Das Urteil des Lavocah

 

Wenn ich auf meinem Blog – und das tue ich öfter – moderne Tangomusik vorstelle, passiert fast immer dasselbe: gar nichts. Die Bedeutung der Musik im Tango wird deutlich überschätzt. Und schon gar die der zeitgenössischen Aufnahmen!

Diese Erfahrung machte ich erst letztes Wochenende bei einer Milonga mit Live-Musik: Als er die ersten Klänge vernahm, begann ein Tanguero sofort mit dem Tanzen. Sein kleiner Irrtum: Das Orchester stimmte gerade seine Instrumente!

Dann ist man schon froh, wenn man bei einem Artikel wie dem zu meinem letzten Video an einen Kommentator gerät, der sich wenigstens gnadenlos auf einen Randaspekt stürzt: Nebenbei (es stand nicht mal im Manuskript) deutete ich im Vortrag mein Unverständnis darüber an, dass man das Orchester von Pedro Laurenz nicht in die Reihe der „großen Vier“ (D’Arienzo, Di Sarli, Troilo und Pugliese) stelle.

Der besagte Leser wusste da Rat und schrieb mir:  

„Wenn Sie wissen möchten warum Laurenz nicht zu den großen Orchestern gezählt werden kann, empfehle ich die Lektüre der Bücher von Michael Lavocah. Dort werden solche Fragen ausführlich geklärt.“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2022/05/video-milongas-und-valses-klassisch-und.html?showComment=1653755391936#c4841157582957365077

Nun hätte ich kein Problem damit, dass man die Expertise des englischen Tänzers, Lehrers, DJs und Sammlers für gewichtig hält. Ob er ein Musikstudium oder dergleichen vorweisen kann, konnte ich nicht eruieren. In der Autoren- Beschreibung bei „Amazon“ ist eher von „Tai Chi und die taoistischen Künsten“ die Rede.

https://www.amazon.de/Tango-Geschichten-Was-die-Musik-erz%C3%A4hlt/dp/0957327633/ref=sr_1_1?keywords=michael+lavocah&link_code=qs&qid=1653884746&sourceid=Mozilla-search&sr=8-1

Ich fürchte aber, darum geht es nicht. Vielmehr lautet die Botschaft: Wenn es Lavocah nicht bestätigt, kann es gar nicht sein. Und da wird es für mich – jenseits der drittrangigen Frage zu einem alten Orchester – interessant:

Wie in jeder besseren Sekte sucht man in traditionellen Tangokreisen gerne nicht nach Informationen, sondern nach Erleuchtung. Hierbei sind Gurus und andere Säulenheilige unverzichtbar. Was die verkünden, ist jeglicher Diskussion entzogen.

Lange Jahre betete man in dieser Szene brav alles nach, was Propheten wie ein gewisser Cassiel verkündeten. Warum der nicht auch mindestens ein Buch geschrieben hat, wird mir unerklärlich bleiben. Er hätte damit einiges an Ruhm und Kohle abgreifen können.

Wie gesagt: Ich möchte die riesige Sammlerarbeit von Michael Lavocah nicht kleinreden. Nach dem Erscheinen der deutschen Ausgabe seines Buch-Erstlings habe ich das Werk mit Interesse gelesen und auch eine Rezension veröffentlicht. Neben einer Reihe durchaus positiver Aspekte kam ich aber zu dem Schluss:

„Der größte Vorzug des Buches gerät allerdings gleichzeitig zum größten Problem: Lavocah ist ein glühender Aficionado einer ganz bestimmten Richtung der Tangomusik, was jegliche Objektivität im Keim erstickt – will sagen, er erspart uns sämtliche eigenen Entscheidungen, wie wir die einzelnen Interpreten und ihre Werke finden. Welcher Sänger, Pianist, Bandoneónspieler war der jeweils beste eines Orchesters? Lavocah sagt es uns – und derartig vorbestimmt werden es auch viele in den Hörbeispielen bestätigt finden. Kaum eine Zeile des Werkes kommt ohne Wertungen aus: Nicht die Musik erzählt uns etwas, sondern Lavocah!“

https://milongafuehrer.blogspot.com/2017/01/michael-lavocah-tango-geschichten-was.html

Cassiel kam in seiner Besprechung des Werkes zu einer Bewertung, der ich mich grundsätzlich anschließen kann:

„Das Buch ist gut und wichtig und ich möchte es jeder Tanguera, jedem Tanguero ans Herz legen, denn das Buch ist nicht für Musikwissenschaftler, sondern für Tänzer geschrieben. Um es vielleicht mit einem Bild zu versuchen: Michael Lavocah gibt den Tangobegeisterten ein kommentiertes Register an die Hand, um sich auf eine systematische Entdeckungsreise durch die Musik der Épocha de Oro zu begeben. Das ist ihm sehr interessant und kurzweilig gelungen.“

https://tangoplauderei.blogspot.com/2012/09/Michael-Lavocah-Tango-Stories-Musical-Secrets.html

Merke: keine Musikwissenschaft

Genau diesen Dreh aber versucht mir mein Leser zu verkaufen, indem er künstlerische Einschätzungen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen verwechselt:

„Herr Lavocah hingegen arbeitet seine Thesen auf eine Wissenschaftlich korrekte Art und Weise heraus und ist in der Lage seine Aussagen fundiert zu begründen.“

Meine Leugnung tangowissenschaftlicher Erkenntnisse gemahnten den Kommentator sogar an die Corona-Krise:

„Ich habe mich damals auf den Rat von Menschen mit vielen Abschlüssen und Publikationen verlassen anstatt auf meine persönlichen Vorlieben, Geschmäcker und Gefühle. Und ich bin gut damit gefahren. Zum Glück ist Tango da eine weitaus harmlosere Sache.“

Mit Verlaub: Das habe ich auch. Dazu müsste man nur wenige meiner 138 Artikel zum Thema Corona lesen.

