Der Impfschein trügt

 

In einer Tango-Facebookgruppe, aus der man wegen des seelisch sensiblen Umgangs dort nicht zitieren darf, fragte vorgestern ein mir persönlich bekannter Tanguero:

„Die Impfung gegen das Virus bietet im nächsten Jahr Chancen, den Tango wieder aufleben zu lassen. Sollte es Milongas/Marathons/Encuentros mit Impfpass geben oder nicht? Wie steht Ihr dazu?“

Bei solchen Fragen plane ich für den nächsten Tag schon mal etwas Zeit ein, da satirisch ergiebige Antworten zu erwarten sind. Ich sollte mich nicht täuschen: Fast 170 Kommentare sind bislang erschienen. 

Erwartungsgemäß reicht das Spektrum von „ohne Impfschein keine Milonga“ bis zu „mit Impfschein geh ich nicht hin“ – sprich: Mit einer Impfpflicht werde ich auf gar keinen Fall zu einem Tangoevent gehen. Impfpflicht durch die Hintertür. Alles Alluhut-therorien. Ich lass mir dieses Zeug ganz sicher nicht freiwillig in meinen Körper pumpen.“ 

Interessant, dass auch ein Arzt findet:

„Ich stehe der Impfung ablehnend gegenüber. Daher wären Tangoveranstaltungen mit Impfvoraussetzung für mich keine Option. Ich würde sie weder veranstalten noch daran teilnehmen.“

Und klar, Impfen oder Testen sind ja nur ein Vorwände des Staates, um an unsere Daten zu kommen:

„In dem Sinn dient der Test lediglich zur Aufnahme der Personendaten und das wäre quasi das Gleiche, wenn man die Daten ohne den Test aufnimmt.“

Was auch im Tango zählt, sind die Statistiken – auch wenn sie mit Covid-19 nichts zu tun haben:

Wenn ich die Zahlen aus dem Artikel grob überschlage, komme ich zu dem äußerst ungenauen Ergebnis von etwa 0,06 % mit Narkolepsie bei Kindern, ist das jetzt akzeptabel im Falle der Schweinegrippe? An Schweinegrippe sind in Schweden zwischen April 2009 und Januar 2010 24 Menschen gestorben. Rechtfertigt das die 475 Patienten, die eine Entschädigung beantragt haben?“

Glücklicherweise gibt es im Tangobereich noch einen weiteren Mediziner, der einem derzeit auf fast allen einschlägigen Foren begegnet. Dieser verbellt gnadenlos jeden, den er einer zu laxen Haltung gegenüber Corona verdächtigt. Bei einer Kommentatorin drängt es ihn zu einer öffentlichen Anamnese: 

„Bist Du gegen Masern geimpft, (…)? Gegen Windpocken? Gegen Röteln? Gegen Tetanus? Gegen Polio? Gegen Tuberkulose?“

Nebenbei, Herr Doktor: Eine Tb-Impfung wird von der Ständigen Impfkommission seit 1998 nicht mehr empfohlen, gell?

https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Impfen/Tuberkulose/FAQ-Liste_Tuberkulose_Impfen.html 

Letztlich ergeht es dieser Debatte um eine wirklich interessante Frage wie so vielen Bereichen – nicht nur im Tango. In den sozialen Medien sammelt sich eine personell ziemlich konstante Gruppe männlicher Stammtisch-Schwätzer, die das Thema in Grund und Boden labern:  

„Abba ährlich, mit Jürgen von Manger sein Uränkel Diego Mar-Adonis am Tanzen - Aagentienisch bei VHS Schnippenkötter.“

Und wem das Niveau noch zu hoch ist:

„Wahrscheinlich müssen kurze Röcke/Kleider dann ja wohl auch bald beim Tango verboten werden ... String drunter bei Mann und Frau nicht mehr erlaubt ...“

„Ich dachte, die Fäkalien werden in die Kanalisation gespült. Lt. Dr Chen landen selbst bei geschlossenem Klodeckel 20% der Fäkalien beim Spülvorgang in der Luft.“ 

Wen es interessiert: Der Schulmediziner hatte einen Artikel verlinkt, in dem es um die angebliche Corona-Ansteckungsgefahr durch… vornehm gesagt: Flatulenzen und Fäkalien geht.

https://www.ruhr24.de/service/coronavirus-pupsen-ansteckend-ansteckungsgefahr-infektion-covid-19-test-verlauf-symptome-90104400.html

