Kunst, Kultur und Tango

 

In der ihr eigenen diplomatischen Ausdrucksweise ereifert sich gerade die Saarbrücker Tangolehrerin, DJane und Veranstalterin Melina Sedó über die zu geringe oder gar ausbleibende Förderung der Tangokultur. Auf ihrer Facebookseite (12.1.21) klingt das so:

Und wenn ich noch eine Politikerperson höre, der/die mir erzählt, wie wichtig Kultur und Kunst sind, dann laufe ich Amok. Das letzte Jahr zeigt, dass Menschen sehr wohl ohne K&K auskommen können. Zumindest, ohne diese live zu geniessen oder ausüben zu dürfen. Geht prima!

Es ist an der Zeit, dass die Verantwortungstragenden einfach mal frei heraus zugeben: Stimmt, interessiert uns nicht die Bohne. Beantragt alle Harz IV und gut isses! Das wäre wenigstens ehrlich! (…)

Ich erwarte, dass Merken und Spahn und all die anderen Entscheidungsträger*innen auf ihr Gehalt verzichten und in Kultur und Kunst stecken.“

Na ja, als Steuerzahler wäre mir die Arbeit unserer Regierenden mehr wert als die Aktivitäten der Erfinderin des „traditionellen Tango“ hierzulande – aber das ist natürlich Geschmackssache. Immerhin ist Melina Sedó die Rechtslage klar:

„Tango ist SPORT! Keine Kulturhilfen für Tanzschulen, die Breitensport anbieten.

In Deutschland ist Tango Sport (Gesellschaftstanz) und Tangolehrer werden nicht in die Künstlersozialkasse aufgenommen.“

Tatsächlich gilt zumindest juristisch: Tanzlehrer oder gar Veranstalter gelten nicht als Künstler:

Nach einem Urteil des Bundesozialgerichts vom 7.12.2006 ist Tango argentino nicht als Kunst, sondern als Sport einzuordnen – ebenso wie die anderen, in Tanzschulen angebotenen Gesellschaftstänze. Daher ist auch eine Aufnahme von Tangolehrern in die Künstlersozialkasse nicht möglich.

Geklagt hatte eine Tangolehrerin, welche eine eigene Schule betrieb und daraus 70 Prozent ihrer Einnahmen generierte (30 Prozent durch Bühnentanz-Vorführungen). 

Im Urteil wird der Anteil der darstellenden Kunst (Tanzauftritte) als nicht überwiegend bewertet. Und der Unterricht müsse, wenn er zur Kunst gehöre, auf die Ausbildung von Bühnentänzern gerichtet sein und nicht auf das Erlernen von Gesellschaftstanz. Aus der bemerkenswerten Urteilsbegründung:

„Gegenstand der Lehrtätigkeit muss daher die Vermittlung praktischer oder theoretischer Kenntnisse sein, die sich auf die Fähigkeiten oder Fertigkeiten der Unterrichteten bei der Ausübung von Kunst auswirken (…). Insoweit erscheint es nach den Feststellungen des Landessozialgerichts zwar nicht ausgeschlossen, dass sich die Tanzschüler der Klägerin mit den von ihr gelehrten Unterrichtsgegenständen als Grundlage und mit zunehmender Übung zu ‚Milongueros‘ entwickeln – also zu Vortänzern, die sich in einer Milonga mit eigenwilligem Stil, auffallend eleganter Haltung, besonderer Virtuosität o.ä. hervortun und eine Vorstufe zum ballettähnlichen Bühnentango ausüben (…). Überwiegend dient der Tanzunterricht der Klägerin aber nicht als Grundlage einer ballettartigen Kunstausübung (denkbar z.B. als Bühnentänzer in Tangoshows, -musicals oder -opern), sondern der Ausübung von Breiten- bzw. Freizeitsport. Damit ist eine Einordnung als Kunst ausgeschlossen.

Auf den Umfang der Kreativität und des Gestaltungsspielraums kommt es beim Tango Argentino ebenso wenig an wie auf die Frage, ob die Einhaltung bestimmter Schrittfolgen vorgeschrieben ist oder die freie Improvisation des Tanzpaares im Vordergrund steht. Denn Kreativität und ästhetische Gestaltung ist bei allen Tanzdisziplinen möglich und bei Wettbewerben auch geboten; andere Sportarten wie z.B. Eiskunstlaufen oder Kunstturnen sind davon ebenfalls geprägt, ohne dass ihre Einordnung als Sport dadurch in Frage gestellt wird.“

https://lexetius.com/2006,3845 

Was mich dabei besonders amüsiert: Gerade von konservativen Tangovertretern wird seit Jahren gepredigt, der „Tango de Salón“ müsse sich klar vom „Tango escenario“, also dem Bühnentango, abgrenzen. Hohe Beinaktionen und andere spektakuläre Aktionen seien gefälligst zu unterlassen. Ziel sei keinesfalls das „künstlerische“ Getue des einzelnen Paars, der eigene Stil, sondern das brave Mitschwimmen in der Ronda.

Aber genau dadurch verspielt man halt das letzte Fünkchen Hoffnung, irgendeinen „künstlerischen Anspruch“ erheben zu dürfen!

Bemerkenswert finde ich die Aussage eines altgedienten, sehr erfahrenen Tangolehrers in der FB-Gruppe „Koko-Tango“ (15.1.21): 

„Eine Analogie: Viele Lehrer zeigen, wie man nach Vorlage festgelegte Legohäuser baut, aber verstehen das Legosystem nicht. Der Großteil an Möglichkeiten einen eigenen Tangostil zu entwickeln (früher das wichtigste Element als Tangotänzer, heute eher das Gegenteil) wird nicht genutzt - liegt brach. Der Tango ist langweilig geworden und er stagniert für viele als Tänzer. Das allgemeine Tanzniveau in Deutschland ist unglaublich gesunken. Es wird endlich Zeit, dass hier was passiert.“ 

Das ist nicht zu befürchten. Stattdessen debattiert man über Códigos & Cabeceo. Aber da wäre doch noch die „Tangokultur“?

