Vox populi, vox DJ?
„Vox populi, vox Dei“ – „Des Volkes Stimme ist Gottes Stimme“
In der Facebook-Gruppe „Tango DJ Forum“ stellte gestern ein Mitglied eine ziemlich happige Frage, die es auch gleich selber beantwortete. Ich zitiere in voller, aus dem Zusammenhang gerissener Länge:
„Sollen wir das Publikum entscheiden lassen, was musikalisch gut ist? Ist ein DJ, der Applaus der Gäste erhält, notwendigerweise ein guter DJ? Hängt das Zertifikat „gute Qualität“ davon ab, dass man zu diversen Veranstaltungen eingeladen wird?
Die Antwort auf all diese Fragen lautet aus meiner Sicht natürlich nein. Die Sache ist die, dass für viele Menschen die Antwort auf all diese Fragen ja ist. Woher weiß ich das? Weil ich diese Fragen vielen Leuten gestellt habe.
Ich habe verschiedene Male gesehen – kein Hörensagen – wie Leute zu seltsamen Tandas, schlechten Tandas, sogar zu unverschämten Tandas klatschten. Natürlich könnten wir eine Diskussion darüber beginnen, was eine schlechte Tanda ist, ob die Tandas wirklich schlecht seien und so weiter.
Aber sogar hier haben wir ein Problem: Sie werden DJs erleben, die kein Problem damit haben werden zu sagen, dass eine Lady Gaga Tanda großartig ist, sie sei alternativer Tango und so weiter. Sie werden DJs haben, die bei vielen Veranstaltungen spielen und ‚berühmt‘ sind, wenn sie Pasodoble in einer Milonga-Tanda spielen.
Es gibt Leute, die bei einem Tango-Event in einer Vals-Tanda Hochzeitswalzer spielen. Einige andere spielen ununterbrochen langweilige alte Instrumentals. Oder jede halbe Stunde eine D’Arienzo-Tanda.
Und es wird Leute geben, die das beklatschen. Und es wird Leute geben, die sagen: ‚Das ist so ein guter DJ‘. Und diese Kreatur wird bei verschiedenen Anlässen dabei sein, einige davon relevante, bekannte Events.
Wenn man glaubt, dass die Selbstgefälligkeit des Publikums ein entscheidender Faktor für die Qualifikation eines DJs ist, lässt man Leute entscheiden, die meistens (und ich bin hier nur unverblümt ehrlich) den Unterschied zwischen guter und schlechter Musik nicht kennen.“
Übrigens musste ich die ganzen Beiträge aus dem Englischen übersetzen, da man in dieser Szene internäschonäl agiert.
Tendenzmäßig stimmten die Kollgen dem DJ eher zu. Beispiele:
„Der Applaus des DJ besteht in tanzenden Menschen, nicht in klatschenden Händen.“
„Tut mir leid, wenn ich anmaßend oder hochnäsig klinge, aber einige Milonguera/os wissen nicht einmal, zu welchem Orchester sie tanzen. Oder sie definieren, wie gut ein DJ seinen Job macht, je nachdem, wie viele Klassiker und Hits er spielt. Der Milonguero ist ein Geschöpf des Komforts und der Vertrautheit.“
„Ich wage zu behaupten, dass zu viel Applaus von der Tanzfläche ein Zeichen dafür ist, dass man als DJ etwas falsch macht. (…) Was diese DJs tatsächlich erreichen – und das sollte nicht kleingeredet werden – ist, die weniger gebildete Menge von Tänzern zu besänftigen.“
Es gibt aber durchaus differenziertere Sichtweisen:
„Auch wenn einige von uns, als DJs, der Musik folgen, die Muster sehen und einen Song/Tanda ‚musikalisch‘ analysieren.... am Ende des Tages wollen (oder sollten) wir alle wollen, dass die Tänzer Spaß haben und glücklich sind ... (persönliche Meinung). Wenn man sich die Musikindustrie ansieht, finden die genialsten, komplexesten oder unterschiedlichsten Musikstücke keine Anerkennung.... Aber jeder kennt die einfachen Popsongs...Weil sie für die Mehrheit der Menschen attraktiver sind.... Macht dies das eine oder andere schlecht? Nein, es gibt für beides eine bestimmte Zielgruppe ...“
Teilweise lehnt man die Ansicht des Fragestellers auch ab:
„Es ist nicht die Aufgabe des DJs, die Leute zu erziehen, die zahlende Kunden sind und kommen, um zu tanzen und Spaß zu haben. Die Aufgabe des DJs ist es, dafür zu sorgen, dass die Kunden, die er bedient, glücklich und inspiriert heimgehen. Ich persönlich verachte es wirklich, wenn ich das Gefühl habe, dass der DJ versucht, mich zu erziehen, wenn ich nur eine gute Zeit haben möchte.“
Noch eine amüsante Geschichte, die zeigt, wie ein konservatives Tangopublikum gestrickt ist:
„Ich spielte Musik in einer sehr traditionellen Milonga. Einer, bei der nicht jeder Milonguero eine Pugliese-Tanda begrüßen würde. Plötzlich spielte ich eine Tanda des Orquesta Fervor de Buenos Aires (Anm.: modernes Orchester mit klassischen Titeln). Das Parkett blieb trotz der schönen Interpretation halb leer. Es gab keinen Grund für sie, nicht zu tanzen. Aber die Milongueros tanzten nicht. Überrascht, etwas so Unangenehmes für Tänzer gespielt zu haben, aber auch mit der Sehnsucht, die Ursachen zu verstehen, verbrachte ich Wochen damit, an diesen Songs zu arbeiten, elektrostatisches und mechanisches Rauschen hinzuzufügen, Audiofrequenzen zu schneiden und Spuren künstlich zu verschlechtern, damit sie wie kratzige alte Aufnahmen klangen, die von der Zeit verdorben waren. Ich spielte die selben Tangos (verschlechtert) in der selben Milonga, und auf magische Weise füllte sich der Boden mit Tanzpaaren, die dachten, es sei ein ‚vergessenes Orchester‘."
