Fußtritte statt Fußnoten
Vor einem halben Jahr habe ich einen Artikel des Bremer DJs Volker Marschhausen in der „Tangodanza“ besprochen, in dem er unter dem Titel „Erfundene Tradition – die Kopie ohne Original“ ein Thema bearbeitet, welches auch mir sehr wichtig erscheint: Die seit Jahren hoch beworbene „traditionelle Milonga“ sei ein Label, welches sich zu Unrecht darauf berufe, auf die „Goldene Epoche“ des Tango vor zirka 80 Jahren (oder noch weiter) zurückzugehen. Vielmehr stamme seine Erfindung aus den späten 1990-er Jahren.
https://milongafuehrer.blogspot.com/2020/06/ende-der-marchenstunde.html
Ich habe dies mit Zitaten von Leuten wie Cassiel und Melina Sedó belegt – einst doktrinäre Verfechter des Begriffs, welche diesen nun selber in Frage stellen: „Traditioneller Tango … Welche Tradition soll es denn sein?“ fragt beispielsweise der Ex-Blogger Cassiel nun, und Melina Sedó schreibt: „Ich finde den Begriff ‚traditionell‘ tatsächlich auch schwierig, weiß aber, wie er entstand: Mit diesem Begriff grenzten sich Milongas mit traditioneller Musik (z.B. unsere) Anfang des Jahrtausends von denen ab, auf denen viel Neo/Electro-Tangos gespielt wurde, was ja zu der Zeit durchaus stark verbreitet war.“
Man muss sich das schon auf der Zunge zergehen lassen, wie die einstigen Erfinder und Propagandisten sich nun – ohne rot zu werden – von dem verabschieden, für das sie einst vehement trommelten!
Marschhausen weist die Entwicklung akribisch in einem Text nach, der mich mit seinen 24 Fußnoten eher an eine Seminararbeit erinnert. Aber gut – seine ernsthafte Befassung mit dem Thema sowie die seriösen Quellen lassen den Artikel sehr glaubhaft erscheinen.
In der neuesten Ausgabe der „Tangodanza“ (1/2021, S. 76) finde ich nun einen Leserbrief von Dr. Michael Groß. Man muss ihm lassen: Mit Fußnoten zum Inhalt gibt er sich nicht ab – eher schon mit Fußtritten gegen den Autor:
Man solle Volker Marschhausen „nicht so ernst nehmen“, er sehe sich halt gerne als „Speerspitze des ultramodernen Tango“. Das Muster sei stets dasselbe: Marschhausen konstruiere Mythen – von einem „tapferen kleinen Häuflein Gerechter“, das „heldenhaft gegen eine verschworene Übermacht von Traditionalisten“ kämpfe, eine „wehleidige Selbstinszenierung als armes Opfer (…) im Rahmen einer selbstgebastelten ‚Realität‘“, mit „fiesen Angriffen auf eine feindliche Übermacht“.
Das Muster ist tatsächlich stets dasselbe. In einer Rezension zu meinem ersten Tangobuch auf „Amazon“ heißt es: „Sinngemäß ist seine Aussage, die seit Jahren in endlosen Variationen wiederholt wird, eine Art von Verschwörungstheorie, in der die ‚Bösen‘ den Tango auf traditionelle Tangomusik und traditionellen Tangostil eingrenzen wollen, während die offenen und kreativen Menschen unterdrückt würden. Eine typische schwarz-weiß Malerei, in der er sich gleichzeitig als Opfer einer mächtigen Elite und gleichzeitig als Held stilisiert.“
https://www.amazon.de/gp/product/3866836988/ref=dbs_a_def_rwt_hsch_vapi_tu00_p1_i1
Gibt es diese Textbausteine eigentlich schon zum kostenlosen Download? Hielte ich für eine wünschenswerte Vereinfachung…
Auch Selbsterlebtes weiß Dr. Groß zu berichten: Vor Jahren habe er mal eine Milonga besucht, die von Marschhausen ausgerichtet war – nur durch einen Flur von einer „traditionellen Milonga“ getrennt. Aus dem „warmen Umfeld“ der konservativen Veranstaltung sei er ins andere Universum getreten – und gleich wieder rückwärts hinaus: Das „nervige Lichtgeblinkel“ habe ihn (und seine Partnerin) „total konfus“ gemacht. Was komme als nächstes? „Knackige Vortänzerinnen in Käfigen?“
Ach, wenn ich die Mentalität einsamer älterer Herren bedenke, welche die üblichen Milongas nach weiblichem Reiz durchforsten, sage ich mal: Warum eigentlich nicht? Das könnte sich zu einer wirksamen Konkurrenz auswachsen… Allerdings sollten die Käfige von außen zu öffnen sein!
