Regeln für die gepflegte Debatte
Immer wieder faszinieren mich als „Rhetorik-Junkie“ Debatten in den sozialen Netzwerken. Viele der Äußerungen sind derartig lächerlich, dass mir das satirische Material nicht ausgeht.
Noch mehr hat man davon, wenn einem bestimmte, häufig auftretende Muster geläufig sind. Man kann dann Scheinargumente besser von begründeten Gedanken unterscheiden. Hier meine Auswahl:
Godwins Law
Dieser Begriff aus der Internet-Kultur stammt von dem Rechtsanwalt und Sachbuchautor Mike Godwin, der 1990 folgendes Gesetz aufstellte:
„Mit zunehmender Länge einer Online-Diskussion nähert sich die Wahrscheinlichkeit für einen Vergleich mit den Nazis oder Hitler dem Wert Eins an.“
Natürlich handelt es sich dabei nicht um eine naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeit, sondern ein rhetorisches Mittel, um gegen unpassende Vergleiche zu argumentieren. Godwin war zu der Zeit juristischer Berater einer Stiftung, welche sich für die Grundrechte im Informationszeitalter einsetzt. Er fand den Diskussionsstil, Gegner mit Nazivergleichen zu diskreditieren, unangemessen.
Godwins Law wird heute nicht so verstanden, dass nun jeder solcher Vergleich automatisch falsch wäre. In den meisten Fällen handelt es sich aber um überzogenen Verbalradikalismus.
https://de.wikipedia.org/wiki/Godwin%E2%80%99s_law
Ich durfte erst kürzlich zur Kenntnis nehmen, dass der Kabarettist Max Uthoff meinte, seinem Kollegen Dieter Nuhr vorwerfen zu sollen, er benutze mit Blick auf Greta Thunberg Auschwitz-Assoziationen. Vor einiger Zeit meldeten die „Kieler Nachrichten“, Nuhr habe die Anhänger der Klima-Aktivistin mit denen Hitlers und Stalins verglichen. Die Zeitung musste dies zurücknehmen und sich entschuldigen.
Der Gescholtene hat solche Vorwürfe stets ausführlich richtiggestellt. Genützt hat es ihm wenig. Bis heute finden sich immer wieder Leute, welche diese und andere Unterstellungen gebetsmühlenartig wiederholen. Irgendwas bleibt immer hängen…
Reductio ad Hitlerum
Eine Ansicht wird deshalb als widerlegt dargestellt, weil sie von einer moralisch unhaltbaren Person (vor allem Adolf Hitler) geteilt wird. Der Begriff geht auf den deutsch-amerikanischen Philosophen Leo Strauss zurück.
Beispiel: Tierschutz ist Unsinn, da sich auch Hitler dafür eingesetzt hat.
Es handelt sich um den Umkehrfall des Autoritäts-Arguments: Eine Behauptung ist richtig, weil sie auch von einer hochstehenden Persönlichkeit oder einem Experten vertreten wird.
Ich muss nicht näher erläutern, dass dieser logische angreifbare Dreh auch im Tango gerne verwendet wird. Insbesondere gelten hier Argentinier als Kronzeugen für irgendwelche Behauptungen – vor allem, wenn sie tanzen können.
Natürlich gibt es diesen rhetorischen Trick auch umgekehrt: Eine Behauptung zum Tango sei beispielsweise unglaubwürdig, wenn die betreffende Person auf einem bayerischen Dorf wohnt und schlecht tanzt.
Nach Wikipedia muss ein Autoritätsargument, um zuverlässig zu sein, folgende Eigenschaften aufweisen:
· Die Autorität ist vertrauenswürdig, weil sie sich bewährt hat.
· Die Autorität wird korrekt zitiert.
· Die Autorität hat Sachkompetenz im relevanten Sachgebiet.
· Die allgemeinen Regeln der Argumentation wurden eingehalten.
