Auf der Flucht vor komplexer Musik
Der folgende Artikel wird mir von gewissen Naturen wieder einmal den Vorwurf einbringen, ich veröffentliche auf meinem Blog lediglich das „geistige Eigentum“ anderer. Stichwort: Copy & Paste.
Ich darf dazu schon mal darauf hinweisen, dass in sozialen Medien wie Facebook oft lediglich zitiert oder auf andere Seiten verlinkt wird. Zudem müsste man noch über die Begriffe „Eigentum“ und vor allem „geistig“ nachdenken…
Vor allem aber betrachte ich solche Artikel als Service für meine Leserinnen und Leser. Häufig lenke ich ihr Interesse auf Debatten, welche aus 50 und mehr Kommentaren bestehen, durch die man sich erstmal quälen müsste. Hierzu liefere ich verständliche Zusammenfassungen, die ich stets umfangreich meinen eigenen Ansichten gegenüberstelle. Manchmal, wie im folgenden Fall, muss ich die Texte erst aus dem Englischen übersetzen – eine Arbeit, welche sich der Durchschnitts-Tangoleser kaum macht.
Zum konkreten Fall: Den Münchner DJ Olli Eyding kenne ich seit Jahren. Nach meinem Eindruck bringt er das Kunststück fertig, in der Szene als „traditionell“ akzeptiert zu werden, obwohl er in sein Programm durchaus auch modernere Versionen schmuggelt.
Auf der FB-Seite „TDJF – Tango DJ Forum“ ließ er gestern seinen gemäßigt rebellischen Geist durchschimmern:
„Ich liebe dieses Forum wirklich, es gibt so viel Wissen über Musik.
Aber ich staune immer wieder über all diese (männlichen?) Stimmen, die wann immer möglich IHRE (ideologische) Sichtweise zum Djing herausschreien müssen.
Es gibt einige Regeln, ja, aber beim Geschmack gibt es kein Richtig oder Falsch.
So viele Tänzer, mit Geschmäckern, die von Milonga zu Milonga variieren – so viele Tanzniveaus – so viele verschiedene Gruppen und Stimmungen.“
Quelle: https://www.facebook.com/groups/TangoDJForum (Post vom 14.5.22)
Als Beleg erwähnte er den jüngsten Post der Grand Dame des historischen Tango, Melina Sedó, in derselben Gruppe. Hier ihr gesamter Text in Übersetzung:
„Diskussion:
Alle sind sich einig, dass die 30er und 40er Jahre das Goldene Zeitalter des Tangos waren.
Warum also ignorieren heutzutage so viele DJs die 30er komplett? Bei vielen Veranstaltungen hört man erst Musik ab Mitte der 40er Jahre – viele davon aus einer Zeit, als der Tango als Tanz verschwunden war und die Orchester vor sitzendem Publikum spielten.
Ich spiele die Ende 20er - Ende 50er Jahre mit Betonung auf der Epoca d'Oro (Anm.: Época de Oro), aber ich kann verstehen, warum einige DJs die späten 20er Jahre nicht verwenden. Viele der alten Sachen sind in der Tat sehr schwerfällig. Aber die 30er nicht mehr spielen?
Man verliert so alle Aufnahmen von D'Arienzo mit Biagi, den ganzen Fresedo mit Ray, die schönen Canaros, viele interessante Biagis, all die großartigen frühen Di Sarli-Songs, ganz zu schweigen von ‚unwichtigeren‘ Orchestern wie Donato, Rodriguez, Lomuto ... Das ist so traurig!!!
Wieso denn?
Ist es die eigene Langeweile des DJs mit der älteren, ‚einfacheren‘ Musik? Oder glauben sie, dass alle Tänzer bei Encuentros, Marathons und Festivals so weit fortgeschritten sind, dass sie eine süße Melodie von Orchestra Tipica Victor (Anm.: Orquesta) nicht mehr schätzen werden?
Letztes Wochenende hörte ich nicht mehr als 3-5 Tandas aus den 30er Jahren. (Milongas und Valses nicht mitgezählt.) Okay, ich habe den Samstagabend verpasst, aber ich war bei 3 Milongas mit jeweils 5-6 Stunden. Es war super anstrengend, nur zu komplexer oder hochenergetischer Musik zu tanzen. So viel später D'Arienzo, Troilo, Pugliese und auch einige neuere Sachen! Ja, ich hatte nicht viel geschlafen, aber ich weiß, dass mein Energieverlust auch an der Musik lag. Es hat mich ausgelaugt!
