Der Lipsi-Effekt

 

Vor zwei Tagen veröffentlichte Thomas Kröter auf Facebook ein Tanzvideo von Virginia Vasconi und Juan Cupini mit den Worten:

Marisol Martinez in Höchstform mit den wunderbaren El Cachivache & 1 grandiosen tanzpaar. TANGO nuevo zum dahinschmelzen...“

https://www.facebook.com/thomas.kroter.5

Tango nuevo? Das musste ich sehen:

https://www.youtube.com/watch?v=PkL8mJfzMVg

Nach Betrachten des Videos hatte meine Begeisterung ein wenig abgenommen: Klar, die beiden können sehr gut tanzen – wobei mir manches etwas „gewollt“ und eher gymnastisch erschien. Na gut – aber „Tango nuevo“? Die beiden tanzen zu einem traditionellen Vals von Francisco Canaro aus dem Jahr 1931: „Yo no se que me han hecho tus ojos“ („Ich weiß nicht, was deine Augen mir angetan haben“).

Und sicher: Der Walzer wird von einem zeitgenössischen Ensemble (El Cachivache mit der Sängerin Marisol Martinez) in durchaus moderner Art interpretiert. Deren Spielweise hat allerdings mit Tango nuevo genau nichts zu tun – und die tänzerische Darstellung ist halt guter Showtango mit einigen Trennungen, Posen und hohen Beinaktionen.

Vielleicht darf ich bei der Gelegenheit mal wieder daran erinnern: „Tango nuevo“ nennt man die Tangoform, welche 1955 von Astor Piazzolla begründet wurde.

https://de.wikipedia.org/wiki/Tango_Nuevo

Und die zog einen bestimmten Tanzstil nach sich, den man heute auf den üblichen Tango-Vortanzrunden kaum noch sieht. Er könnte dann beispielsweise so aussehen:

https://www.youtube.com/watch?v=BLNFOZoQlEc

Ja, ich weiß: Das ist Bühnentango. Das andere aber auch. (Nebenbei: Hier gibt sich die Tänzerin – ganz untypisch im Tango – als ziemliche Kratzbürste. Wie schön!)

Warum ich das so ausführlich darstelle: Ich meine, fortschrittlichere Tangomenschen werden heute gerne mit Pseudo-Angeboten abgespeist.

Da werden etwas moderner interpretierte Valses euphemistisch als „Tango nuevo“ angepriesen. Mehrfach wurde ich mit solchen Verheißungen auf weit entfernte Milongas gelockt, wo mir dann doch wieder eher Althergebrachtes serviert wurde:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2015/03/no-vuelvo-al-sur.html

Oft habe ich es erlebt, dass mir „gemischte Musik“ angeboten wurde und das erste modernere Stück dann im letzten Drittel der Milonga erklang. Immer wieder muss ich mir sagen lassen, es gebe doch genügend Veranstaltungen, wo auch zeitgenössische Einspielungen erklängen. Ich fürchte: Oft genug kurz vor Mitternacht in ein, zwei Tandas.. Der Rest ist Schweigen.

Oder es werden halt Live-Ensembles präsentiert, welche die alten Arrangements brav und nicht ganz so schön wie ihre historischen Vorbilder abspulen. Da kommt man sich dann ungeheuer modern vor…

Ich fürchte solche Strategien nehmen Rücksicht darauf, dass die fortschrittlicheren Tangoleute gerne Kompromisse eingehen. Man ist schon froh, wenn wenigstens ab und zu von der EdO-Auswahl leicht abgewichen wird. Die heutige konservative Mehrheit dagegen ist knallhart drauf: Bei mehr als einigen Globuli artfremden Musikguts kann es gefährlich werden.

Nein, ihr Lieben: Wer „Tango nuevo“ ins Programm schreibt, der sollte dann schon den Hintern in der Hose haben, spätestens nach einer Stunde mal eine Piazzolla-Tanda zu spielen. Damit nicht die Falschen bleiben und die Richtigen gehen.  