Quelle: https://www.facebook.com/groups/TangoDJForum (Post vom 19.5.22)
Tja, Hauptsache, es kratzt und knistert…
Fragen zum Auflegen betrachte ich wegen meines fortgeschrittenen Alters im milden Abendsonnenschein. Mindestens hundert Musikprogramme dürfte ich seit etwa 2006 schon bei Milongas geboten haben. Inzwischen lege ich nur noch im heimischen Wohnzimmer auf – das allerdings mit großem Vergnügen.
Ein Grund ist auch, dass es inzwischen nicht mehr viele „offene Tangoveranstaltungen“ gibt, wie sie früher fast flächendeckend üblich waren. Da erwarteten die Gäste keine Sparten-Musik, sondern waren neugierig auf Überraschungen fast aller Art. Heute hätte ich oft nur noch die Wahl, nach den geheiligten Riten der „Ritter von der Schrammelronda“ aufzulegen oder dem Publikum möglichst tangofreies Lounge-Gesäusel anzudrehen. Für beides stand und stehe ich nicht zur Verfügung.
Da ich als DJ inzwischen wirklich tiefenentspannt bin, muss ich mich über die gnadenlose Arroganz des obigen Fragestellers nicht aufregen. Traditionelle Tango-DJs bilden inzwischen eine Sekte, der gegenüber Scientologen oder Zeugen Jehovas einen Hort der Liberalität anbieten. Kein Wunder, dass sie sich öfters als Erleuchtete fühlen, welche die Entscheidung über wertvolle Tanzmusik nicht dem Pöbel überlassen. Kollegen, welche vom Festival-Prekariat bejubelt werden, sind daher sofort der Abweichung vom rechten Glauben verdächtig. In der Kirche applaudiert man ja nach der Predigt auch nicht.
Für mich ist Auflegen eine Kunst, welche man nur schwer in Regeln fassen kann. Nach meinen Erfahrungen bei Auftritten verschiedener Art (auch als Zauberer und Moderator) ist es jedenfalls keine gute Idee, dem Publikum den Eindruck zu vermitteln, es sollte demütig die Perlen aufheben, die man vor die Säue geworfen hat. Die Gäste haben nämlich immer Recht – wenn ihnen etwas nicht gefällt, haben Diskussionen keinen Sinn.
Die Anwesenden entscheiden auch völlig autonom darüber, ob sie Beifall spenden wollen oder nicht. „Applausmelker-Sprüche“ oder gar Claqueure sind zutiefst peinlich. Wenn das Publikum klatscht oder gar jubelt, hat man das in Demut und Dankbarkeit entgegenzunehmen – mehr nicht.
Die Stücke, welche ich auflege, müssen zwei Bedingungen erfüllen: Ich möchte, dass sie mir gefallen und ich gerne dazu tanze (was ich oft genug auch tue). Gleichzeitig soll für möglichst jeden Geschmack etwas dabei sein – wobei ich mit den Jahren das EdO-Segment zunehmend vernachlässigt habe. Das können die Leute fast überall haben.
Ich finde, es sollte eine ausgewogene Mischung aus „Evergreens“ (man kann auch „Schnulzen“ sagen) und etwas ungewöhnlichen, gerne auch mal „sperrigen“ Stücken sein. Grenzüberschreitungen inklusive. Die Gäste „erziehen“ möchte ich niemals – Auflegen ist ein Service.
Wenn mal nicht so viele dazu tanzen, so kann das verschiedene Gründe haben. Gerade im Mittelteil einer Milonga haben Gäste oft das Bedürfnis, sich ein Getränk sowie einen Ratsch zu gönnen. Sollen sie doch, dann ist auf unserem kleinen Parkett endlich mal Platz! Oder sie wollen sich ein Stück lieber anhören. Aber gerne doch!
Im Endeffekt muss man es im Gespür haben, was gerade passt oder auch nicht. Das kann man nur bedingt lernen. Schon gar nicht lässt es sich ersetzen durch diese entsetzliche enzyklopädische Bescheidwisserei über Aufnahmedaten, Orchester plus Sänger, digitale Speichermedien und Koaxialkabel. Das ist verkopfter Tango pur – Hertz statt Corazón.
Klar, Volkes Stimme hat mit Gott nichts zu tun – und auch nicht mit „göttlichen“ DJs.
Daher lasse ich in Pörnbach auch manchmal unsere Katze entscheiden, was ich auflegen soll…
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