Im Konjunktiv sicherlich. Und über die „Retter des Tango-Weltkulturerbes“ habe ich ja genügend berichtet:

http://milongafuehrer.blogspot.com/2020/06/die-retter-des-weltkulturerbes.html

http://milongafuehrer.blogspot.com/2020/06/meine-online-petition-die-tango.html

Nur müssten mir die Vertreter dieser Initiativen endlich einmal erklären, was sie unter „Tangokultur“ verstehen. Warum beispielsweise die beiden künstlerischen Zentralfiguren des argentinischen Tangos – Gardel und Piazzolla – bei ihnen absolut keine Rolle spielen, die zum Tanzen gespielte Musik sich keinesfalls in Richtung „künstlerisch“ oder gar „kompliziert“ verschieben darf. Favorisiert wird weiterhin Mainstream-Tanzmusik der 1940-er Jahre.

Aber gibt man sich wenigstens bei dieser Musik irgendeine Mühe, Komponisten und Interpreten dem „gemeinen Volk“ nahezubringen? Was ich seit Jahren erlebe, ist eher die Tendenz: Der DJ weiß schon, warum er was spielt, da muss sich „Otto Normaltänzer“ nicht drum kümmern. Ist der Aufleger ein Künstler, weil er oft genug lediglich Playlisten aus dem Internet zusammenbosselt und sich ansonsten eher für Wiedergabetechnik interessiert? Ist ein Anderthalb-Stunden-Workshop „Tanzen zu D’Arienzo“ schon genügend „Förderung der Tangokultur“?

Ach ja, und wer es noch nicht weiß: Zur Tangokultur gehören auch die Autoren der (meist spanischen) Tangotexte. Doch da herrscht in der Szene die Auffassung: Gut, dass wir sie nicht verstehen – sind ja eh simple Schnulzen oder gar machohafte Aussagen. Na gut, es gäbe auch Autoren wie Manzi oder gar Ferrer, aber die nehmen wir nicht. Zu kompliziert.

Warum höre ich von Tanzenden, die ich auf ein bestimmtes Stück, ein konkretes Orchester anspreche, stets nur: „Damit habe ich mich noch nicht beschäftigt“ oder gar "Interessiert mich nicht"?

Dass ich es nicht vergesse: Eindeutig „Kulturschaffende“ wären natürlich zeitgenössische Komponisten, Texter und Tangomusiker. Aber da herrschte lange Zeit (in der Encuentro-Szene bis heute) die Einstellung: Brauchen wir nicht – wir haben ja die alten Knisterplatten! Und bis letztes Jahr hatten es gerade Ensembles, die etwas „schräger“ interpretierten, bei Veranstaltern immer noch sehr schwer. Gerne gehört werden inzwischen Musikgruppen, welche lediglich die alten Arrangements nachspielen – halt ohne Knister.

Daher meine ich: Es gäbe fürwahr eine Tangokultur zu entdecken – und die künstlerische Seite dieser Musik, ihrer Texte, dieses Tanzes. Nur ist das 99 Prozent der Tangoszene schnurzegal.

Und damit komme ich zur zweiten Seite dieses Elends: Tango ist hierzulande zur Branche verkommen. Tanzkurse, Tangoreisen, Milongas oder Ausstattungsmaterial werden als Ware angeboten. Ob man dann beim lokalen Dealer einen Workshop oder bei Amazon einen Hornhauthobel bestellt, ist letztlich dasselbe.      

Eine aktuelle Debatte, ebenfalls in der Facebook-Gruppe „KoKo-Tango“ (12.1.21), zeigt dies schonungslos.

Da hatte doch tatsächlich ein altgedienter Tänzer diese Idee:

„Ich denke, man darf nicht alles in die Verantwortung des Staates schieben, zahlten wir alle unsere Eintrittsgelder zu unseren Lieblingsmilongas wie zu normalen Zeiten, wäre uns allen geholfen. Schwestern und Brüder, zeigt, was euch der Tango Wert ist!“

Die Reaktionen waren nicht allesamt begeistert:

„Und wovon soll ich für etwas zahlen, was nicht stattfinden darf? Das können gerne die machen, die als Staatsdiener oder in unbefristeter Festanstellung ein sicheres Einkommen haben. Aber das sind nicht alle, die auch in ein, zwei oder fünf Jahren gerne mal wieder tanzen gehen wollen.“ 

„Allein der Unternehmer und der Staat sind hier zuständig, das betriebliche Überleben zu sichern. Die soziale Verantwortung des Einzelnen ist grundsätzlich wichtig und richtig...aber in der Regel meines Erachtens nicht existentiell bedeutsam.“

Komisch, vorher konnte man sich die Milongabesuche auch leisten – plus Fahrt und Getränkeumsatz…

Klar, darum soll sich mal schön der Staat kümmern, was geht das uns an? Als der Tango noch zur Subkultur zählte, hätte man notfalls zusammengelegt – was meist gar nicht nötig war, weil eh keiner vom Tango lebte.

Daher sage ich: Natürlich sollen Selbstständige, vor allem auch Künstler und Kulturschaffende, nach Möglichkeit öffentlich gefördert werden. Die Tangoszene täte jedoch gut daran, sich dabei hinten anzustellen.

Man könnte die Wartezeit ja dazu nutzen, einmal über die Begriffe „Kunst“ und „Kultur“ nachzudenken…

P.S. Zur Kunst des traditionellen Seiltanzes:

Illustration: www.tangofish.de

 

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