Dann, gerade als ich am Sonntagnachmittag gehen wollte, spielte der DJ plötzlich ‚Viento Norte‘ von OTV. Ich ließ sofort meine Tasche fallen und tanzte diese letzte Tanda – belebt und erfrischt von der schönen Musik. Und es ging nicht nur mir so. Die Tänzer applaudierten nach dieser einfachen, aber süßen Tanda. Sie hatten sich danach gesehnt!
Also, bitte liebe DJs: Vergesst die späten 20er und 30er nicht. Sie sind von größter Bedeutung, um das Energieniveau einer Milonga und der Tänzer auszugleichen. Und einfach schön!“
Anmerkung 1: Ich tanze seit 1995, unterrichte seit 2001 und lege seit 2004 auf und erlebe diese Hinwendung zur ‚späten‘ Musik erst in den letzten Jahren. und ich bin kein isoliertes Wesen: Ich spreche zu Menschen. Viele nennen als ihre Lieblings-Tangos die früheren, ‚einfacheren‘. Diese Leute wollen nicht ignoriert werden!
Anmerkung 2: Bevor mich jemand absichtlich missversteht, möchte ich anmerken, dass die DJs auf der Veranstaltung größtenteils schöne Musik gespielt haben und dass ich die 40er und auch ein paar 50er Jahre Tangos mag. Aber in diesem Beitrag geht es um die richtige BALANCE.
Quelle: https://www.facebook.com/groups/TangoDJForum (Post vom 11.5.22)
Ja, liebe Melina, da sagst was: Balance… Die vermisse ich bei den Musikprogrammen vieler Aufleger seit Jahren! Nur drei bis fünf Tandas mit abweichenden Klängen – vielleicht mal eine Runde Piazzolla, Elektrotango, ein zeitgenössisches Orchester? Davon können moderner gestrickte Milongabesucher oft nur träumen!
Sicher, ich weiß, geht nicht unter dem Label „traditionelle Milonga“, mit diesem historisch verlogenen Label wird immer noch viel Geld verdient – vor allem auf Encuentros und Festivals. „Milonga“ allein reicht da nicht.
Amüsant finde ich es immerhin, dass selbst bei den „traditionellen“ DJs offenbar eine Wanderung an die „Schallgrenze“ 1960 begonnen hat. Diese zu überschreiten freilich wagt kaum einer – würde zur Exkommunikation führen! Ich sage voraus: Das wird sich auf Dauer ebenso wenig halten lassen wie das katholische Dogma von der vorehelichen Enthaltsamkeit.
Noch interessanter finde ich den folgenden, von Melina angesprochenen Aspekt: Bislang stand im konservativen Katechismus, die alten Stücke aus den 20-er bis 30-er Jahren seien alles andere als simpel und langweilig, sondern enthielten musikalische Raffinessen, welche man erst mühsam entdecken müsse, warum es auch nicht langweilig sei, auf ein und denselben Titel ein paar hundert Mal zu tanzen.
Nun aber gibt sogar Melina zu: „Viele der alten Sachen sind in der Tat sehr schwerfällig.“ Sie äußert sogar den Verdacht, die „eigene Langeweile des DJs mit der älteren, ‚einfacheren‘ Musik“ könne die Ursache des großen Bogens sein, den viele Aufleger um solche Titel machen. Sie fand es „super anstrengend, nur zu komplexer oder hochenergetischer Musik zu tanzen“.
Ach Melina, nicht jammern, kann man alles lernen! Zudem scheint sich hierbei der Unterschied zwischen Gourmets und Gourmands zu zeigen: Drei Tage jeweils 5-6 Stunden tanzen, und das zu einfacher Musik im Kreise herum? Schon bei dem Gedanken wird mir schwindlig!
Statt mir den Ranzen kiloweise mit Grießbrei und Himbeersirup vollzustopfen, genieße ich lieber eine raffiniert zubereitete Kleinigkeit. Das Gefühl, nach einigen komplexen, hochenergetischen Tänzen erstmal selig und satt zu sein, kennt man wohl in diesen Kreisen nicht.