Dieses Argumentationsmuster kenne ich inzwischen zur Genüge: Erst neulich wollte mir ein Lehrerkollege und Tango-DJ die Parallele zwischen Tangokursen und Chemie-Unterricht andienen. Sorry: In Tangolehrgängen werden keine Qualifikationen oder gar Noten erteilt. Und es gibt, im Gegensatz zu chemischen Formeln, keine so eindeutige Zuordnung in Richtig oder Falsch.

Der Kabarettist Werner Schneyder sagte einmal sinngemäß: „In der Wirtschaft gehen die Firmen auseinander, im Theater die Meinungen.“

Sicherlich ist nachgewiesene Sachkunde auch in der Kunst ein gewichtiges Indiz – von mir aus auch Buchveröffentlichungen und Ähnliches. Wenn man sich aber mit den unterschiedlichen Aussagen namhafter Kritiker zu ein und demselben literarischen Werk vergnügt, wird klar: Exakte Wissenschaft sieht anders aus.

Zudem leiten sich ja wissenschaftliche Erkenntnisse nie aus den Ergebnissen eines einzelnen Forschers ab – sie sind als Konsens stets die Summe aus einer Unzahl von Veröffentlichungen. Ein Irrtum, der sich zu Corona-Themen geradezu inflationär verbreitete, wenn man irgendwelche „Kronzeugen“ in Gestalt eines einzelnen senilen Mikrobiologen auffuhr.

Tja, und der arme Pedro Laurenz… ich fürchte, er wird weiterhin nicht zu den „großen Vier“ zählen! Obwohl Lavocah in seinem ersten Buch „überschwängliche Lobreden“ auf den Musiker hält. Und keinerlei Begründung dafür liefert, warum er nicht in die erste Reihe gestellt werden kann (Kapitel 13). Dennoch sind beim Urteil des Lavocah" Berufung oder Revision ausgeschlossen.

Das macht nichts: In Pörnbach jedenfalls werden die mitreißenden Walzer und Milogas des Orchesters immer mal wieder aufgelegt, weil es einfach saugeil ist, dazu zu tanzen – auch ohne den Segen von Experten.

In unserer Szene ist die Sehnsucht nach der einen Autorität riesig, welche uns die Tangowelt erklärt. Auf welche Musik soll man tanzen? Statt selber mal hinzuhören, welche Klänge einen aufs Parkett treiben, sehnt man sich nach dem einen, ultimativen Ratschluss. Schon deshalb, weil man dann „Abweichlern“ erklären kann, sie befänden sich mit ihrer Vorliebe auf vermintem Gelände.

Ich kann daher meinen Leserinnen und Lesern nur immer wieder versichern, was ich in einem Artikel einmal so formuliert hatte:

Auf meinem Blog findet man nicht „die Wahrheit“, sondern Fakten und Meinungen (…) Ich glaube, gerade diese persönlichen Sichtweisen haben entscheidend zum Erfolg meines Blogs beigetragen. (…) Weiterhin wird es die Mischung von Tatsachen, Ansichten und satirischen Überspitzungen geben. (…) Sorry, aber gerade diese Kombination – das „Infotainment“ – macht halt mein Blog für viele interessant und lesenswert, die sich reine Sachtexte eher nicht antun würden. Aber dafür gibt es genug andere Quellen.

https://milongafuehrer.blogspot.com/2021/11/eine-million.html

Daher verlange ich von niemandem, dass er mir „glaubt“ oder gar meine Sichtweisen für „wissenschaftlich erwiesen“ hält. Es sind stets nur Anregungen, die eigene Birne nebst den benachbarten Ohren einzuschalten und sich eine persönliche Meinung zu bilden – wie immer die auch ausfällt.

Vor sechs Jahren haben wir zum Thema „Tango-Guru“ ein Video gedreht, über das ich mich weiterhin grenzenlos amüsieren kann. Wer es noch nicht kennt:

https://www.youtube.com/watch?v=2Nch85CVhDE

Kommentare

  1. Hallo Herr Riedl,

    Ihr emotionales, wie sagt man heute so schön, Geschwurbel verschreckt mich.
    Eine produktive Diskussion unter Erwachsenen scheint mit Ihnen nicht möglich zu sein. 
Da ich mir für meine Lektüre doch etwas Seriöses, Geradliniges und weniger widersprüchliches wünsche werde ich Ihren Blog von nun an lieber meiden.

    Ich wünsche Ihnen weiterhin viel Erfolg mit Ihrem „Gefühl“.
    

Leben Sie wohl,


    Egon Vogel

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    1. Tja, das kommt in Endeffekt dabei heraus, wenn man versucht, ein Thema wirklich differenziert darzustellen und seine Argumente zu sortieren: eine intellektuelle Kapitulation. Ohne gedankliches Eingehen auf wenigstens einen der von mir angesprochenen Gesichtspunkte.

      Stattdessen: "Geschwurbel".

      Ich hoffe, der Herr macht seine Ankündigung wahr und meidet in Zukunft mein Blog. Im Zweifel wäre ich ihm dabei behilflich.

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