Stadtmaus und Landmaus
Die Fabel Die Stadtmaus und die Landmaus (…) von Äsop handelt von einer bescheidenen Landmaus, die ein zufriedenes Leben führt und ihre Freundin, die Stadtmaus, davon überzeugen will. (…) Die Moral dieser Fabel ist, man soll mit dem zufrieden und glücklich sein, was man hat. Was nützt ein Leben, in dem man alles besitzt, dafür jedoch Sorgen und Gefahr einen ständig begleiten.
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Stadtmaus_und_die_Landmaus_(%C3%84sop)
Der Tangoblogger Thomas Kröter hat gestern verkündet, er werde „zu seiner alten Praxis“ zurückkehren, Artikel von mir auf seiner Facebook-Seite zu verlinken, wenn ich darin auf einen seiner Beiträge hinweise.
Gut, er setzt sich damit über eine ausdrückliche Bitte von mir hinweg. Vor allem aber finde ich dieses Auswahl-Prinzip seltsam: Ich jedenfalls verlinke Artikel anderer auf FB nur selten – nämlich dann, wenn ich sie für hervorragend geschrieben und das Thema für relevant halte. Ob ich drin vorkomme oder nicht, ist mir egal.
Öfters bespreche ich Beiträge anderer ausführlich auf meinem Blog. Das tut Thomas Kröter, was meine Texte betrifft, so gut wie nie. Schade, die Leser könnten von einem solchen Meinungsaustausch profitieren.
So halte ich es auch mit einem Beitrag, den Kröter gestern veröffentlichte: „Recuerdo de la Villa K.“ In seinem Ankündigungstext schreibt er, diese „Berliner Institution“ sei für ihn so wichtig gewesen wie keine andere Milonga. Er „schwelge in Erinnerungen“. Für sein „Hineinwachsen in den Tango“ sei die Bedeutung der „Villa Kreuzberg“, einer traditionellen Milonga, „kaum zu überschätzen“.
Ich gestehe, seine schwelgerischen Gefühle nicht teilen zu können. Eher bleibt mir bei dem Bericht beklemmungsmäßig die Luft weg.
Vor sicherlich mehr als zehn Jahren, so der Autor, habe er begonnen, diese Veranstaltung regelmäßig zu besuchen. Sogar sein Sitzplatz sei immer derselbe gewesen. Ferner war er stets allein dort – seine Frau habe da einen anderen fixen Termin gehabt.
Anfangs aber war eigenes Tanzen nicht das Thema, höchstens vorsichtiges Gucken:
„Zunächst hab´ ich allerdings nur rumgesessen und zugeschaut, was da geschah auf der Tanzfläche. Ich war unsicher. Irgendwann hab ich mich schließlich getraut, neben mich zu blicken. Links und rechts in meiner Sitzreihe.“
Der Cabeceo scheint Kröter von Beginn an begleitet zu haben:
„Hab’ ich mich schon damals dieses Ausweises von ‚Argentinidad‘ bedient? Wahrscheinlich. Immerhin hatte ich den Cabeceo im Rahmen des Unterrichts im ‚Tangotanzen macht schön‘ kennengelernt.“
Nach einer nicht näher bezifferten Zeit gelang es dem Autor endlich, jemand aufzufordern – mit einer Art halbem Cabeceo plus Textbeilage:
„Irgendwann hab ich’s dann auf die Pista geschafft. Bestimmt nach einer Orientierung im Nahbereich meines Sitzplatzes. In dieser Halbdistanz dürfte ich die Augen sprachgestützt eingesetzt haben. Erst gucken, dann fragen: ‚Magst Du?‘ oder ‚Woll’n wir?‘“
Von einem Beginner erwartete man in Berlin offenbar überhaupt nicht, dass er auf Milongas tanze. So berichtet Kröter von einer versierten Tänzerin, deren Aufforderung ihm gelang:
„Als ich mich als Anfänger zu erkennen gab, antwortete sie: ‚Du bist aber mutig.‘“
Kröter erinnert sich nicht mehr daran, ob die Dame ihn dann auf der Tanzfläche stehen ließ. Dazu kam ein solches Verhalten wohl zu häufig vor:
„Hat sie die Tanda mit mir zu Ende getanzt? Ich weiß es nicht mehr. Sie wäre nicht die einzige Abbrecherin gewesen in dieser Phase meines fortgeschrittenen Anfängertums. Gerade Tänzerinnen, die sich etwas Besseres dünken, befleißigen sich oft nicht jener Höflichkeit, die sie von uns Männern erwarten.“
Ich wollte es zunächst nicht glauben, aber der Blogger schreibt es tatsächlich:
„Ich hab’ mich dann rein und hoch getanzt. Donnerstag um Donnerstag. Meine Anfänge hab’ ich irgendwann auf den Satz gebracht: Ich war einmal in der Woche Tango tanzen… und wollte drei Mal in der Woche aufhören damit. Aber ich habe mich durchgebissen.“
Man musste sich wohl einen gewissen Ruf erarbeiten, um als Tänzer akzeptiert zu werden. Kröter zählt sich dabei zur „berechenbaren Mittelklasse“:
„Mit mir konnte wenig
schief gehen. Das hat sich herumgesprochen. Im Lauf der Zeit nahm die Zahl der
Blicke ab, die irgendwo im Nirgendwo verschwanden, wenn ich mein Interesse
signalisierte. Manchmal hellten sich die Gesichter sogar auf.“ Na, dann...
