So echt Milonguero

 

Viele meinen ja, ein Autor suche nach Themen. So würde das aber nichts! Im Gegenteil stellen Themen dem Schreiber so lange nach, bis ihm nichts anderes übrig bleibt, als ihnen in seinen Zeilen eine Heimstatt zu bieten.

Gestern Früh – ich war gerade mit dem Hochladen des letzten Artikels beschäftigt, flehte mich ein Video auf der FB-Seite von Thomas Kröter an: „Schau maal, das kann man doch unmöglich so lassen – schreib mich, bittää!!“

Was blieb mir übrig, als dem quengelnden Video seinen Wunsch zu erfüllen?

Es trägt den schönen Titel: „Asi es baile milonguero de tango con musica Osvaldo Pugliese. Carlos Neuman, Charlene Chiu“
So tanze man also im Milonguero-Stil zur Musik von Osvaldo Pugliese. Im Begleittext auf YouTube heißt es:


„Dieses Video gehört zur VIDEO-BIBLIOTHEK DES KULTURELLEN TANGOERBES, es wurde von der Stadtverwaltung Buenos Aires unterstützt.

Der argentinische Tango hat mehrere Stile: die Canyengue, den Salontango oder Pista-Tango, den Milonguero-Tango, den Tango Nuevo und den Bühnentango; sie alle haben den Paartanz, die Umarmung und das Gefühl gemeinsam. Es ist ein sinnlicher und manchmal sexy Tanz.

Die Argentinier können sich den Tangotanz nur mit Tangomusik vorstellen, denn das ist argentinische Kultur: ein Brauch des Volkes seit mehr als einem Jahrhundert.“

(Übersetzt mit www.DeepL.com/Translator - kostenlose Version)

Na ja, mit Eingemeindungen hatten es die Argentinier schon immer: Puglieses Vater war ein italienischer Schuhmacher… Weiterhin irritiert es mich etwas, im Tango nur die Wahl zwischen fünf Stilen zu haben. Wo bleibt denn der sechste – nämlich meiner?

Doch schauen wir mal ins Video! Die Kamera folgt weitgehend dem avisierten Tanzpaar – echten Argentiniern namens Neuman und Chiu. Was zu Puglieses „Recuerdo“ gleich einmal auffällt: So richtig vorwärts kommen die beiden nicht. Ab zirka 0:20 fädelt sich daher vor ihnen ein weiteres Tanzpaar ein (graues Hemd / schwarzes Kleid) – skandalöser Weise ohne den obligatorischen „Cabeceo unter Führenden“ zu betätigen.

Neuman & Chiu drehen weiter fleißig auf der Stelle, was das Paar hinter ihnen (blaue Jeans / schwarzes Minikleid) zwingt, ebenfalls stationär rumzutanzen. 0:50 – unser Demo-Paar hat sich nun doch entschlossen, einige Vorwärtsschritte zu machen, kommt an der Ecke jedoch wieder in Gegenrichtung und nähert sich gefährlich den hinteren Tanzenden. Bei 1:20 verlässt man denn doch die Ecke, kommt aber nicht so richtig aus dem Quark, was das folgende Duo (Glatze, Brille, schwarzweiß gemusterte Hose) zwingt, sich wie ein Brummkreisel auf der Stelle zu bewegen.

Neuman und Chiu steuern bei 1:35 schon wieder ihre Lieblingsecke an – bei 1:50 geht’s aber dann endgültig auf die Gerade, oder? Denkste – ab 2:05 haben sie, obwohl vor ihnen gähnende Leere herrscht, schon wieder ihre Freude am stationären Geeiere entdeckt, was das Paar hinter ihnen (graues Hemd / buntes Kleid) zum Verzicht auf Raumgewinn zwingt. Mindestens ein Paar hat unsere Vortänzer inzwischen links überholt, weil es wohl die Faxen dicke hatte.

Die Musiker setzen – von all dem unbeeindruckt – nun zu den üblichen Sechzehntel-Phrasen kurz vor Schluss an, was die Tanzenden stoisch im Viertelrhythmus überstehen. Umarmung und Ende!

Raumgewinn Vortanzpaar zirka 10 Meter in zwei Minuten 45 Sekunden – also  schätzungsweise 6 Zentimeter pro Sekunde.

Hier das Video:


https://www.youtube.com/watch?v=Qq6qgwE2cuQ

Warum die Kamera nun gerade dem einen Paar folgt, ist tänzerisch nicht zu begründen. Sie führen fast dieselben drei bis vier Schrittkombinationen aus wie die anderen Tanzenden. Warum nicht mehr? Platz wäre genug. Vermutlich sind die beiden berühmt und daher zur Archivierung im Weltkulturerbe vorgesehen. Und was das Erbe betrifft: Da muss ja vorher irgendwer oder was gestorben sein. Vermutlich das Navigationsvermögen.

Um den allfälligen Vorwürfen zu entgehen: Klar darf man so Tango tanzen, wenn’s einem Spaß macht. Persönlich würde ich mich – wenn mir keine andere Wahl bliebe – aber lieber in den Garten setzen und das Gras beim Wachsen beobachten.

Das Ganze erinnert mich an ein Erlebnis, das ich vor einigen Jahren hatte:

In einem – sagen wir mal: etwas renovierungsbedürftigen – Schloss in unserer Umgebung, in dem monatlich sehr schöne Milongas stattfanden, war mindestens einmal jährlich eine Berliner Tangoreise-Gruppe zu Gast. Zusammen mit dem ansässigen Tangolehrerpaar gab es ein Unterrichts-Wochenende inklusive Schloss-Romantik.

Zu jeweils einem Tangoabend waren auch die Tango-Aborigines aus der Umgebung zugelassen. Es war immer wieder amüsant zu beobachten, wie die Gäste von der Spree – vom dortigen Chef eher auf tänzerischen Stillstand getrimmt – das wilde Treiben der Eingeborenen verfolgten. Wahrscheinlich lag ihnen eine Frage auf der Zunge, die weiland Prinz Philipp mal in einer ähnlichen Situation gestellt hatte: „Werfen Sie immer noch mit Speeren aufeinander?“

Zum Schutz des empfindlichen Tango-Nachwuchses hatte man eines Abends sogar die Tanzfläche verkleinert!

Einmal gelang es mir, eine angereiste Tanguera aufzufordern. Die Ronda bewegte sich nur zentimeterweise, so dass ich gezwungen war, eine kleine Trippelei am Platz zu vollführen. Meine Partnerin fragte daraufhin: „Wie nennt man denn diese Figur?“ In meiner Verzweiflung antwortete ich tangopolitisch unkorrekt:  

„Der Schritt heißt: Der Depp vor mir geht nicht weiter!“

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