· Autoritäten, die die Gegenansicht vertreten, werden, statt sie einfach zu ignorieren, ebenfalls zitiert und widerlegt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Argumentum_ad_verecundiam
Auch im oben geschilderten Fall wird der Kabarettist Max Uthoff als Autorität verwendet, um hirnrissige Behauptungen zu belegen. Motto: „Wenn das schon ein bekannter Kollege sagt…“
https://de.wikipedia.org/wiki/Argumentum_ad_verecundiam
Brandolinis Gesetz
Es geht auf den italienischen Informatiker Alfredo Brandolini zurück und wird auch als „Bullshit-Asymmetrie-Prinzip“ bezeichnet:
„Das Widerlegen von Schwachsinn erfordert eine Zehnerpotenz mehr Energie als dessen Produktion.“
Angeblich wurde Brandolini 2013 dazu durch die italienische Politik und insbesondere eine Fernsehdiskussion mit Silvio Berlusconi angeregt. Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigten den Befund: Das Publikum von Falschmeldungen mit Richtigstellungen zu erreichen, ist besonders schwierig und teils gar unmöglich. Durch die „Wahrheiten“ der heutigen Verschwörungsideologen wird diese Erkenntnis glänzend bestätigt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Brandolinis_Gesetz
Besonders schlimm werden diese Argumentationen in einer bestimmten Darreichungsform:
Gish-Galopp
Darunter versteht man eine Methode des Debattierens, in welcher der Gegner in einer Flut aus Halbwahrheiten und ihm unterstellten falschen oder lächerlichen Annahmen ertränkt werden soll, so dass es ihm unmöglich wird, alle diese Postulate zu widerlegen.
Vorbild ist die Diskussionsweise des amerikanischen Kreationisten Duane T. Gish, während einer Debatte einen hektischen Schlagabtausch zu benutzen und Themen sehr schnell zu wechseln. Wenn man also den Gegner sturzbachartig in schrägen Behauptungen ertränkt, auf welche dieser so schnell nicht reagieren kann, wirkt er unsicher und inkompetent.
Dazu wirkt natürlich das Brandolini-Gesetz: Der Diskussionspartner bräuchte ja die zehnfache Zeit, um schieren Blödsinn zu widerlegen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gish-Galopp
Als Blogger erlebe ich solche Attacken auch in Schriftform. Manche Leser schicken mir ellenlange Ausführungen, in denen sie von Thema zu Thema springen. Wenn ich dann versuche, die Argumente zu widerlegen, geht der Schreiber darauf wenig oder gar nicht ein. Stattdessen erhalte ich eine neue Zuschrift, in der wieder andere Behauptungen aufgestellt werden. Das kann man öfters wiederholen…
Strohmann-Argument
Statt auf die tatsächliche Position des Gegners und seine Argumente einzugehen, wird gegen einen nicht anwesenden, fiktiven Gegner – den „Strohmann“ – argumentiert; dabei werden diesem oft verzerrte und undifferenzierte Versionen der gegnerischen Argumentation in den Mund gelegt. Es wird dann behauptet, die Widerlegung der Strohmann-Position wäre eine Widerlegung der tatsächlichen Position des Diskussionsgegners.
Ich weiß nicht, wie oft man schon behauptet hat, ich sei dafür, dass man auf Milongas alle Regeln ignoriert, und würde somit Chaos und Verletzungen auf der Tanzfläche fördern.
https://de.wikipedia.org/wiki/Strohmann-Argument
Argumentum ad hominem
Das klassische Argumentations-Prinzip im Internet: Zur Widerlegung des Standpunktes eines Gegners greift man diesen persönlich an. Man versucht, ihn auf diese Weise bei der Leserschaft zu diskreditieren und so eine inhaltliche Diskussion zu vermeiden.
https://de.wikipedia.org/wiki/Argumentum_ad_hominem#Argumentum_ad_personam
Schätzungsweise zwei Drittel aller kritischen Anmerkungen zu meinen Artikeln gehen ad hominem, befassen sich also mit meinen angeblichen persönlichen Fehlern und Schwächen. Man sollte solche Attacken stets als das sehen, was sie sind: Die Anerkennung, dass man sich wohl schwertäte, etwas inhaltlich zu widerlegen. Grund: zu überzeugend…
Ein schönes Beispiel aus einer Mail, die mich kürzlich erreichte:
„Ich kann mich an einige Videos erinnern, in denen Sie als Tänzer (leider nur die Füße von Ihnen und Ihrer Partnerin) zu sehen sein sollen. Das gefiel mir überhaupt nicht, weil mir Ihr Tanz als völlig unmusikalisch vorkam, aber ich glaube trotzdem, dass sie einen ‚Mordsspaß‘ dabei hatten. Es käme mir aber nie in den Sinn, Ihre Tanzkenntnisse in Frage zu stellen, ohne danach gefragt zu werden.“
I wo… Übrigens ging es in dem Artikel keineswegs um meine tänzerischen Fähigkeiten, sondern um den jüngst verstorbenen Tangostar Juan Carlos Copes.