Nun, der Tango habe schon „ganz andere Moden überlebt“, so das Resümee des Leserbriefschreibers. (Echt? Ich dachte, er leite sich direkt aus der Zeit vor 1950 ab?) Man solle sich nicht darum kümmern, „was irgendwo am Rande geschieht“. Das werde sich schon „von selber regeln“. Und klar: „Jedem das Seine“ – dieses Motto musste ja schon für vieles herhalten.
Stellen wir also fest: Dr. Groß mag keine Neo-Tangoveranstaltungen (vor allem wegen des „discomäßigen Lasergewitters“), er sieht in Ansichten wie der des Bremer DJ eine unbeachtliche Minderheitenposition, und vor allem in Volker Marschhausen selber einen wehleidigen Legendenbilder, der „Quatsch“ publiziere.
Vor allem aber liest Dr. Michael Groß offenbar nicht gerne Texte, die sich mit Tango beschäftigen. Den Artikel jedenfalls, den er bespricht, sicherlich nicht. Es sei denn, er hätte erhebliche Verständnisprobleme, die ich mir bei einem promovierten Buchautor nicht vorstellen kann.
Ich habe es sicherheitshalber nochmal unternommen: Der inkriminierte Text enthält schon mal kein Wort Werbung für Veranstaltungen von Volker Marschhausen. Es ist also für seine Besprechung völlig unerheblich, ob man diese mag oder grauslich findet.
Weiterhin sehe ich keine Belege, dass der Bremer DJ sich wehleidig als „armes Opfer“ inszeniert, das einen Kampf gegen die traditionelle Übermacht führe. Lediglich in einer Passage schreibt Marschhausen:
„Zu den inquisitorischen Sanktionsinstrumenten gehören öffentliche Ermahnungen durch DJs, persönliche Verwarnungen der Organisatoren, Milonga-Verbot, Zurechtweisung durch Tanzpaare und demonstratives Ignorieren von Tanzeinladungen. In Bremen hatte ich sogar das zweifelhafte Vergnügen, an einem Strafexerzieren der gesamten Milonga teilnehmen zu dürfen.“
Ja klar, wer nicht? Ich habe in Dutzenden von Artikeln und Quellen dargelegt, dass die Intoleranten im Tango in der Regel nicht aus der modernen Richtung kommen!
Einer inhaltlichen Befassung mit den Thesen Marschhausens geht der Schreiber konsequent aus dem Weg. Was Herr Groß für einen Leserbrief hält, ist schlicht eine peinliche Themaverfehlung – geleitet von der alleinigen Absicht, einem unliebsamen Autor eine mitzugeben.
Diese bewusste Verwechslung von Person und Inhalt kenne ich im Tangobereich seit Jahren. In meinem letzten Artikel ging es bekanntlich um die sehr engagierte Äußerung des bekannten Tangostars Nicole Nau und die Frage, wie ernsthaft sich die deutsche Tangoszene mit den derzeitigen Nöten in Argentinien befasst.
https://milongafuehrer.blogspot.com/2021/01/eine-argentinische-wutrede.html
Dies hinderte Kommentatoren nicht daran, das Ganze als Konkurrenzkampf zwischen Thomas Kröter und mir hinzustellen. Was es definitiv nicht war – mit keinem Wort.
Ich sehe bei diesen Texten eine Parallele: Sowohl das früher geradezu als Mantra verwendete „Buenos Aires“ als auch das Markenzeichen „traditionelle Milonga“ sind reine PR-Label. Eine tiefere inhaltliche Beziehung sehe ich in der Tangoszene nicht. Es wirkte halt cooler, mal in der Tangometropole gewesen zu sein – ebenso, wenn man nicht zu „historischer Musik“ tanzt, sondern sich auf hehre Traditionen beziehen kann.
Und ja, es gibt im Tango eine Alternative zu Discogewummer und historischem Gedudel. Über die schreibe ich seit vielen Jahren.
Doch darüber möchte man lieber nicht diskutieren. Lieber macht man Leute, welche störende Fragen stellen, persönlich herunter.
Daher, liebe Facebook-Schreiber:
Es ist doch völlig okay, wenn euch ein Thema nicht interessiert, ihr darüber zu wenig wisst oder euch ein Text intellektuell überfordert! Dann schreibt besser nichts dazu und postet lieber ein schönes Katzenfoto. Aber irgendwas dazu zu veröffentlichen, was erkennbar nichts mit dem Inhalt zu tun hat, könnte äußerst peinlich wirken – vor allem auf die, welche den Text gelesen oder gar verstanden haben.
Fußnoten und Fußtritte zielen halt auf unterschiedliche Regionen: Kopf respektive Hintern.
P.S. Und da bei mir jeder Kritisierte Anspruch auf eine kostenlose Werbung hat:
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