Merke: Das sind die Leute, welche uns über korrektes Verhalten auf Milongas belehren…

Äh, worum ging es gleich noch? Richtig: Wird es Tangoveranstaltungen geben, auf denen man den Impfschein vorzeigen muss? Ein Kommentator meint:

„Also ich bin mir sicher, dass es Tangoveranstaltungen mit Abfrage des Impfstatus geben wird. Hey, speziell bei Encuentros wird auch mal abgefragt, welches die Lieblingsmilonga ist ... in Buenos Aires. Oder mit wem man gerne tanzt.“

Ich fürchte, da hat der Schreiber recht: Gerade bei Encuentros kennt man schon bisher die verrücktesten Zugangsbeschränkungen – da wird es auch in Zukunft alles geben, was denkbar ist. Sicherlich auch Festivals, wo als Marsmenschen verkleidete Mediziner vor der Tür elegant gekleidetem Tangovolk Stäbchen in den Hals stecken und Schnelltests abnehmen. Goldene Zeiten für die Satire!

Was mich betrifft:

Gestern gelang es mir endlich, bei meinem Hausarzt eine Grippe-Schutzimpfung zu erhalten – offenbar ist der Run auf die Influenza-Vakzine heuer gigantisch. Das war bisher nicht so:        

„Die WHO und der Europäische Rat hatten gefordert, dass bis 2015 drei Viertel aller Senioren geimpft sein sollten. Auf diese Risikogruppe entfallen 90 % aller Todesfälle, und obwohl die Schutzwirkung der Grippeimpfung im Alter infolge der Immunseneszenz (Anm.: Wirksamkeit sinkt mit dem Alter) nachlässt, könnten vermutlich viele dieser Todesfälle verhindert werden.

Doch das Ziel wurde von fast allen Ländern verfehlt. Nur in Schottland wurden am Ende mehr als 75 % der Senioren geimpft. Die übrigen Länder des Vereinigten Königreichs und Weißrussland blieben knapp unter der Quote. In allen anderen Ländern lassen sich weniger als 75 % der Senioren impfen (in Deutschland waren es zuletzt nur 37 %).“

https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/89103/Influenza-Nachlassende-Impfquote-in-Europa 

Im Klartext: In früheren Jahren trabten die älteren Herrschaften munter auf die Milongas, obwohl sie mehrheitlich nicht gegen eine solche Erkrankung geimpft waren, bei der man – wie bei Covid-19 – bereits vor Symptombeginn andere anstecken kann. Und bei der es hierzulande auch schon mal 20000 Todesopfer pro Saison gab.

Sicherlich werde ich mich auch gegen Corona impfen lassen, wenn es die Möglichkeit gibt. Und sollte man auf einer Milonga meinen Impfschein sehen wollen: Ich habe nichts zu verbergen. Nur rate ich dringend, sich nicht in falscher Sicherheit zu wiegen: Wie hoch der Impfschutz bei älteren Personen ist, weiß man noch nicht genau. Vermutlich so wie bei anderen Impfungen deutlich unter 100 Prozent. Und man kann – wenn man unbedingt auf eine Milonga will – auch den Impfpass der Oma vorzeigen. Ist ja kein Bild drin – oder muss man dann noch den Personalausweis zücken? Oder ein ärztliches Attest, das einen von Impfungen befreit? Wird es bei entsprechender Nachfrage sicherlich geben!

Auch in der obigen Diskussion klingt natürlich die Befürchtung an, ein im „Schnellverfahren“ produzierter Impfstoff könne nicht sicher genug sein. Ich kann dazu nur sagen: Die Menschheit hat ein riesiges Glück gehabt, dass die neuartigen Coronaviren vergleichsweise wenig mutieren. Das ist die Basis dafür, dass Impfstoffe überhaupt funktionieren. Bei einem HIV-artigen Erreger hätten wir kaum eine Chance gehabt. 

Noch nie zuvor in der Geschichte haben zehntausende Forscher so intensiv bei der Bekämpfung einer Pandemie zusammengearbeitet. Auch deshalb geht es so schnell. Und natürlich sehen die einander auf die Finger. Daher bin ich sehr zuversichtlich: Es wird Impfstoffe geben, sie werden wirken und wenig Schaden anrichten. Freilich: Eine absolute Sicherheit gibt es – wie im restlichen Leben – nicht. Wenn wir durch Corona wenigstens das gelernt hätten, wäre die Seuche nicht vergeblich gewesen. 