Und moderne Tangomusik muss nicht immer anstrengend sein – wie der folgende Titel von „Las Sombras“ beweist:
https://www.youtube.com/watch?v=xVQSkJp5VX4
Freilich müsste man sich von einer Doktrin verabschieden, welche in solchen Kreisen ebenfalls immer wieder verkündet wird: Der eigene musikalische Geschmack habe beim Auflegen nichts verloren. Man müsse das spielen, was das Publikum erwarte. Tja, und nachdem die Erwartungshaltung der Gäste inzwischen normiert ist…
Mir dagegen geht es genau umgekehrt: Ich freue mich über jeden DJ, der mir ein Programm bietet, welches nach seinen individuellen Vorlieben gestaltet ist und dennoch eine möglichst große Bandbreite aufweist. Dann bin ich schon mal glücklich – auch wenn mir nicht jedes Stück gefällt.
Ich finde, Melinas Text zeigt sehr schön das Grundproblem: Man hat sich halt mit einer ziemlich einfältigen Musik ein Heer von mittelmäßig bis schwach Tanzenden angefüttert, welches nun sozusagen Roland Kaiser statt Sinatra einfordert.
Aber ich will ja nicht so sein und zum Abschluss einen Wunschtitel auflegen. „Viento Norte“ („Nordwind“) aus dem Jahr 1929, gespielt vom Orquesta Típica Victor – übrigens einer reinen Studio-Formation dieses Platten-Labels, welche nie live zum Tanz aufgespielt hat. So viel zur „einmaligen Symbiose“ zwischen Musikern und Tanzenden… Im folgenden Video dagegen tanzen sogar zwei Frauen:
Für Gesellschaftstanz braucht man eine Gruppe mit ähnlichen Vorlieben, insbesondere kann in einem Raum nur eine Musik spielen. Da liegen Manipulationsversuche nahe, beispielsweise dass man zu ängstlich und auf der Flucht sei, dass man es nun mal Tradition sei, dass man nicht weit genug fortgeschritten sei, dass es klare Regeln gäbe, dass es für alle vorteilhaft wäre, dass man dieses oder jenes gar nicht kenne, ob man es denn besser wüsste und so weiter.
AntwortenLöschenMeines Erachtes reicht es völlig sich selbst zu überlegen, was man selbst für angemessen hält und wie, wo, mit wem man tanzen möchte. Und das ganz unabhängig davon, ob man die tieferen Gründe für die Manipulationsversuche bei geschäftlichen Interessen, privaten Interessen oder auch Traumafolgen vermutet.
Lieber Martin,
Löschenganz habe ich nicht verstanden, worauf du hinauswillst.
Ich finde aber schon, dass man sich als Kunde über Manipulationsversuche von Anbietern informieren sollte.
Und klar, man kann „in einem Raum nur eine Musik spielen“ – zu einem bestimmten Zeitpunkt. Hintereinander können es auch unterschiedliche Musikstücke sein. Nach der Tradition des Gesellschaftstanzes versucht man, ein breites Programm anzubieten, damit für jeden und jede etwas dabei ist. Hat sich in Europa seit über 200 Jahren bewährt.
Danke und beste Grüße
Gerhard
Moin Gerhard,
Löschenich plädiere für einen entspannten Umgang mit Informationen.
Also eine Saarbrückener Tangotänzerin erschöpft es, wenn keine Musik von vor den 40'ern gespielt wird.
Betrifft mich das? Nein - aber ich kann ja über den Sachverhalt kurz nachdenken.
Gut, ich persönlich spiele auch Musik aus den 30'ern, wenn ich denn mal auflege? Fertig.
Ganz ähnlich verhält es sich, sofern ein Pörnbacher Tangotänzer nicht ausgelastet ist, wenn keine Musik von nach den 60'ern gespielt wird. :-)
Und wie es mit der Musikauswahl in den letzten 200 Jahren gehalten wurde, das sollte mich vor allem interessieren, wenn ich Historiker bin. Ich gehe ja auch nicht Sonntags in die Kirche weil das irgendwann mal üblich war.
Grüße, Martin
Lieber Martin,
Löschenmir ist es auch wurst, ob einer Saarbrücker Tangolehrerin bei 50-er Jahre-Musik die Luft ausgeht. Ich fand es lediglich interessant, wie in der konservativen Szene nun ein Argument nach dem anderen bröckelt.