Solche Pseudo-Modernismen erinnern mich an den „Lipsi-Effekt“, den ich schon einmal beschrieben habe:

https://milongafuehrer.blogspot.com/2016/03/auseinander-tanzen-verboten.html

In der ehemaligen DDR nervte es die Führung erheblich, dass die sozialistische Jugend sich musikalisch eher an den westlichen Vorbildern wie dem Rock’n Roll orientierte. Repressive Maßnahmen wie „Tanzregeln“ und Aufsichtspersonal kamen gar nicht gut an:

Wenn im Kulturhaus einige Jugendliche beginnen, den Tanzsaal mit einer Turnhalle zu verwechseln, werden sie vom Klubdienst aufgefordert, anständig zu tanzen. Dabei erziehen sich die Tanzpaare gegenseitig. Wer nicht hören kann, wird kurzerhand aus dem Saal gewiesen.“

Selbst Walter Ulbricht schwante, man müsse der „Amimusik“ etwas Positives aus hauseigener Produktion entgegensetzen:

„Es genügt nicht, die kapitalistische Dekadenz in Worten zu verurteilen, gegen Schundliteratur und spießbürgerliche Gewohnheiten zu Felde zu ziehen, gegen die ‚Hotmusik' und die ekstatischen ‚Gesänge' eines Presley zu sprechen. Wir müssen etwas Besseres bieten."

1959 schuf man dann einen Walzer-Latino-Verschnitt namens „Lipsi“, welcher mit riesigem Propaganda-Aufwand der heimischen Jugend aufs Auge (bzw. die Füße) gedrückt werden sollte. Hier ein tränentreibendes Zeitdokument (ab 1:30):


https://www.youtube.com/watch?v=Od_gRfdr4Ww

Pflichtgemäß schwärmte das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“, Auseinandertanzen sei nun erlaubt:

„Das Bewegungsbild ist voller Harmonie und mit seinem Lösen und Wiederfinden der Partner, mit seinen Solodrehungen ganz und gar modern. Unsere Jugend will sich nicht in ständiger geschlossener Tanzhaltung bewegen, sie wünscht sich Bewegungen, wie sie der Lipsi bringt, freilich weit entfernt von jenen geschmack- und hemmungslosen Verrenkungen überseeischer Tanzimporte, die ebenso wie die ohrenbeleidigenden Jazzverfälschungen aller Art die Gehirne einer zu ‚Rettern des Abendlandes' vorgesehenen Jugend der westlichen Länder vernebeln."

Na eben – wozu denn Tango nuevo, wenn wir doch das ORQUESTA LA JUAN D’ARIENZO haben…

Die schon damals von vielen DDR-Bürgern als Lachnummer empfundene „Lipsi-Aktion“ ging gewaltig schief, der Modetanz verschwand innerhalb weniger Jahre. Nicht nur, weil der Orchesterchef Kurt Henkels die Bevormundung leid war und in den Westen floh.

Am 2.11.1959 demonstrierten Jugendliche in Leipzig und skandierten einen auf den Schlagerkomponisten Alo Koll gemünzten Spruch:

„Wir tanzen keinen Lipsi und nicht nach Alo Koll, wir sind für Bill Haley und tanzen Rock’n Roll.“

15 der Teilnehmer wurden zu Haftstrafen zwischen sechs Monaten und viereinhalb Jahren verurteilt.

https://de.wikipedia.org/wiki/Lipsi_(Tanz)

Was ich mich immer wieder frage: Wenn sogar die mächtige SED bei einem solchen Projekt scheiterte: Warum lassen wir uns im Tango – ganz ohne die Gefahr von Haftstrafen – diese Bevormundung gefallen?

Aber vielleicht könnte zukünftig der eine oder andere traditionelle „TJ“ wenigstens mal einen Lipsi auflegen. Wäre lustiger als das übliche Programm!

Kommentare

  1. Du meinst wirklich, Thomas Kröter ist im Propagandakader einer Organisation zu verorten, die dem derzeit übermächtigen "Tango Nuevo" verzweifelt einen neuen Tanzstil entgegen setzten will?

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    1. Danke für die Gelegenheit eines Dementis!
      Thomas Kröter befindet sich in überhaupt keinem Kader. Es fiel mir nur auf, dass man es offenbar auch bei ihm geschafft hat, den Begriff "Tango nuevo" zu vernebeln.