Unbekanntes Personal aber werde in der Berliner Szene routiniert ignoriert:
„So manche Tangotouristin, ob aus der deutschen ‚Provinz‘ oder dem Ausland ist allerdings bitter enttäuscht worden. Denn Tangotänzer ähneln nicht nur in der Hauptstadt jenen Landbewohnern, von denen es heißt: ‚Was der Bauer nicht kennt, das frisst er nicht‘. Mit fremden Frauen zu tanzen kommt für viele nicht in Frage.“
Hier der gesamte Artikel, dessen Lektüre ich sehr empfehlen kann:
http://kroestango.de/aktuelles/recuerdo-de-la-villa-k/
Ich glaube wirklich, die Differenzen zwischen uns beiden beruhen teilweise auf unserer völlig unterschiedlichen Tango-Sozialisiation. Für mich ist jedenfalls glasklar: Hätte ich in meinen Anfangstagen bei diesem Tanz solche Erfahrungen gemacht, wäre ich zum Standardtanz zurückgekehrt.
Wie lief es zu Beginn bei mir? 1999 empfahl man uns, nach einem eher lustigen Volkshochschulkurs, eine Regensburger Schule, wo ausschließlich der „echte Tango argentino“ gelehrt werde.
Das dortige Lehrerpaar zog in mindestens 10 Kursstufen einen didaktisch durchgestylten Figuren-Unterricht ab, der bei vielen Schülern – besser gesagt Jüngern – hervorragend ankam. Die ganze Oberpfalz und halb Niederbayern lernte dort Tango. Konkurrenz hatten sie anfangs keine.
Selber
verließen wir die Schule nach etwa einem Jahr wieder, weil uns der diktatorische Tonfall und die cholerischen Ausfälle nicht mehr
behagten. So begann für uns eine jahrelange
Lernphase, die sich hauptsächlich durch das Tanzen auf allen damals
greifbaren Milongas in 130 Kilometern Umkreis abspielte. Tangoreisen inklusive.
An die ersten Tangoveranstaltungen in Regensburg kann ich mich noch gut erinnern. Auffordern war überhaupt kein Problem, dort galt der „Código“: Ob Mann oder Frau – jeder und jede darf auffordern, und Körbe gibt es nicht. Punkt. Stressig wurde es nur, wenn der Chef Dynamik-Kracher wie „Tango nero“ auflegte und man sich als Anfänger auf engstem Raum vorkam wie beim Ruder-Slalom im Gebirgsbach (mit der Achterbasse als Paddel).
Auch auf den Milongas der folgenden Jahre war es für uns Tangueros überhaupt kein Problem, eine Tanzpartnerin zu finden: Es herrschte ein teilweise herber Männermangel. Leider forderten oft gerade die Tangodamen besonders gerne auf, welche ziemlich grauenhaft tanzten. Das durchzustehen war das einzige Problem. Frauen hatten es somit schwerer. Ich kenne etliche Tänzerinnen (meist eher älter oder halt nicht bereit, den Männern ständig auf die Pelle zu rücken), die sich frustriert wieder vom Tango zurückzogen.
Sicherlich waren sehr gute Tänzerinnen und Tänzer begehrt – aber das Gefühl, mich „hochdienen“ zu müssen, hatte ich nie. Und keine Tanguera hat mich je auf der Piste stehen lassen. Ich habe ein solches Verhalten auch kaum einmal bei anderen beobachtet. Aufgefordert wurde ausschließlich verbal. Die ersten Cabeceos erlebte ich auf konservativen Milongas um das Jahr 2013. Auf den eher liberalen Veranstaltungen, die ich seither besuche, war es weiterhin kein Problem, mit Worten um einen Tanz zu bitten. Auch Körbe erlebte ich selber äußerst selten – und in meinem Umfeld waren sie ebenso eine absolute Rarität.
Zudem besuchte ich Milongas ganz selten allein. Ich konnte also immer mit meiner Begleiterin tanzen. Irgendwelche Aufforderungs-Probleme waren daher sekundär.