Angesichts des ungeduldigen Hufgetrappels in den Tangoforen bin ich mir sicher: Es wird einen riesigen Run auf die Impfung geben – und sollten die Impfzentren 24 Stunden geöffnet sein, werden sich im Schutz der Dunkelheit auch Heilpraktiker anstellen…

Allerdings rate ich der Tangoszene große Zurückhaltung: Unser Spaßvergnügen ist nicht systemrelevant. Zuerst werden mit vollem Recht die drankommen, welche sich seit vielen Monaten daran abarbeiten, dass unser Gemeinwesen weiterhin halbwegs funktioniert: die Ärzte und Pflegekräfte, die Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungssanitäter – und natürlich die schwer Erkrankten, Pflegebedürftigen und Heimbewohner. Nicht diejenigen, deren Beitrag zur Bewältigung der Krise nur im gescheiten Daherreden bestand. 

Und selber? Ich bin optimistisch, dass wir dann mit ein paar Leuten wieder in unserem Wohnzimmer tanzen können. Impfpässe würde ich von denen keine verlangen. Weil ich weiß, dass es sich um vernünftige und umsichtige Menschen handelt. Große Events waren noch nie mein Ding – falls es sie je wieder geben wird, werde ich sie weiterhin meiden.

Ich finde es jedenfalls lustig, dass der Begriff „Wohnzimmer-Milonga“ – jahrelang meist nur spöttisch kommentiert – nun immer öfter in seriösem Kontext auftaucht. Ich hätte mir das Label vor Jahren schützen lassen sollen, dann könnte ich jetzt Lizenzgebühren verlangen…

Die sicherlich bevorstehenden Kriege um Impfscheine, Schnelltests und Immunitäts-Ausweise werde ich in einem Abstand beobachten, der zum Verfassen von Satiren geeignet ist. Immerhin geht es dann mal nicht um Ronda, Cabeceo und EdO – aber dennoch um den Schein, der beim Tango vieles heiligt!


Kommentare

  1. Hi Gerhard,

    ich bin mir auch noch nicht sicher, was ich von der propagierten Impfung halten soll (als Medizinlaie: wenn man den Körper dazu bringt, Antikörper gegen irgendwas zu produzieren, wie sind da die Langzeitwirkungen? Autoimmunreaktionen kommen mir da nicht gerade unwahrscheinlich vor), aber:

    "Zuerst werden mit vollem Recht die drankommen, welche sich seit vielen Monaten daran abarbeiten, dass unser Gemeinwesen weiterhin halbwegs funktioniert"

    Da wär ich dann schon wesentlich zuversichtlicher, wenn zuerst die Wichtigsten der Wichtigen mit dem gleichen Impfstoff, denn Sie der Bevölkerung empfehlen, geimpft werden, also die Politiker ;-)

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    1. Lieber Robert,

      da würde ich mir keine Gedanken machen - die Spitzenpolitiker sind sowas von "systemrelevant", dass sie ganz früh die Impfung kriegen werden.

      Ansonsten mag ich die Zahl der "Youtube-Impfstoff-Experten" nicht erhöhen. Ich verfüge lediglich über allgemeine Biologie-Kenntnisse. Danach sehe ich nicht, wie z.B. RNA-Impfstoffe in die menschliche Genetik eingreifen sollten. Ich hab das schon mal in einem Artikel zusammengefasst: https://gerhards-lehrer-retter.blogspot.com/2020/11/rna-impfstoffe.html

      Ansonsten kann man natürlich auch bei keinem Medikament Langzeitfolgen ganz ausschließen. Dann müsste man bei jedem neuen Wirkstoff mindestens 30 Jahre lang testen.

      Bei manchen Autoimmunkrankheiten kennt man bis heute den genauen Wirkmechanismus nicht und kann sie daher auch nicht spezifisch therapieren. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass da auch Impfungen irgendwas bewirken - aber eher unwahrscheinlich.

      Die Pockenschutzimpfung in der modernen Form gibt es seit 1796 - und Vorläufer seit etwa 3000 Jahren.Es ist bei vielen Impfungen schon ein ziemlicher Erfahrungshintergrund vorhanden.

      Danke und beste Grüße
      Gerhard

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