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  2. Mein langjähriger Kritiker Klaus Wendel hat sich nun darauf verlegt, mich mit Mails zu nerven. Kürzlich hat er mir zu meinem Artikel „Der Lipsi-Effekt“ unter anderem „absolute Ahnungslosigkeit“ attestiert. Wann ich denn endlich aufhöre, mich als Tango-Blogger zu gerieren und aufhöre, Menschen mein Geschwurbel zuzumuten?

    Ich habe ihm daraufhin mitgeteilt: „Ich behalte mir vor, weitere Mails in diesem Stil auf meinem Blog zu veröffentlichen. Ich sehe nicht ein, dass Sie mein Postfach dazu missbrauchen, mich mit einem solchen Quatsch zu belästigen.“

    Offenbar schreckt ihn diese Ankündigung nicht. Gerade erhielt ich eine weitere Mail von ihm, die ich folglich im gesamten Wortlaut wiedergebe:

    „Herr Riedl,

    es ist eine Frage der Hartnäckigkeit: So lange Sie glauben, durch ständiges Wiederholen, durch gebetsmühlenartiges Beharren, dass Piazzolla zum Grundrepertoire einer Milonga zählen sollte und obendrein naiv daran glauben, dass speziell Ihr Blog das auch durch dieses Beharren bewirken könnte, solange kann ich darauf bestehen, dass Sie aufhören, Tango-Artikel zu schreiben.

    Wer ist hier eigentlich in der Trotzphase? Sie doch wohl Herr Riedl, seit langem schon! Seit 10 Jahren schreiben Sie unablässig das selbe.

    Es wurde Zeit, dass Ihnen mal jemand den Spiegel vorhält.

    Und im Übrigen: Sie halten mir vor Ihr Postfach zu missbrauchen? (Das tun Spammer auch.) Aber für Ihren Blog sind diese Mails dann wiederum gut genug? Ein kleiner Widerspruch, oder? Im Übrigen kann man Mails auch einfach löschen.

    Lassen wir’s gut sein. Ich habe auch keine Lust mehr.

    Liebe Grüße
    Klaus Wendel“

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    1. Ich fürchte, letztere Verheißung wird sich nicht erfüllen.

      Ich darf dazu feststellen: Ich habe den Konflikt mit Klaus Wendel nicht gesucht. Vor zirka zehn Jahren hat er mein Tangobuch bestellt, welches ihm nicht gefiel. Das hat er damals in einigen Mails in ziemlich deftiger Wortwahl zum Ausdruck gebracht.

      Seither findet er auf meinem Blog und auch Facebook immer wieder Gelegenheiten, mir totale Inkompetenz in Tangofragen zu attestieren und in Facebook-Gruppen gegen mich zu agitieren.

      Was er über mich behauptet, ist oft genug an den Haaren herbeigezogen. So habe ich nie gefordert, dass „Piazzolla zum Grundrepertoire einer Milonga zählen sollte“ – schon gar nicht im obigen Artikel.

      Und wer sich auch nur die vielen Labels betrachtet, in welche die derzeit 1407 Blogbeiträge sortiert sind, wird unschwer erkennen, dass ich nicht seit 10 Jahren unablässig dasselbe schreibe. Meine Gastautoren ebenso wenig.

      Ich habe Herrn Wendel sogar einen Gastbeitrag zu obigem Artikel auf meinem Blog angeboten. Da kneift er natürlich. Ich finde, das sagt viel darüber aus, worum es ihm wirklich geht.

      Neu ist allerdings, dass er nun sogar darauf besteht, dass ich das Schreiben von Tangoartikeln einstelle. Diesem großmäuligen Anspruch steht allerdings der Artikel 5 unseres Grundgesetzes entgegen. Ich will gar nicht wissen, wie Herr Wendel in einem Staat gegen kritische Autoren vorginge, welcher einen solchen Schutz der Presse- und Kunstfreiheit nicht garantiert.

      Daher werde ich, auch ohne seine gütige Erlaubnis, weiterhin die Texte veröffentlichen, welche mir wichtig erscheinen. Selbstverständlich darf Herr Wendel sich gerne weiterhin durch solche Tiraden öffentlich zur Schau stellen.

      Gerhard Riedl

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