Selten waren übrigens auch Rempler oder gar Verletzungen. Sicherlich kannte man in den Anfangsjahren expressive Tänzer, die ihre Dame schon mal um sich herumschleuderten. Die meisten hatten das aber gut im Griff – und selber wusste man ebenso, bei wem man mehr aufpassen musste. Ich kann mich allerdings an etwa ein halbes Dutzend Events erinnern, wo ich wirklich Angst bekam und dann lieber nicht mehr aufs Parkett ging: Es handelte sich ausschließlich um überfüllte traditionelle Milongas. Da tanzten nämlich Leute, auf deren Grabsteinen dereinst stehen sollte: „Ich hatte Vorfahrt!“
Woher kommen die völlig unterschiedlichen Erfahrungen von Thomas Kröter und mir aus unseren Anfangstagen?
Ich vermute, der Kollege hat etliche Jahre nach mir mit dem Tango angefangen. Und in einer Großstadt. Da war offenbar die Entwicklung, die ich immer wieder beklage, schon deutlich weiter:
Die Tangoszene organisierte sich zunehmend vertikal: Plötzlich wurden wir von oben herab belehrt, wie wir zu tanzen hätten, was sich auf einer Milonga gehöre, welche Musik erlaubt sei und vieles mehr. Ganz oben in der Hierarchie standen argentinische Tangolehrer, darunter ihre deutschen Epigonen, dann irgendwelche Provinz-DJs und Veranstalter sowie die Edeltänzer/innen. Ganz unten stand (oder oft genug: saß) das einfache Tangovolk.
Erst, nachdem sich diese Orientierung etabliert hatte, musste man sich „hochdienen“ – die Männer durch besondere tänzerische Fähigkeiten und ideologische Spurtreue, die Damen vor allem dadurch, dass sie mit den Richtigen tanzten und so praktisch nach oben durchgereicht wurden – Flatterkleidchen und Knusprigkeitsfaktor natürlich vorausgesetzt.
Wie in jeder künstlichen und unechten Hierarchie ist Kritik natürlich tabu. Wer es gar wagt, das ganze Gedöns zu veralbern, wird im Netz gnadenlos persönlich niedergemacht und auf den Milongas fallweise ignoriert.
Thomas Kröter ist jedenfalls dafür zu bewundern, dass er sich in einer schon zunehmend vertikalen Szene „durchgebissen“ hat. Das prägt natürlich auch das Denken. Ich hätte diese Ochsentour nicht geschafft, daher bin ich sehr dankbar dafür, früh genug an den richtigen Orten Tango getanzt und gelernt zu haben. Manche davon gibt es bis heute – und in unserer Gegend kamen sogar wenige neue hinzu.
Da bleibe ich lieber am Lande und wehre mich redlich.
Doch stürzen wir uns abschließend noch ins rauschende Tangoleben der Metropolen-Milonga „Villa Kreuzberg“:
Da haben wir ja tatsächlich in der selben Tanzschule angefangen. Anfangs fand ich den Unterricht gar nicht so schlecht (ok, ich hatte keine Vergleichsmöglichkeiten), aber ich fiel dann leider in Ungnade, weil ich es gewagt hatte, einen Kurstag zu schwänzen, weil parallel ein anderer WS stattfand, der mich mehr interessiert hat. So verliert man Schüler...
AntwortenLöschenMeiner Meinung nach unterstützt ein guter Lehrer seine Schüler dabei, ihren eigenen Stil zu finden und ermutigt sie dazu, sich auch andere Lehrer anzuschauen.
Aber jeder Lehrer hat die Schüler, die er verdient.
Liebe Grüße
Carmen
Liebe Carmen,
Löschenja, so klein ist die Tangowelt!
Der Unterricht der Krönigers hatte jedenfalls eine klare Struktur, was den Durchschnitt nicht nur damals hob.
Aber, das stimmt, man konnte leicht in Ungnade fallen. Ist uns ja ebenfalls gelungen.
Völlig einverstanden: Ein guter Tanzlehrer unterstützt die Schüler beim Finden ihres eigenen Stils. Ist aber leider selten. Und: Er ist nicht beleidigt, wenn die sich auch andere Lehrer anschauen. Jeder besitzt nämlich nur einen Teil der Wahrheit.
Herzliche Grüße
Gerhard
Kommt halt darauf an, was man möchte: eine Kopie des Lehrers werden? Dann reicht es, bei einem Lehrer zu bleiben. Allerdings bleibt man dann eben ewig eine Kopie und das Original wird immer besser sein. Für den egoistischen, oder besser egozentrischen Lehrer natürlich ideal, weil die Schüler bleiben.
LöschenWill ich allerdings besser werden und meinen eigenen, persönlichen, unverwechselbaren Tanzstil finden, brauche ich verschiedene Lehrer und nehme mir dann von jedem das, was mir taugt.