaufen – und vieles mehr. Und letztlich klappt die ganze Anpasserei dann doch nicht, weil einfach der Kundenkreis deutlich zu klein ist.
Der Lohn vieler Tango-Aktivitäten liegt doch in der Sache selber! Derzeit werden wir in unserem Garten von einem Amselmännchen beglückt, das mittags und abends vom Wipfel seines Lieblingsbaums ausufernde Konzerte gibt. Mich erinnert das immer an traditionelle DJs, welche ja auch von einem Podium aus, hinter einer imposanten Anlage aufgebaumt, Krach machen.
Was die Sache für das DJ-Männchen noch attraktiver macht als für den Singvogel: Er kann damit die Bewegungen dutzender Paare von Artgenossen auf dem Parkett steuern: Alle tanzen nach einer Pfeife.
Ich kann da nur dem ehemaligen SPD-Oppositionsführer Hans Ulrich Klose beipflichten, der sintemalen den Regierungsfraktionen im Bundestag entgegenschmetterte:
„Wir pfeifen nicht nach Ihrer Tanze!“
Dazu passend hier noch das absolut professionelle Angebot eines Tango DJ-Workshops:
https://www.youtube.com/watch?v=jLYOvJ4z-Vg
Quelle: https://www.facebook.com/groups/TangoDJForum (Post vom 27.5.22)
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