Altersbedingt wäre ich auch mit der Tangomusik vor 1960 physisch ausgelastet. Ich sehe nur nicht ein, wieso ich mich anstrengen soll, auf für mich langweiliges Zeug zu tanzen.
Der Vergleich mit der Kirche hinkt jedoch gewaltig: Solltest Du mal einen konventionellen Ball (oder die Übungsparty einer Tanzschule) besuchen, wirst du kaum Musik aus den Zeiten vor 1960 hören. Das war nicht irgendwann mal üblich, sondern ist absolut aktuell.
Beste Grüße
Gerhard
Guten Tag Herr Riedl,
AntwortenLöschenChapeau, mit Ihren Englischkenntnissen übertreffen Sie Günther Oettinger deutlich- zumindest in geschriebener Form.
Zum Thema: Ich finde moderne Orchester (meist) entweder zu langweilig oder zu kompliziert. Das Orchesta Typica Milonguero oder Ihr Sala Vacia zum Beispiel spielen wie eingeschlafene Füße, oder wie die Flippers Coverband im Altenheim. Ich muss dann damit Kämpfen nicht einzuschlafen. Viele andere Spielen kompliziert ohne die nötige Raffinesse zu besitzen. Ich brauche keine Musik, welche komplett losgelöst ist von den gängigen Rhytmusmustern. Ich beobachte allerdings oft einen lustigen Effekt. Menschen mit wenig Rhythmusgefühl fühlen sich in solcher Musik oft erstaunlich wohl und vollführen veitstanzgleiche wilde Beinschwünge, die so wenig passen, dass sie doch irgendwie wieder zu passen scheinen. Vielleicht weil ständig ein kitschiges Bandoneon jammert? Für mich ist die Zeit von 1930 bis 1960 einfach ideal. Ob es die einfachen und trotzdem raffinierten Stücke vom Sexteto di Sarli sind oder die herausfordernden von Angel D´Agostino. Letzteres Orchester hat aber trotz der Komplexität, den Feinschliff der den meisten modernen Ensemblen fehlt.
Mir fehlt es dort einfach an Klasse. So wie Johann Christian Bach einfach nie die Klasse seines Vaters erreichte, auch wenn seine Musik ganz nett ist.
Bei Ihrer Aussage, daß sich die Grenze immer weiter verschiebt zu 100% recht. Heimlich, still und leise, schleichen sich Aufnahmen von Sassone und Basso in die Milongas ein, welche ich besuche- und werden gut akzeptiert. Ich bin selbst gespannt wo die Reise hingeht und wo wir noch landen werden.
Auch wenn ich Sassone Tandas genieße würde ich die Klasse nie mit Bach vergleichen- eher mit so etwas wie Telemann.
Marvin Wenkel
PS: wenn ich mir die Viento Norte Aufnahme vom Sexteto Cristal anhöre frage ich mich, was sich, abgesehen von der Aufnahmetechnik in den letzten 80 Jahren getan hat. Weil hier auch die Klasse fehlt wirkt es extrem einschläfernd- im Gegensatz zum Original ;-)
Lieber Herr Wenkel,
Löschensie schildern Ihre persönlichen Vorlieben, was ja völlig in Ordnung ist. Niemand zwingt Sie, zu Musik zu tanzen, deren rhythmische Muster Sie nicht checken. Einfach mal sitzen bleiben und zuschauen, wie es andere schaffen!
Bei den Vergleichen mit Bach oder Telemann wäre ich vorsichtig – Tango ist in weiten Teilen (gehobene) Unterhaltungs- und Tanzmusik. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Mit José Basso und Florindo Sassone wären wir bereits in den 1970-er Jahren. Ich ahne, wie es weitergehen wird. Und das wird sich nicht aufhalten lassen.
Ich stelle bei den Anhängern der historischen Tangomusik immer wieder fest, dass ihre Beschäftigung mit moderneren Ensembles recht oberflächlich erscheint. Was soll denn bitte das „Orchesta Typica Milonguero“ sein? Meinen Sie vielleicht das „Orquesta Romántica Milonguera“? Schon klar, dass „Sala vacia“ der Titel eines Vals ist? Die Interpreten nennen sich „Las Sombras“.
Wie gesagt, ein wenig genauere Befassung – statt einzuschlafen – wäre anzuraten.
Beste Grüße
Gerhard Riedl