Ein anderer Leser schrieb zum selben Text auf Facebook:
„Zumindest ist mir jetzt klar, wo Riedl diese Bocksprünge her hat, die er für seine unbeliebten PistaQuerungen benutzt.“
http://milongafuehrer.blogspot.com/2021/01/copes-als-sie-es-noch-krachen-lieen.html
Whataboutism
Statt thematisch auf eine Kritik einzugehen, lenkt man auf wirkliche oder angebliche Missstände ab, die beim Gegner zu verorten sind. Bekannt wurde der Begriff durch die frühere sowjetische Propaganda, die Vorwürfe aus den USA oft damit beantwortete, dort würden ja die Schwarzen unterdrückt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Whataboutism
Auch ich durfte mir neulich anhören, warum ich – bei meiner Abneigung gegen Pseudonyme – einen Facebook-Beitrag lobe, welcher nicht mit realem Namen gezeichnet war. Klar, darum ging es in meinem dortigen Text nicht. (Wobei man den entsprechenden Realnamen mit maximal drei Mausklicks gefunden hätte.)
Meine persönlichen Favoriten:
Ich staune immer wieder über die völlige Ahnungslosigkeit von Kommentatoren, was die Begriffe Kabarett und Satire angeht.
Daher hier meine drei Lieblingsformulierungen, die mir in letzter Zeit höchstes Vergnügen beschert haben. Zu einem Kabarettisten schreibt ein Leser:
„Es geht bei meiner Kritik (…) nicht darum, ob er unbequeme Thesen vertritt, (…) sondern darum, wie er sie begründet.“
Einspruch, Euer Ehren: Ein Satiriker muss keine Thesen aufstellen und sie erst recht nicht begründen! Der typische Fall ist eher, dass er etwas hirnrissig findet und dies dann durch eine Übertreibung, ein Wortspiel oder eine Parodie auf die Spitze treibt – damit das Publikum es merkt und ebenfalls Spaß hat.
„Das Problem ist nur, dass die Art, seine Aussagen zu begründen, polemische Züge aufweist.“
Gnade und Barmherzigkeit! Satire kann ohne Polemik, also bewusstes Zuspitzen und Übertreiben, Ironie und Sarkasmus gar nicht funktionieren.
Was Satirikern auch gerne vorgehalten wird:
„Du vergleichst Äpfel mit Birnen.“
Das ist ziemlich sinnvoll, da beide innerhalb der Rosengewächse zu den Kernobstgewächsen zählen und daher viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Ein Vergleich darf sich aber auch auf Unterschiede beziehen. Der Vorwurf ist also nicht einmal falsch, sondern völlig bekloppt.
http://milongafuehrer.blogspot.com/2018/10/apfel-und-birnen.html
Jetzt aber – bumtää – meine absolute Lieblingsformulierung, wenn einem die Richtung eines Künstlers nicht passt:
„Unter dem Deckmantel der Satire“
Nein,
wirklich: Wenn Satire etwas zudeckt,
ist es keine. Sie deckt nämlich im Gegenteil auf – Ungerechtes, Unsinniges und Autoritäres. Die Tendenz solcher Behauptungen ist
natürlich klar: In Wirklichkeit sei etwas gar keine Satire, sondern etwas Verbotenes
oder Ungehöriges. Daher den Verursacher aus dem öffentlichen Leben entfernen,
verbieten oder am besten gleich einsperren!
Fazit
Sollte ein Beitrag von Ihnen in den sozialen Medien wieder einmal mit einer Flut von Scheinargumenten überhäuft werden, rate ich, ruhig zu bleiben. Machen Sie sich klar: Man muss nicht auf jeden Käse reagieren. Und sich schon gar nicht rechtfertigen. Oft ist gerade das Wasser auf die Mühlen von Provokateuren, sich in ihrer Wichtigkeit bestätigt zu fühlen und Sie anschließend mit neuem Unsinn zu traktieren.
Oft ist die bessere Entscheidung, auf solchen Kram gar nicht einzugehen oder kurz die rhetorischen Tricks zu entlarven. Gerne auch unsachliche Attacken schlicht zu löschen.
Der Philosoph Arthur Schopenhauer war, was persönliche Angriffe betrifft, ziemlich rigoros:
„Daraus folgt, dass unter Hundert kaum einer ist, der wert ist, dass man mit ihm disputiert.“
P.S. Zum Kennenlernen noch ein bisschen Satire:
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